1.ZWEI CORONAPANDEMIEN ALS MENETEKEL: SARS UND MERS

Die SARS-Pandemie 2002/2003

Im November 2002 erkrankten in der südchinesischen Provinz Guangdong einige Bauern und mehrere Köche exotischer Tierrestaurants mit influenza-ähnlichen Symptomen: Fieber, Atembeschwerden sowie Kopf- und Gliederschmerzen. Häufig verschlimmerte sich ihr Zustand, sodass sie teilweise hospitalisiert und wegen atypisch verlaufender Pneumonien behandelt werden mussten. Einige Patienten waren hoch infektiös: So infizierte ein Koch, der wegen der Ausbildung eines akuten Atemwegssyndroms in mehrere Kliniken verlegt wurde, nacheinander zahlreiche Mitpatienten und Angehörige des Krankenhauspersonals. Zu ihnen gehörte auch ein Lungenspezialist, der im Februar 2003 zu einer Familienfeier nach Hongkong reiste. Auch er erwies sich als unfreiwilliger ›Superspreader‹ und infizierte binnen kürzester Frist zahlreiche Hotelgäste, die die blinden viralen Passagiere auf ihren anschließenden regionalen und Interkontinentalflügen mitnahmen und nach Kanada, Singapur, Vietnam und in die USA exportierten. Auch aus der Provinz Guangdong fanden derartige Transfers statt, insbesondere nach Taiwan. Zunächst beschränkten sich die von den Angesteckten ausgehenden Infektionsketten auf Familienangehörige, Mitpatienten, Krankenhausangestellte und Hotelgäste. Im Verlauf des Februars kam es zu den ersten Übertragungen außerhalb dieser engen Kontaktnetze. Der erste und wichtigste Infektionsherd war und blieb die Provinz Guangdong mit der Perlfluss-Metropole Guangzhou, gefolgt von Hongkong, Taiwan, Toronto, Singapur und Vietnam.

Die chinesischen Behörden unterdrückten die Nachrichten über die rätselhafte neue Infektionskrankheit drei Monate lang. Sie informierten die WHO erst am 10. Februar 2003 über dieses Ereignis und berichteten über 305 Infizierte und fünf Todesfälle. Deshalb blickten die Gesundheitswissenschaftler zunächst nach China, um aus dem Vorgehen der Gesundheitsbehörden im glücklicherweise einzigen Epizentrum der ersten Coronakrise ihre Lehren zu ziehen.1 Dort hatte eine Expertenkommission im Januar 2003 einen Bericht über die Ausbreitung der SARS-Epidemie in Guangdong verfasst. Die Provinzregierung hatte ihn als ›streng geheim‹ eingestuft. Dies hatte erhebliche Verzögerungen in der internen Kommunikation zur Folge gehabt. Als das nationale Gesundheitsministerium schließlich davon erfuhr, unterdrückte es die Weiterverbreitung des Berichts. Auch das im Jahr 1983 gegründete Chinese Center for Disease Control and Prevention (CCDC) hielt sich bedeckt und unterließ eine Warnmeldung an die Hospitäler. Obwohl sich inzwischen in der Provinz Gerüchte und Panikreaktionen ausbreiteten, unterblieb jegliche Aufklärung. Einer am 22. März angereisten WHO-Delegation wurde erst eine Woche später der Zutritt zur Provinz Guangdong erlaubt, auch die anschließende Genehmigung zum Besuch der Krankenhäuser in Beijing verzögerte sich. Nun mussten die Behörden die Gesundheitskrise öffentlich zugeben, aber noch zu dieser Zeit erklärte der damalige Gesundheitsminister, man habe die Situation unter Kontrolle. Doch dann geriet die chinesische Regierung unter internationalen Druck. Das Wall Street Journal forderte den Erlass eine Reisewarnung für China. Als der Arzt eines Militärhospitals den Gesundheitsminister in einer E-Mail der Lüge bezichtigte, wurde nichts gegen ihn unternommen, als seine Stellungnahme in den westlichen Medien zu zirkulieren begann. Die Gründe für dieses Verhalten waren naheliegend: Die Feiern zum chinesischen Neujahr sollten nicht gestört werden. Darüber hinaus tagte im März 2003 der Nationale Volkskongress. Er war von besonderer Bedeutung, weil durch ihn eine Umbildung der Zentralregierung verabschiedet werden sollte.

