EINLEITUNG: KRANKHEITSERREGER ALS BLINDE PASSAGIERE

Krankheitserreger, die weltweite Epidemien auslösen, sind blinde Passagiere. Ihre Reservoire haben sie häufig in der Tierwelt. Die Flöhe beherbergen die Pestbakterien und die Erreger des Fleckfiebers. Die Influenzaviren sind bei den Wildvögeln heimisch, und die Coronaviren nisten in den Fledermäusen. Von dort breiten sie sich seit Jahrtausenden auf weitere Zwischenwirte aus. Die Pesterreger besiedeln die Populationen der wilden Nager und Hausratten, die Grippeviren die Geflügel- und Schweinezuchten, und die Coronaviren exotische Wildtiere.

Wenn die Erreger die Populationen ihrer Zwischenwirte verlassen, wird es für den Menschen gefährlich. Die Flöhe der Hausratten springen auf sie über und infizieren ihre eigenen Flöhe, die Kleiderläuse. Auch von den Geflügel- und Schweinefarmen ist es nicht weit zum Menschen. Und viele exotische Wildtiere werden in Asien als gesundheitsfördernde Delikatessen gehandelt und verspeist.

Wenn die Krankheitserreger die Artenbarriere überspringen, ist es zu Anpassungsvorgängen gekommen, die auf kleineren oder größeren Veränderungen ihres Erbguts beruhen. Die dann in Gang kommende Ausweitung der tierischen Infektionskreisläufe auf die Lebenssphäre der Menschen ist nicht häufig. Oft ist sie harmlos, weil das menschliche Immunsystem sie in Schach hält. Aber manchmal versagt die Immunabwehr. Dies ist vor allem bei neu auftretenden Krankheitserregern häufig. In solchen Fällen bleibt ihre Weiterübertragung von Mensch zu Mensch nicht auf bestimmte Siedlungsgebiete beschränkt. Wenn diese Gebiete über Verbindungen zu ihren Nachbarregionen verfügen, begeben sich die Bakterien und Viren mit auf die Reise. Sie verstecken sich in den mitgeschleppten Zwischenwirten – Hausratten, Kleiderläusen, Geflügel und Schlachtvieh sowie in exotischen Wildtieren. Häufig haben sie vor Reisebeginn auch schon die Menschen befallen. Es kommt aber auch vor, dass sie sich ausschließlich bei den Menschen als unerkannte blinde Passagiere einnisten. Infolgedessen verlaufen die Reiserouten und Geschwindigkeiten, in denen sich die Krankheitserreger in der menschlichen Zivilisation ausbreiten, sehr unterschiedlich. Dazu zwei Beispiele: Der Schwarze Tod des 14. Jahrhunderts und die Influenzapandemie 1918/20.

Der Schwarze Tod

Seit Jahrtausenden koexistieren die Pestflöhe mit den wilden Nagern der zentralasiatischen Hochebene.1 Als der Klimawandel diese Weltregion im 14. Jahrhundert auszutrocknen begann, begaben sich die Nager – und mit ihnen die Pestflöhe – auf Wanderschaft. Sie kamen in näheren Kontakt mit menschlichen Siedlungen. Die Flöhe sprangen auf die dort heimischen Hausratten über. Ende der 1330er Jahre brach bei einer nestorianischen Christengemeinde in Issyk-Kul im heutigen Kirgistan die Pest aus. Von hier aus bildeten sich größere Infektionsherde, die sich nach und nach über Nordindien nach China ausbreiteten. Dort herrschten Hungersnöte und Kriegswirren, die ohnedies Millionen Menschen das Leben kosteten. Bis Mitte der 1340er Jahre sind in China und im übrigen Asien etwa 25 Millionen Menschen der Pest zum Opfer gefallen. Wie dies im Einzelnen geschah, ist unbekannt.

Über die Ausbreitungswege der Pest in die übrigen Weltregionen2 sind wir besser unterrichtet: Sie folgten den Routen des Fernhandels, der unter der Mongolenherrschaft neu aufgeblüht war. Händlerkarawanen und Mongolenheere kreuzten Zentralasien auf den Verzweigungen der Seidenstraße, die nördlich des Kaspischen Meers verliefen. Gegen Mitte der 1340er Jahre erreichten die in den Handels- und Armeetrecks mitreisenden blinden Passagiere die untere Wolga und die Don-Region. Dort sprangen sie auf den Armee-Tross der Goldenen Horde über, die sich gerade anschickte, die Krim zurückzuerobern. In den Jahren 1345/46 belagerte sie die an der Ostküste der Krim gelegene genuesische Handelsniederlassung Kaffa (heute Feodosia), um sie auszuhungern. Die Pest dezimierte jedoch ihren Belagerungsring. Daraufhin katapultierten die Mongolen die Leichen ihrer Gestorbenen über die Mauern, und so erreichte der tödliche Erreger Europa.3 Es gelang den Genuesen, auf mehreren Galeeren zu fliehen. Im Frühjahr 1347 machten sie in Trapezunt und anschließend in Konstantinopel, der Metropole des Byzantinischen Reichs, Zwischenstation. Dort lösten sie eine katastrophale Epidemie aus und infizierten die Besatzungen weiterer genuesischer Handelsschiffe. Von hier an folgte die Pest den Seerouten des genuesischen Fernhandels, und nun wurde die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Epidemie durch die Rudergeschwindigkeit ihrer Galeeren bestimmt.

