15 Denkt das Universum durch uns?

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Deepak Chopra

Eine der meistbewunderten Organisationen der Welt ist vermutlich »Ärzte ohne Grenzen«. Ihre mutigen Mitglieder reisen um die ganze Welt und behandeln Menschen. Es wäre sehr inspirierend, wenn die umstrittenen Grenzen der Welt allmählich verschwinden würden, doch die am heißesten umkämpften sind zweifelsohne die in unserem Geist. Sie müssen als erste fallen. Jeder Mensch, selbst der toleranteste, kennt sie.

Nehmen wir mal an, Sie sitzen, während Sie dieses Buch lesen, an einem sonnigen Tag unter einem schönen Baum, der sein Blätterdach über Ihnen ausbreitet. Sie lehnen sich an seine raue, kühle Rinde, um ein wenig nachzudenken. Damit Sie überhaupt denken können, müssen rote Blutkörperchen in Ihrem Blutkreislauf vorhanden sein. So bekommt das Gehirn die Energie, die es zum Denken braucht. Aber Sie brauchen auch die Sonne, ohne die es auf der Erde kein Leben gäbe. Sie brauchen den Baum, denn ohne Photosynthese gäbe es keine Tiere und Menschen, die Sauerstoff einatmen. Heißt das nicht, dass der Baum und die Sonne ebenso zu Ihnen gehören wie Ihr Blut? Die Grenzen, die wir zwischen Geist, Körper und der Welt errichtet haben, besitzen freilich praktischen Nutzen. Das Leben innerhalb dieser Grenzen ist uns zur zweiten Natur geworden. Wir alle definieren uns selbst als Mutter, Vater, Kinder, Ehegatten oder Single, sobald wir zu Hause sind. Doch der Kosmos hat irgendwie vergessen, sich zu spezialisieren, und so liefert er uns die Wirklichkeit im Ganzen, als einziges, chaotisches Paket.

Das ist ziemlich überwältigend (und viele Menschen ziehen sich angesichts dieser Erkenntnis erschreckt in ihre Kaninchenhöhle zurück). Denn dieses Faktum bedeutet, dass das Universum – und zwar das ganze, nicht nur unsere kuschelige Ecke – durch uns hindurch tätig wird. Damit Sie Ihren nächsten Atemzug tun können, musste das gesamte Universum aktiv werden. Sie sind der Spross des Universums, der neue Funke Leben, der von allem angetrieben wird, was existiert. So wie eine grüne Nadelspitze an einem Sequoia-Baum an der Pazifikküste vom ganzen Wald angetrieben wird, letztlich sogar von der ganzen Erde.

Nehmen Sie all Ihren Mut zusammen und versuchen Sie, sich so zu sehen. Lassen Sie alle Vorstellungen darüber beiseite, wer Sie sind, und lassen Sie sich einen Moment auf das Grenzenlose ein. Meiner Ansicht nach ist es nicht nur das materielle Universum, das durch uns handelt. Wenn Sie die Maske der Materie erst einmal durchdrungen haben, merken Sie, dass das Universum durch Sie liebt, sich entwickelt und schöpferisch tätig wird. Dies ist eine sehr persönliche Erkenntnis. Wenn Sie ein spirituelles Leben führen wollen, müssen Sie diese Wahrheit erfahren haben, da sie das Tor zu einer höheren Wirklichkeit darstellt. Die Wissenschaft sieht den Menschen als isolierten Fleck im Kosmos, als zufällige Wucherung von Geist in einer ansonsten geistfreien Schöpfung. Und doch ist der Geist das Band, das Spiritualität zur Wirklichkeit werden lässt. Wenn das Universum durch Sie tätig wird, hüllt es Sie ein in den kosmischen Geist.

Woher aber wissen Sie, dass Sie einen Geist besitzen? Die meisten Menschen können sich mit Descartes Maxime identifizieren, auch wenn sie keinen Philosophiekurs besucht haben: »Ich denke, also bin ich.« Allerdings würden sie diesen Gedankengang kaum auf einen Baum, eine Wolke, ein Neutron oder eine Galaxie anwenden. Grenzen sind hartnäckig, Mauern dick. Was wir brauchen, ist eine weniger enge Definition des Geistes, die auch für andere Elemente offen ist.