Am 2. April diskutierte der chinesische Staatsrat erstmalig über die SARS-Krise, kurze Zeit später befasste sich auch der Ständige Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei mit ihr. Nun wurde das Ruder herumgerissen, denn es zeichneten sich die größten politischen Loyalitätsverluste seit dem Massaker von 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens ab. Der Gesundheitsminister, der Bürgermeister von Beijing und weitere 120 höhere Funktionsträger wurden entlassen; hinzu kamen über 1.000 Disziplinarverfahren. Der Staatsrat und die Armeeführung bildeten einen Krisenstab, dem ein Expertenteam aus dem Gesundheitsministerium und den medizinischen Forschungszentren zugeordnet wurde. Es kam zu einschneidenden Maßnahmen. Lokale Task Forces entstanden, die umfangreiche Isoliermaßnahmen anordneten und überwachten. Zahlreiche Betriebe des Perlfluss-Deltas und der Provinz mussten schließen. In den Kliniken hielt ein strenges Hygiene- und Desinfektionsregime Einzug. Alle an SARS-CoV Erkrankten wurden kostenfrei behandelt, um die Ausbreitung der Epidemie auf die Bauern und Wanderarbeiter einzudämmen. Für diese Akutmaßnahmen stellte die Zentralregierung umgerechnet 250 Millionen US-Dollar zur Verfügung, von den Provinz- und Lokalregierungen kamen 875 Millionen hinzu.

Im Verlauf des Juni 2003 konnte die Epidemie eingedämmt und schließlich – wenn auch nur zeitweilig – eliminiert werden. Die dreimonatige Unterbindung adäquater Gegenmaßnahmen und der anschließende Lockdown reduzierten die chinesische Wirtschaftsleistung um einen knappen Prozentpunkt. Weitaus gravierender war der politische Loyalitätsverlust. Vor allem aus diesem Tatbestand zog die chinesische Führung weitreichende Konsequenzen – wenn auch, wie wir heute wissen, nur zeitweilig. Immerhin setzte sich die Erkenntnis durch, dass die extremen sozialen Verwerfungen zwischen Stadt und Land sowie die hinter der ökonomischen Entwicklung herhinkenden sozialen Sicherungssysteme den Ausbruch weiterer Epidemien begünstigen konnten.

In den folgenden Wochen verdichteten sich die Informationen über den klinischen Verlauf der Krankheit. Die Inkubationszeit betrug zwei bis sieben Tage. Die Übertragung erfolgte über Tröpfchen, der Erreger drang über den Rachen und die oberen Luftwege rasch in die Lungen ein. Da die Erkrankten erst mit Beginn der markanten Symptome ansteckend wurden, war die Ausbreitungsgeschwindigkeit langsam. Hinzu kam, dass nur ein Teil der Patienten hochinfektiös war, sodass die von den relativ wenigen ›Super-Überträgern‹ ausgehenden Infektionsketten rasch identifiziert und eingedämmt werden konnten. Trotzdem waren bis zum Frühjahr 2003 dreißig Länder – darunter auch acht europäische Nationalstaaten – und fast alle Kontinente betroffen. Ab Juli traten nur noch Einzelfälle auf. Nach dem Abklingen der Pandemie im Jahr 2004 wurden weltweit 8.096 Infizierte und 774 Verstorbene registriert, davon 7.083 bzw. 648 in China. Dies entsprach einer Fallsterblichkeit von 9,6 %.