Eine Hauptroute verlief nach Alexandria, wo die ersten todbringenden Schiffe im Frühsommer 1347 ankamen. Die Hafenstadt wurde zum Knotenpunkt der weiteren Ausbreitung, die die Küstenstädte der Levante und Nordafrikas sowie den gesamten Nahen Osten erfasste.

Die zweite Hauptoute führte in die Hafenstädte Siziliens und danach Italiens: Messina, Pisa, Genua und Venedig. Italien wurde um die Jahreswende 1347/48 zum europäischen Epizentrum des Schwarzen Todes. Von hier aus wurde ganz Süd- und Westeuropa in die Pandemie einbezogen: Frankreich schon im Herbst 1347 von Marseille aus, das spätere Österreich über Tirol, den Brennerpass und Venedig, Spanien über Barcelona und die Balearen. Danach zog die Pest stromaufwärts nach Mittel- und Nordeuropa, vor allem über die Rhône und das Rheintal bis zu den Städten der Nordseeküste, nach England und zum Handelsnetz der Hanse. Schließlich verlangsamte sich ihr Tempo, zugleich verstärkte sich jedoch die regionale Ausbreitung.

Lange wurde über die Frage diskutiert, was dazu geführt hatte, dass sich der Pesterreger im Tempo der Handelskarawanen, der mongolischen Heere, der genuesischen Galeeren und anschließend der Flussschifffahrt sowie der Pferdefuhrwerke der Binnenhändler ausbreiten konnte. Der Grund dafür war, dass man in der klassischen Seuchenhygiene die Hausratte für den einzigen Zwischenwirt hielt, von dem die infizierten Flöhe auf den Menschen übersprangen. Hausratten aber sind sesshaft. Sie verlassen auch die Schiffsräume nur selten, und deshalb war ihr Transmissions- und Reproduktionsverhalten weitaus gemächlicher als die tatsächliche Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schwarzen Todes. Das Rätsel konnte erst in den 1890er Jahren durch den bakteriologischen Nachweis des Erregers4 und die nachfolgenden epidemiologischen Untersuchungen geklärt werden. Der zweite Zwischenwirt, der Menschenfloh, folgte dem Menschen in seinen Kleidern auf Schritt und Tritt. Zudem konnte die Pest auch direkt von Mensch zu Mensch, nämlich durch Tröpfchen, übertragen werden. Somit gab es insgesamt drei mögliche Übertragungswege gleichzeitig. Da der in mehreren genetischen Varianten auftretende Erreger der Beulen- und Lungenpest zudem hoch pathogen war, war der Schwarze Tod ein furchtbares Ereignis. Er raffte ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung dahin, in den übrigen Weltregionen war es wohl ähnlich. Die Pest blieb seither jahrhundertelang endemisch. Selbst heute flackert sie noch manchmal auf. Wir wissen inzwischen recht gut, wie die blinden Passagiere der Pest die damals bekannte Welt heimsuchten und entvölkerten. Über die Frage, wie und warum sie überhaupt seit 1351 wieder abklang, wird hingegen noch immer gerätselt.

Die Influenzapandemie 1918–1920

Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte die als ›Spanische Grippe‹ bezeichnete Influenzapandemie von 1918–1920 ihren Ursprung in einem County des US-Bundesstaats Kansas, in dem sich viele Schweinezuchtfarmen befanden. Dort wurden ab Januar 1918 zahlreiche schwere Atemwegserkrankungen beobachtet.5 Mehrere Rekruten aus diesem Landstrich verschleppten das Virus in ein benachbartes Camp der US Army, in dem 56.000 junge Männer für ihren Europa-Einsatz in den Expeditionary Forces ausgebildet wurden. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten zahlreiche Soldaten Symptome, die sich von den seit langem bekannten Influenza-Zeichen durch ihre Heftigkeit unterschieden. Der Infektionsherd breitete sich rasch in weiteren Militärcamps aus, griff auf die Ausbildungszentren der US Navy über und erfasste die Zivilbevölkerung der benachbarten Großstädte.6 Im März 1918 stiegen in Detroit, in South Carolina und im Zuchthaus San Quentin die Infektionszahlen. Da die Militärbehörden keine wesentlichen Unterschiede zu den Influenza-Saisons der vergangenen Jahrzehnte feststellten, hielten sie an ihren Transportplänen fest. So konnte sich die erste Pandemiewelle fast gleichzeitig in den USA und in der Transatlantikregion ausbreiten.