In seinem faszinierenden Buch Mindsight ( Die Alchemie der Gefühle ) präsentiert Daniel J. Siegel, Professor für Psychologie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, eine solche Definition. Und er hat sich auch noch die Mühe gemacht, sie zu testen. Anfangs versuchte er, eine Definition des Geistes zu finden, indem er verschiedene Kollegen befragte (die vermutlich alle Geist besaßen), doch keiner konnte ihm eine befriedigende Antwort geben. Vor allem interessierte sich Siegel für jene Fähigkeiten des Geistes, die nicht dem Gehirn zugeschrieben werden konnten. Und er fand tatsächlich eine, auf die dieses Kriterium zutrifft: die Fähigkeit zur Beobachtung. Warum wir in der Lage sind, die Welt zu beobachten, ist eines der größten Geheimnisse des Universums. Wer immer behauptet, das Gehirn sei mit dem Geist gleichzusetzen, der muss eine einfache Frage beantworten können: Keiner der Bestandteile einer Gehirnzelle – Proteine, Kalium, Natrium, Wasser – kann beobachten, Sie aber können es. Wie also konnten diese Elemente die entsprechende Fähigkeit herausbilden?

Doch lassen wir dazu doch die versierte Stimme eines Erzählers erklingen: »Ich bin eine Kamera.« Der namenlose Erzähler lebt im Berlin der Nazizeit. Es handelt sich um Christopher Isherwoods Roman Leb wohl, Berlin , aus dem später das berühmte Musical Cabaret hervorging. Der Erzähler steht für Isherwood selbst, der die Wahrheit zu bewahren suchte, indem er als objektiver Beobachter bezeugt, wie Hitler Europa in die Schrecken des Zweiten Weltkriegs trieb. Doch bestimmte Dinge stimmen nicht so recht: Das Auge ist nun einmal keine Kamera. Das Gehirn speichert keine fotografischen Bilder. Die Wahrnehmung ist eine Funktion des Bewusstseins, also ist ihre erste Instanz der Geist, vor jeglichem physischen Apparat: Augen, Ohren oder Gehirn. Deshalb sagt Isherwoods Protagonist ja: »Ich bin eine Kamera.«

Leonard hat eine grundlegende Schwäche für feste Mechanismen. Er zieht optische Illusionen heran, um zu belegen, dass manche Dinge automatisch wahrgenommen werden, ganz egal, wie sehr Sie sich bemühen, sie anders zu sehen. Meiner Ansicht nach aber beweisen optische Illusionen genau das Gegenteil. Ich möchte Ihnen ein klassisches Beispiel geben. Was sehen Sie hier?

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Eine weiße Vase in der Bildmitte oder zwei Gesichter, die sich als schwarze Silhouette von den Rändern hereinwölben und einander ansehen? Beides ist möglich. Der springende Punkt ist doch, dass Sie entscheiden können, was Sie sehen wollen. Sie können willentlich von einer Sicht zur anderen umschalten. Wie alles, was mit dem Beobachter und dem Vorgang des Beobachtens zusammenhängt, ist der Prozess ein geistiger.

Wenn sich Wahrnehmung auf einen physischen Mechanismus reduzieren ließe, eine Kamera, die Bilder aufnimmt, gäbe es keine Wahl. Das Gehirn würde einen Schnappschuss machen, das Bild entwickeln und ausdrucken. Doch das tut das Gehirn eben nicht. Es repräsentiert den Geist nur, der sieht, interpretiert, sich Einzelheiten herauspickt, den Blickwinkel wechselt und so weiter. Wenn man Ihnen eine optische Illusion präsentiert, können Sie sich entscheiden, aus welcher Perspektive Sie sie sehen wollen. Daher ein zweites Beispiel. Fixieren Sie mit Ihrem Blick einige Sekunden lang das X in der Grafik:

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Wenn Sie das X im Vordergrund sehen, befindet es sich auf der vorderen Außenseite des Würfels. Sehen Sie es hingegen im Hintergrund, ist es auf der hinteren Innenseite. Was Sie sehen, entscheiden Sie, nicht Ihr Gehirn. Leonards optische Täuschungen wurden vorsätzlich so ausgewählt, dass Sie auf eine bestimmte, vorherbestimmte Weise sehen sollten. Das aber liegt einfach daran, dass das Gehirn als Organ fehlbar ist. So gibt es im visuellen Kortex eine bestimmte Region, die mit dem Erkennen von Gesichtern befasst ist. Und doch erkennt es keine Gesichter, die auf dem Kopf stehen. Versuchen Sie’s mal. Nehmen Sie das Foto eines bekannten Filmstars, drehen Sie es um und fragen Sie einen Freund, wer das ist. Ihr Freund wird Elizabeth Taylor oder Robert Redford nicht erkennen. Doch der Geist kennt einen Trick, wie er diese Fehlleistung ausgleichen kann. Er kann – auch in einem auf dem Kopf stehenden Bild – nach Hinweisen suchen, nach Bob Dylans charakteristischem Haarschopf beispielsweise oder nach Captain Hooks Augenklappe. Die Begrenzungen eines physischen Organs lassen sich also überwinden, zumindest teilweise.

Natürlich kann das Gehirn den Geist behindern. Wenn Sie einen Migräneanfall haben oder unter einem Gehirntumor leiden, sehen Sie vielleicht gar nichts. Unser visueller Kortex ist nicht in der Lage, im ultravioletten oder infraroten Bereich zu sehen, wie Bienen und Schlangen das können. Also sind physische Begrenzungen durchaus von Bedeutung. Doch sie sind kein Beleg dafür, was der Geist tun oder nicht tun kann.

Aber kehren wir zu Daniel J. Siegel und seiner Suche nach einer Definition für den Geist zurück. Er traf eine gute Wahl, als er unsere Fähigkeit zur Beobachtung, insbesondere die Fähigkeit des Geistes zur Selbstbeobachtung, dazu heranzog. Kein Computer kann meditieren und nur mithilfe dieses Hilfsmittels zu selbstständigen Einsichten und Erkenntnissen gelangen. Noch weniger kann er seine Programmierung auf diese Weise verändern. Wir Menschen können beides. Schließlich fand Siegel seine eigene Definition des Geistes und stellt sie seit 1993 dem wissenschaftlichen Publikum vor, ohne auf Widerspruch zu stoßen. Der Geist, meint er, sei »ein an Beziehungen und Verkörperung gebundener Prozess zur Steuerung des Energie- und Informationsflusses«. Das hört sich kompliziert an, aber was Siegels Definition hieb- und stichfest macht, ist die Tatsache, dass man tatsächlich keinen Begriff weglassen kann. Sehen wir uns die einzelnen Elemente dieser Definition einmal Schritt um Schritt an.

Verkörperung: Der Geist drückt sich durch ein Organ des Körpers aus, das Gehirn.

Beziehungen: Unser Geist reflektiert unsere Umwelt. Wir werden von den Menschen um uns geprägt, reagieren auf ihre Gewohnheiten, ihre Mimik, Gesten, Worte.

Prozess: Der Geist ist eine Aktivität. Er ist nicht statisch, sondern dynamisch.

Steuerung: Die Datenmenge, die das Universum hervorbringt, wäre chaotisch, wenn nicht irgendetwas sie zu einer kohärenten Wirklichkeit ordnen würde. Um die Wirklichkeit intakt zu halten, muss jeder Teil mit allen anderen Teilen abgestimmt werden.

Fluss: Dem ununterbrochenen Bewusstseinsstrom entspricht der ununterbrochene Fluss äußerer Ereignisse.

Energie: Den Fluss aufrechtzuerhalten kostet Energie, und zwar auf allen Ebenen, sei es nun die gewaltige Wirkung des Big Bang oder die Mikroebene der Ionen, die durch die Zellmembran eines Neurons wandern.

Information: Jede Dateneinheit ist Information und trägt Bedeutung.