Im April traf ein erstes Schiff, dessen Besatzung infiziert war, in Bordeaux, einem der größten Umschlagszentren der Entente in Europa, ein. Die Epidemie griff rasch um sich und erfasste auch Einheiten des britischen Expeditionskorps und der britischen Marine. Zudem dehnte sie sich auf das Hinterland aus und erreichte im Mai–Juni Italien und Spanien sowie über Kriegsgefangene und direkte Frontkontakte auch Deutschland. Die weltweite Ausbreitung folgte hingegen den Routen der britischen Flottenverbände. Sie erreichte im Mai über Murmansk das europäische Russland, griff auf Nordafrika über und breitete sich im Juni ausgehend von Bombay und Kalkutta in Indien, auf den Philippinen und in China aus; zuletzt wurde sie von der britischen Navy bis nach Neuseeland verschleppt. In allen Ländern und Regionen breitete sich die Pandemie innerhalb weniger Wochen aus, um ebenso rasch wieder abzuklingen. Da sich die Sterblichkeit trotz der heftigen Symptome (die Soldaten und Matrosen nannten die Influenza ›three day fever‹ oder ›knock-down fever‹) in Grenzen hielt, schrieben die Militärärzte und -behörden der ersten Welle der Pandemie, die vom März bis Juli andauerte, keine besondere Schwere zu.

Das änderte sich schlagartig, als die zweite Welle losbrach. Im August 1918 legte ein britisches Kriegsschiff in Free Town (im späteren Sierra Leone) an. Die Besatzung begab sich wegen gravierender Symptome in Krankenhausbehandlung. Die Infektion griff rasch auf die Hafenarbeiter und die übrigen Stadtbewohner über. Auch im zentralen Umschlaghafen der Entente im französischen Brest entstand ein neuer Infektionsherd, der dem Auftreten eines weitaus virulenteren Erregers mit einer zehnfach höheren Sterblichkeitsrate geschuldet war. Den dritten Hotspot der zweiten Welle bildete Boston, wo eine aus Europa zurückkehrende Einheit mit schweren Krankheitssymptomen anlandete. Bis Herbstbeginn hatte eine weitaus aggressivere Variante der Pandemie drei Kontinente im Griff – Afrika, Europa und die Vereinigten Staaten. Darüber hinaus kam es in allen betroffenen Ländern – insbesondere in Asien – zum Wiederaufflammen der Infektionsketten der ersten Welle. Ab Januar 1919 war schließlich auch Australien in das weltweite Pandemiegeschehen einbezogen.

Erst seit den 1990er Jahren vermochte die medizinhistorische Forschung die ganze Tragweite der Katastrophe zu rekonstruieren.7 Nachdem die Pandemie von Free Town ausgehend alle größeren Hafenstädte Afrikas erfasst und entlang der Flussrouten und Eisenbahnlinien durchdrungen hatte, starben dort innerhalb weniger Wochen 15–20 Millionen Menschen. In Indien traf die Pandemie ab Oktober 1918 auf eine katastrophale Hungersnot und forderte 7–12 Millionen Todesopfer. In den USA starben etwa 600.000 Menschen, in England und Wales waren es 200.000, in Deutschland zwischen 240.0000 und 260.000. Unter Berücksichtigung der teilweise stark differierenden Bevölkerungsgrößen waren ähnliche Sterblichkeitsraten auch im übrigen Kontinentaleuropa sowie in Russland, Australien und Neuseeland zu beobachten. Weitaus höher waren sie dagegen beispielsweise auf Samoa und in Alaska, wo jeweils ein Viertel der Bevölkerung dahingerafft wurde. Der zweiten Pandemiewelle fielen vor allem 20–40-Jährige zum Opfer – ein außergewöhnliches Phänomen der an Überraschungen so reichen Geschichte der Influenza. Dies war sicher auch auf den Erschöpfungszustand der Millionenheere zurückzuführen, die nach Kriegsende auf den Truppentransportern und in den überfüllten Militärzügen vom europäischen Kriegsschauplatz zurückkehrten. Die Opfer, die die ›Spanische Grippe‹ der Weltbevölkerung auferlegte, waren gewaltig. Zwar kamen viele mit dem Schrecken einer heftigen Grippe davon. Wo medizinische Versorgungssysteme existierten, mussten jedoch etwa 25 % aller Infizierten klinisch (zumeist in Lazaretten und ad hoc eingerichteten Hilfskrankenhäusern) behandelt werden. Mindestens die Hälfte der Weltbevölkerung (800 Millionen Menschen) hatte sich angesteckt. Hochrechnungen, die auch die weitgehend unregistriert gebliebenen Zivilopfer des Globalen Südens einbeziehen, schätzen die Gesamtzahl der Opfer der Influenzapandemie heute auf 40–50 Millionen.8