An der Begrifflichkeit, mit der Siegel seine Definition herausarbeitet, ist eines besonders spannend: Sie lässt sich auf jeden Aspekt der Natur anwenden. So stolz wir auf unser menschliches Naturell sind, so ist der Geist doch gleichermaßen in einer Amöbe, einer Maus, einem Neuron und einer Galaxie präsent. Information und Energie fließen überall. Sie müssen verarbeitet und verteilt werden. Ihre Aktivität bildet ein engmaschiges Netz, welches alles Existierende einhüllt. Wenn man nach einer universellen Definition sucht, dann ist diese kaum zu überbieten.

Dies also ist unser Fundament, auf dem wir uns erneut die Frage stellen, ob das Universum durch uns oder, persönlicher formuliert, durch Sie denkt. Die Antwort ist Ja. Und sie ist vergleichsweise simpel. Meiner Erfahrung nach wird sie von den meisten akzeptiert. Wenn ich einen Vortrag halte, beginne ich normalerweise mit dem Hinweis, dass uns äußere Objekte täuschen können. Denn in Wirklichkeit ist alles im Universum ein Prozess mit einem Anfang, einer Mitte, einem Ende. »Photon« und »Elektron« sind, was die Natur angeht, keine Hauptwörter oder Substantive, sondern Verben. Dann bitte ich die Zuhörer meist, den Blick auf sich selbst zu richten.

»Sind Sie vielleicht ebenfalls ein Prozess im Universum mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende?« Die Zuhörer nicken.

»Ist Ihr Gehirn Teil dieses Prozesses?« Wieder nicken sie.

»Bringt das elektromagnetische Gewitter in Ihrem Gehirn Gedanken hervor?« Ja.

»Denkt das Universum also durch Sie?« Die meisten Menschen haben kein Problem damit, an dieser Stelle mit Ja zu antworten. Wenn das Universum in einer dunklen Sommernacht einen gezackten Lichtblitz hervorbringen kann, kann es auch das Elektronengewitter verursachen, das auf Bildern vom Gehirn zu sehen ist. In diesem Kapitel habe ich nur versucht, das Denken als Prozess des Geistes zu definieren statt als bloße Gehirnaktivität. Und die meisten Menschen haben auch damit kein Problem.

Denkt das Universum durch uns?

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Leonard Mlodinow

Ich wuchs in einer gläubigen jüdischen Familie auf, daher war ich ziemlich überrascht, als meine Mutter mir eines Tages eröffnete, sie glaube nicht an Gott. Ich bat sie um eine Erklärung, und sie meinte, sie habe früher geglaubt, aber sie könne sich nicht vorstellen, dass es einen Gott gebe, wenn sie doch ihre Familie im Holocaust verloren habe. An meinen schlechten Tagen weiß ich genau, was sie meint.

Es war vor einigen Jahren. Ich hatte gerade meinen Sohn Nicolai in den Kindergarten gebracht. Es war sein vierter Tag dort. Ich blieb auf dem Weg zur U-Bahn stehen und unterhielt mich mit jemandem, der auch gerade sein Kind abgeliefert hatte. Da vernahm ich ein merkwürdiges Geräusch und sah zum Himmel hinauf. Ich sah eine Boeing über uns fliegen, allerdings so tief, dass mir unheimlich wurde. Ein oder zwei Sekunden später war sie über uns hinweg, neigte sich ein wenig und bohrte sich wie selbstverständlich in den 95. Stock des nördlichen Turms des World Trade Centers. Aus den oberen Stockwerken begannen fast im selben Moment die Flammen zu lodern. Das donnernde Geräusch erreichte uns erst eine halbe Sekunde später, wie beim Einschlag eines Blitzes. Sofort brach auf der Straße Chaos aus. Die Luft füllte sich mit Schreien, brennender Schutt regnete auf uns herab. Was mich am meisten beschäftigte, war der Gedanke an die 92 Menschen, die in dieser Sekunde den Tod fanden. Fast gegen meinen Willen fühlte ich mich mit diesen Menschen verbunden, obwohl ich sie gar nicht kannte. Doch ich kann einfach nicht aufhören, mir die letzten Augenblicke in ihrem Leben vorzustellen, während derer sie wohl schreckerfüllt aus dem Fenster starrten. Nicolai, der damals fünf Jahre alt war, presste das Gesicht ans Fenster seines Kindergartenraumes. Er sah alles. Auch die Menschen, die vom Dach sprangen, weil sie nicht verbrennen wollten.

Deepak schreibt, wir Menschen seien »der Spross des Universums, der neue Funke Leben, der von allem angetrieben wird, was existiert«. Und dass das Universum durch uns liebt und schöpferisch tätig ist. Er sagt, dass wir, wenn wir ein spirituelles Leben führen wollten, diese Wahrheit erfahren müssten. Wenn ich Deepak hier die Sicht der Wissenschaft entgegenhalte, fühle ich mich manchmal wie der unrasierte Humphrey Bogart, der am Ende von Casablanca die schöne Ingrid Bergman wegschickt. Ich habe nur meine kalte, kalkulierte Einschätzung anzubieten, dass unsere Probleme als Menschen – und unsere Gefühle – in diesem verrückten Universum keinen Pfifferling wert sind. Doch wenn Deepak recht haben sollte mit seinem universellen Bewusstsein und wenn das Universum durch uns liebt, dann muss es auch durch uns hassen, morden und zerstören. Dann muss es auch all das tun, was Menschen neben der Liebe noch so anstellen, unter anderem all das, was den Glauben meiner Mutter an Gott zerstörte. Deepak geht dieser dunklen Seite aus dem Weg, doch wenn das Universum durch jeden von uns wirkt, dann ist dieses Band ein zweischneidiges Schwert.

Obwohl ich nicht an den Gott der Bibel glaube oder an das Reich des Immateriellen, das Deepak hier vertritt, würde ich doch nicht sagen, dass eine wissenschaftliche Sicht Spiritualität ausschließt. Der große Physiker Richard Feynman verlor Arline, die große Liebe seines Lebens, die er von Kindesbeinen an kannte, an die Tuberkulose, als beide Mitte 20 waren, nur wenige Jahre nach ihrer Heirat. Er sagte mir einmal, er sei deswegen nicht verbittert, denn »man kann doch auf ein Bakterium keinen Zorn empfinden«. »Wie außerordentlich rational und wissenschaftlich«, dachte ich damals. Später aber erfuhr ich, dass er ihr – ein Jahr nach ihrem Tod – einen Brief geschrieben hatte.

D’Arline,

ich verehre dich, Liebstes … Es ist so lange her, dass ich dir zuletzt geschrieben habe – fast zwei Jahre, aber ich weiß, du wirst mir verzeihen, weil du weißt, wie ich bin, so dickköpfig realistisch. Ich dachte, es habe keinen Sinn, dir zu schreiben. Jetzt aber weiß ich, meine geliebte Frau, dass es richtig ist zu tun, was ich bisher aufgeschoben habe und was ich in der Vergangenheit so oft getan habe. Ich will dir sagen, dass ich dich liebe.

Ich begreife nicht ganz, was es bedeutet, dich jetzt zu lieben, nachdem du gestorben bist, aber ich will mich immer noch um dich kümmern, will dich trösten und für dich sorgen … Und ich möchte, dass du mich liebst und für mich sorgst …

Richard Feynman war nicht nur einer der größten Physiker der Geschichte, er bestand auch stets darauf, dass alle Theorien experimentell überprüft werden müssten. Dafür war er unter seinen Kollegen geradezu verschrien. Feynman war glücklich, seine Seelengefährtin kennengelernt zu haben, obwohl er wusste, dass das, was sie beide füreinander empfanden, auf physikalische Prozesse zurückgeführt werden konnte, so wie Arlines Tod auf ein schlichtes Bakterium zurückging. Und obwohl er wusste, dass sie nicht mehr bei ihm war, fühlte er den Geist Arlines mit sich bis zu dem Tag, als er starb. Dass Liebe ein geistiges Phänomen ist, das den Naturgesetzen unterworfen ist, verringerte keineswegs die Intensität von Feynmans Gefühlen oder machte ihn zu einem unspirituellen Menschen. Und dass er nicht wusste, was es bedeutete, Arline nach ihrem Tod zu lieben oder sich zu wünschen, dass sie ihn liebte, veranlasste ihn doch keineswegs, diese Liebe zu verleugnen. Er wusste, sein Bemühen, die Geheimnisse der Natur zu verstehen, die unseres Geistes und unserer Existenz, konnte ihn nicht mit den Regungen seines Herzens entzweien. Und doch ist es eben ein großer Triumph dessen, was uns zu Menschen macht, dass wir diese Geheimnisse zu entschlüsseln vermögen.