In zahlreichen Ländern gab es 1919/20 noch eine dritte Welle, die auf einige kleinere Schwerpunkte beschränkt blieb. Sie wurde noch stärker als ihre beiden Vorläufer durch die Kriegsfolgen und die weltweiten sozialen Massenkämpfe überlagert. Der Erreger war jedoch genauso virulent wie in der zweiten Etappe der Pandemie, die im August 1918 in Free Town, Brest und Boston begonnen hatte.

Drei Geschwindigkeiten

Der Schwarze Tod und die Influenzapandemie von 1918–1920 gehören zu den größten Katastrophen der Weltgeschichte. Sie lagen fast 600 Jahre auseinander. Sie unterschieden sich in vielen wichtigen Aspekten voneinander. Erstens waren die Ausbreitungswege anders. Die Pest hatte ihren Ursprung in den Hochebenen Zentralasiens. Der neue Subtyp des Influenzavirus trat dagegen im US-amerikanischen Mittelwesten auf, sodass die Infektionsrouten von der Neuen Welt ausgingen, die zur Zeit des Schwarzen Todes noch vollkommen von Eurasien abgetrennt gewesen war. Zweitens unterschieden sich die Übertragungswege grundlegend: Die Pestbakterien erreichten ihre Opfer gleichzeitig über Rattenflöhe, Kleiderläuse und direkte Übertragung von Mensch zu Mensch; bei der Influenza nutzten die Viren ausschließlich die Menschen als Infektionsquellen. Drittens gab es gravierende Unterschiede hinsichtlich der Pathogenität der Erreger und der Krankheitsverläufe. Die Pest suchte alle Infizierten heim. Sie starben in den meisten Fällen mit entstellten Körpern und unter unerträglichen Schmerzen. Infolgedessen sind auch die Mortalitätsstatistiken völlig anders. Die Pest raffte in den betroffenen Regionen ein Drittel und manchmal auch die Hälfte der Bevölkerung dahin. Bei der Influenzapandemie waren annähernd katastrophale Effekte (Mortalitätsraten bis zu 25 %) nur in einigen Regionen Afrikas und Südasiens zu verzeichnen.

Aufschlussreich ist auch der Vergleich der Ausbreitungsgeschwindigkeit. Sie war in beiden Fällen vom Grad der damaligen Mobilität der Weltbevölkerung und dem durchschnittlichen Tempo der von ihnen benutzten Transportmittel abhängig. Bei beiden Pandemien war die Mobilität aus spezifischen historischen Gründen erheblich gesteigert. Der Erreger des Schwarzen Tods traf auf eine Konstellation, in der sich das mongolische Weltreich gerade konsolidiert hatte, sodass es zu einer markanten Wiederbelebung des asiatisch-europäischen Fernhandels gekommen war. Zudem befand sich die Herrschaft der Mongolen und der aus ihr hervorgegangenen Goldenen Horde noch in der Expansionsphase, sodass die Seidenstraße und die an sie anschließenden Transportrouten des unteren Wolga- und Don-Gebiets bis hin zum Schwarzen Meer von ihren Truppen genutzt wurden. Diese asiatische Mobilitätskette kreuzte sich dann in Kaffa am Ostufer der Krim mit Europa. Von hier aus wurden die unheilbringenden blinden Passagiere von den Galeerenflotten der Genuesen weitergetragen.