Wie Deepak ganz richtig sagt, zieht die Wissenschaft Grenzen. Die Wissenschaftler glauben, dafür einen guten Grund zu haben. Sie wollen aus unserer Weltsicht alles ausklammern, dessen Wahrheit nicht gesichert ist. Trotzdem aber ist innerhalb dieser Grenzen genug Raum für Gefühle, Bedeutung und auch Spiritualität. Ein wissenschaftliches und spirituelles Leben können so einfach nebeneinander geführt werden.

Denkt das Universum also durch uns? Wir Wissenschaftler sind sogar in unseren Spekulationen sehr vorsichtig. Wir wollen unsere Ideen in Zeitschriften wie Physical Review oder Nature veröffentlicht sehen, nicht in der Enzyklopädie der Fehlleistungen. Wie so oft, wenn eine Frage in Worten und nicht in klaren mathematischen Ausdrücken gestellt wird, hängt die Antwort der Wissenschaft von der Definition der Begriffe ab. In Kapitel 14 habe ich die Computertheorie des Geistes beschrieben. Wenn man mit Denken Informationsverarbeitung meint, wie manche dies tun, dann lautet die Antwort: Ja, das Universum denkt. Denn alle Objekte darin folgen mathematischen Gesetzen. Ihr Verhalten ist Ausdruck der Resultate dieser Informationsverarbeitung, welche zwangsläufig aus diesen Gesetzen resultieren. Der Physiker Seth Lloyd schrieb einmal: »Das Universum ist ein Quantencomputer.« Wir alle sind Teil davon. In diesem Sinne würde ich Deepak zustimmen, wenn er sagt, dass wir alle Teil eines universellen Geistes sind und das Universum durch uns denkt.

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Aber wenn Deepak schreibt, das Universum denke durch uns, dann meint er damit etwas anderes. Er sieht uns alle durch ein universelles Bewusstsein verbunden, das von so wunderbaren Qualitäten wie Liebe durchdrungen ist. Doch vermutlich gilt dies auch für das Gegenteil der Liebe, den Hass. Irgendwo in dieses Bewusstsein eingebettet ist unser immaterieller Geist, der sich durch unser Gehirn ausdrückt und dieses kontrolliert. Als Beleg für diese Meinung bietet er uns das vorige Bild.

Er meint, Ihre Fähigkeit zwischen den beiden Ansichten – Gesichter oder Vase – zu wählen, beweise, dass der Geist kein physikalischer Mechanismus ist, denn ein solcher könne nur »einen Schnappschuss machen, das Bild entwickeln und ausdrucken«. Der nicht physikalisch determinierte Geist hingegen »interpretiert, pickt sich Einzelheiten heraus, wechselt den Blickwinkel und so weiter«. Doch was Deepak über die Kontrolle sagt, die wir in Bezug auf dieses Bild haben, ist falsch. Sie können nicht wählen, ob Sie die Vase sehen oder die Gesichter. Es gibt keinen nicht materiellen Geist, der die Struktur des physischen Gehirns beherrscht.

Versuchen Sie es nur. Wenn Sie lange genug auf das Bild schauen, werden Sie herausfinden, dass – auf welche der beiden Ansichten Sie sich auch konzentrieren – Ihr Gehirn irgendwann wieder umschaltet, sodass Sie das andere Objekt sehen. Wenn Sie sich auf die Vase konzentrieren, können Sie Ihren Geist nicht dauerhaft davon überzeugen, dass rundherum nur leerer Raum ist und keine zwei Gesichter. Manche Menschen mit seelischen Problemen brauchen sehr lange zum Umschalten, eher Minuten als Sekunden, aber jeder legt früher oder später den Schalter um. (Natürlich verlässt sich die Forschung hier nicht auf die Selbstaussagen der Betroffenen. Es gibt Mittel und Wege, das Umschalten mit externen Instrumenten zu messen.)