Bei der Ausbreitung der Influenzapandemie knapp 600 Jahre später trugen die kriegerischen Auseinandersetzungen entscheidend zu ihrer Verbreitung bei. Die US Navy transportierte in der Zeit vom März bis August 1918 fast eine Million Soldaten zur Verstärkung der in Europa kämpfenden Expeditionary Forces über den Atlantik und sorgte dafür, dass sich die Epidemie nicht nur in den USA, sondern fast zeitgleich in Europa ausbreitete. Es blieb dann der weltweit operierenden britischen Kriegsflotte vorbehalten, die Pandemie in die Hafenstädte der Dominions und Kolonien des Empire zu exportieren. Da die involvierten Militärführungen das Risiko dieses allen bewussten rapiden Transfers der blinden Passagiere trotz der Warnungen einiger Mediziner unterschätzten, war auch die Ausbreitung der zweiten besonders verheerenden Pandemiewelle in erster Linie auf die uneingeschränkte Mobilität ihrer Kriegsflotten zurückzuführen.

Eine bedeutende Rolle spielte aber auch der jeweilige Zustand der Transportmittel. Das Ausbreitungstempo des Schwarzen Tods folgte den täglich zurückgelegten Wegstrecken der Kamelkarawanen der Seidenstraße, der Schiffstreidler an Don und Wolga und der Trecks der Mongolenheere, bevor dann der Schlagrhythmus der von Sklaven vorangetriebenen genuesischen Galeeren das Tempo bestimmte. Für die damaligen Verhältnisse waren dies erhebliche Geschwindigkeiten (eine Steigerung von 3–5 auf etwa 15 Stundenkilometer), und dies erklärt die dramatische Beschleunigung, die die Pest 1347/48 nach ihrer anfänglich langsamen Ausbreitung von Zentralasien nach China und Südrussland auszeichnete. Danach verlangsamte sich das Tempo wieder, denn die von der Rhône, dem Rhein und dem Brenner ausgehenden innereuropäischen Handelsrouten erforderten häufig wechselnde Transportmittel. Erst nach ihrer Ankunft am Niederrhein und in den Nordseehäfen beschleunigte sich die Pandemie nochmals. Die fünf Ausbreitungsetappen des Schwarzen Tods waren somit durch recht unterschiedliche Geschwindigkeiten geprägt.

Bei der Influenzapandemie von 1918–1920 war dies anders. Auch sie verlief in mehreren Phasen, die sich teilweise überlappten. Aber ihr Tempo war ziemlich homogen, sobald sich in den USA die ersten großen Infektionsherde gebildet hatten. Die Marinekommandos der USA und Großbritanniens verfügten über technisch hoch entwickelte Schiffseinheiten. Auch die großen Truppenbewegungen zu den Fronten und die anschließende massenhafte Demobilisierung waren erheblich beschleunigt, da sie in der Regel über die großen Eisenbahnnetze führten. Insgesamt dominierte somit eine Transportkette aus Schiff und Schiene, deren Tempo durch die teilweise schon auf Mineralöl umgestellten Schiffsantriebe und die Lokomotiven bestimmt wurde (durchschnittlich 15 bis 60 Stundenkilometer). Selbstverständlich ließ bei den Transporten dieser Massenheere nach Europa und von dort zurück in alle Weltteile die Logistik häufig zu wünschen übrig. Deshalb kam es in den großen Umschlaghäfen immer wieder zu Stauungen, die das Übergreifen der Pandemie auf deren Zivilbevölkerung und von dort ins Hinterland begünstigten. Die unfreiwilligen ›superspreader‹ der ›Spanischen Grippe‹ waren dabei von Anfang an die infizierten Besatzungen der US-amerikanischen und britischen Kriegsschiffe.

Fast genau einhundert Jahre später brach die Covid-19-Pandemie aus. Auch bei ihr handelt es sich um eine akute Infektion der Atemwege und des Atemsystems, und deshalb ähneln die Übertragungswege und Krankheitsverläufe der Influenza. Aber je länger sie dauert, desto stärker unterscheidet sie sich von den saisonal auftretenden Influenzapandemien der letzten Jahrzehnte. Dieses Phänomen legt es nahe, auch die Coronapandemie als eine historische Zäsur anzusehen, bei der sich der Vergleich zur Influenza-Pandemie aufdrängt, um die veränderten Rahmenbedingungen und Abläufe zu verstehen.

Wer sich auf eine solche Perspektive einlässt, wird zunächst danach fragen, wie sich die heutige Mobilität der Weltgesellschaft auf die Covid-19-Pandemie auswirkt, und wie sich das rasant beschleunigte Tempo der heute benutzten Transportmittel (150 bis 800 Stundenkilometer) auf ihre Dynamik auswirkt. Unter diesen Gesichtspunkten werde ich Ausbreitungswege und Eigenschaften der Covid-19-Pandemie untersuchen. Damit werde ich es jedoch nicht bewenden lassen. Ich werde vielmehr zuvor der Frage nachgehen, inwieweit die gesundheitspolitischen Institutionen auf dieses lange vorausgesagte Ereignis vorbereitet waren.