Ihre visuelle Erfahrung mit solchen »bistabilen« Systemen hängt von vielen Faktoren ab – bewusste Anstrengungen, Kenntnis des Bildes und seiner Einzelheiten wie zum Beispiel Grauwert, aber auch von den Begrenzungen unseres Gehirns. Wissenschaftler, die die Reaktion von Menschen auf dieses Bild untersucht haben, stellten fest, dass bei Menschen, die sich auf die Gesichter, nicht die Vase, konzentrierten, ein Teil des Temporallappens aktiv ist, der auf Gesichtserkennung spezialisiert ist. (Eben das Gehirnareal, das Deepak schon einmal angesprochen hat.) Das sogenannte fusiforme Gesichtsareal erkennt Gesichter nur dann, wenn sie »richtig« liegen. Wie Deepak schon erwähnte, funktioniert es nur äußerst mäßig, wenn Sie ein Gesicht sehen, das auf dem Kopf steht. Ein immaterieller Geist allerdings dürfte sich von dem Auf-dem-Kopf-Stehen nicht beeindrucken lassen. Das physische Gehirn allerdings wird sich anders verhalten. Hier also ein Test: Sehen Sie sich das Bild unten an. Da Ihr Gehirn die Wahrnehmung steuert, werden Sie die Gesichter weniger deutlich wahrnehmen als vorher, aber Sie werden immer noch zwischen beiden Sichtweisen umschalten.

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In Deepaks zweitem Beispiel meint er, wenn Sie Ihren Blick auf das X richten, träfen Sie eine Wahl, ob Sie es an der Vorder- oder an der Rückseite des Würfels wahrnehmen. Damit bin ich nicht einverstanden. Machen wir das Ganze also etwas einfacher. Sie wissen, dass die Abbildung unten nicht wirklich ein Würfel ist – vielmehr sind es nur einige Linien auf einem flachen Blatt Papier. Befehlen Sie jetzt bitte Ihrem immateriellen Geist, dies wahrzunehmen. Versuchen Sie, das Bild als bedeutungslose Linien auf einem Blatt Papier zu sehen. Können Sie die Grafik betrachten und keinen Würfel sehen? Wenn Ihr Gehirn, wie Deepak sagt, nur der Diener Ihres Geistes ist, eine Kamera, ein Instrument, das dieser benutzt, während Sie – Ihr Geist – die eigentliche Entscheidung treffen, sollten Sie die Grafik ansehen können, ohne einen Würfel zu sehen. Aber das können Sie nicht!

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Deepak nutzt diese Art von Argumenten, wenn sie seine Ansichten stützen. Tun sie es nicht, werden sie schnell ausgemustert. Dann heißt es mit einem Mal, sie belegten nur, dass das Gehirn »ein fehlbares Organ« sei. Aber genau darum geht es hier: Wissenschaftler haben gezeigt, dass jeder Aspekt menschlichen Denkens oder Verhaltens, der je untersucht wurde, Ausdruck dieses fehlbaren Organs ist.

Wo wir auch hinsehen, wir sehen, dass der Geist eine Funktion des Gehirns ist. Daniel J. Siegel, Professor für Psychologie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, dessen Buch Mindsight ( Die Alchemie der Gefühle ) Deepak als Beleg heranzieht, lässt dieses Buch mit einer Geschichte beginnen, die die physische Basis von dem, was wir »Geist« nennen, deutlich zeigt. Es geht dabei um eine Mutter, die – einst ein Mensch voller Liebe und Wärme – bei einem Autounfall einen Hirnschaden erleidet. Ein Teil des präfrontalen Kortex, der für Einfühlungsvermögen, Verständnis, moralisches Empfinden und Intuition verantwortlich ist, wird zerstört. Ergebnis: Die Frau, die mittlerweile wieder gesund ist und auf rationaler Ebene keine Einschränkungen hat, verspürt keinerlei emotionale Bindung an ihre Familie. Barbara selbst beschreibt ihren neuen Zustand so: »Nun, ich nehme an, wenn ich es in Worte fassen müsste, so würde ich sagen, ich habe meine Seele verloren.«

Siegel begann, mit der Familie zu arbeiten, weil die Kinder unter dem veränderten Verhalten ihrer Mutter stark litten. Er zeigte der Familie ein Bild von Barbaras geschädigtem Gehirn. »Ihr Gehirn ist kaputt«, meinte eines der Kinder danach. Das andere Kind aber gab sich mit der Erklärung nicht zufrieden: »Ich dachte immer, Liebe kommt aus dem Herzen.« Siegel antwortete ihm, es habe ja recht, doch die Zellen um das Herz und im ganzen Körper seien direkt mit dem Gehirn verbunden. Und sie sendeten das Gefühl in den sozialen Teil unseres Gehirns. Doch da dieser Teil von Barbaras Gehirn zerstört sei, könne es die Signale nicht mehr länger empfangen. Die Familie wuchs mit der Zeit wieder zusammen und wurde heil. Für Barbaras Gehirn galt dies nicht. »Der Schaden im Präfrontalkortex war zu groß, und es waren keine Anzeichen zu erkennen, dass sie ihre Kontaktfreude wiedererlangen würde.« Ihr Gehirn war kaputt, und damit auch ihr Geist.

Der berühmte Philosoph Bertrand Russell wurde einmal gefragt, was er denn sagen würde, wenn er stürbe und er vor Gott begründen müsste, wieso er Atheist gewesen sei. Die Antwort ist berühmt geworden. Russell meinte, er würde Gott die Schuld dafür geben. »Nicht genug Beweismaterial, lieber Gott! Nicht genug Beweismaterial!«, würde er zu ihm sagen.

Deepak betrachtet das wissenschaftliche Beharren auf Datenmaterial als kalt und unpersönlich. Es wäre unehrlich von mir, wenn ich ihm auf seinen Vorwurf, die Wissenschaft sehe den Menschen als »isolierten Fleck im Kosmos, als zufällige Wucherung von Geist in einer ansonsten geistfreien Schöpfung«, antworten würde, dies sei nicht wahr. Die Menschheit hat viel, wofür sie dankbar sein kann, aber wenn wir bestreiten, isolierte Flecken im Kosmos zu sein, gehen wir nur den Tatsachen aus dem Weg. Deepak meint, es erfordere Mut, uns so zu sehen, wie wir es seiner Meinung nach sollten. Aber er malt uns ein recht rosiges Bild der Wirklichkeit, um es der oben skizzierten wissenschaftlichen Sicht gegenüberzustellen. Wahren Mut aber braucht es, wenn man sich auf das Bild einlässt, das wir tatsächlich aus unseren Beobachtungen ableiten können, sei es nun düster oder rosig. Alt zu werden, Freunde sterben und Flugzeuge abstürzen zu sehen, Liebe und Verlust zu ertragen, ohne die tröstende Illusion eines lebenden, denkenden Universums – dazu braucht es Mut.

Und doch entscheide ich persönlich mich für einen weniger düsteren Ausblick. Obwohl auch ich glaube, dass der Mensch ein isolierter Fleck im Kosmos ist mit zufälligen Wucherungen von Geist, zählt für mich doch nur, dass wir einen Geist haben, dass wir Gefühle haben, dass wir Kunst und Schönheit und Freude empfinden können. Unser Dasein mag den Gesetzen der Physik und Chemie unterworfen sein, aber wir bestehen eben nicht »nur« aus Physik und Chemie. Wir sind mehr als die Summe unserer Teile. Unser Dasein ist mehr als schieres Vegetieren. Wir bestehen aus gefühllosen Atomen und Molekülen, die sich zusammengetan haben, um sich umeinander zu kümmern, um zu lieben – und unglücklicherweise auch zu hassen –, um die ganze Vielfalt der Emotionen zu empfinden, seien sie nun erhaben oder nicht. Ich empfinde ein Gefühl der Verbundenheit. Ich mag nur ein kleiner Fleck im Kosmos sein, aber ich fühle mich mit all den anderen kleinen Flecken verbunden. Ich bin dankbar für meine kurze und zufällige Existenz als physikalisches Phänomen inmitten anderer physikalischer Phänomene. Ich bin glücklich, ein winziger Teil des nicht denkenden, aber trotzdem wunderbaren und sich stets wandelnden Universums zu sein.