Aufgrund der monatelangen Vertuschungspraktiken der VR China konnte das Genom des Erregers erst im März 2003 entschlüsselt und der inzwischen als SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) bezeichneten Krankheit als SARS-Coronavirus (SARS-CoV) zugeordnet werden.2 Ein halbes Jahr später erkannten Virologen auch den Mechanismus, mit dessen Hilfe das Virus an den menschlichen Lungenzellen andockte und in sie eindrang: Das Spike-Protein nutzte den ACE2-Rezeptor als Schlüssel zum Schloss. Das war eine ominöse Entdeckung. Da zusätzlich festgestellt wurde, dass das Virusgenom trotz seines einsträngigen Aufbaus sehr flexibel war, konnte es jederzeit zu weiteren Ausbrüchen kommen.

Im Verlauf des Jahres 2004 wurden auch die Herkunft des Virus und die Ursache der Pandemie aufgeklärt. Das SARS-CoV(-1)-Virus hatte sein Reservoir in mehreren Fledermausarten. Es nutzte bestimmte Schleichkatzen, die über einen dem menschlichen Organismus entsprechenden ACE2-Rezeptor verfügen, als Zwischenwirt; es wurde aber auch in Marderhunden nachgewiesen. Die zoonotische Übertragung auf den Menschen hatte im fernöstlichen Milieu des exotischen Wildtiergewerbes stattgefunden, wo Menschen auf Tierfarmen, Großmärkten und in Esslokalen eng mit den in Käfigen gehaltenen und erst kurz vor dem Verzehr geschlachteten Tieren zusammenleben. Zwar erließ die Regierung der VR China nach der Aufklärung der Übertragungswege einige Verordnungen zur Einschränkung und Regulierung dieses Gewerbes. Es war jedoch derart stark in der Gesellschaft verankert, dass es mehr oder weniger unangefochten weiterbestand. Tatsächlich wurde die SARS-CoV(-1)-Infektion in China endemisch, und in den folgenden Jahren entstanden immer wieder kleinere Infektionsherde.

Die MERS-Pandemie seit 2012

Zehn Jahre nach dem Ausbruch der SARS-Pandemie stellte sich heraus, dass die von den Coronarviren ausgelösten Zoonosen des Atemsystems nicht nur in Ostasien und China entstehen. Dies wurde im Juni 2012 erkannt, als bei einem in London verstorbenen Patienten aus Saudi-Arabien die Gensequenzen eines bislang unbekannten Betacoronavirus nachgewiesen worden. Der Mann war wegen einer schweren atypischen Pneumonie und eines Nierenversagens von Dschidda in die Intensivabteilung einer Londoner Spezialklinik ausgeflogen worden. Drei Monate später wurde ein weiterer Patient aus Katar, der sich zuvor in Saudi-Arabien aufgehalten hatte, mit den gleichen Symptomen nach London verlegt. Die bei ihm isolierten Viren stimmten mit denjenigen des ersten Falls überein, sodass man von einem neuen Erreger ausgehen musste, der in der Bevölkerung der Arabischen Halbinsel zirkulierte. Im November erhöhte sich die Zahl der Erkrankten auf neun, nachdem auch bei mehreren, wegen atypischer Pneumonie behandelten Patienten nachträglich die gleichen Genomsequenzen nachgewiesen worden waren. Ende März 2013 berichtete die WHO über 17 laborbestätigte Erkrankte, von denen elf gestorben waren; genau ein Jahr später waren von insgesamt 206 Erkrankten 86 verstorben. Da sich die Epidemie anfänglich auf die Arabische Halbinsel und den Nahen Osten (mit Clustern in Saudi-Arabien, den Vereinigten Emiraten, Katar und Jordanien) beschränkte, erhielt sie die Bezeichnung Middle East Severe Respiratory Syndrome (MERS), und das sie auslösende Virus wurde ihr als MERS-Coronavirus (MERS-CoV) zugeordnet.

Im Verlauf des Jahrs 2014 breitete sich die Epidemie regional und weltweit aus. Dies geschah diskontinuierlich und sporadisch, weil die Erstinfizierten zwar ihre engere Umgebung (Familie, Arbeitskollegen und Krankenhauspersonal) ansteckten, von diesen aber keine weiteren Sekundärinfektionen (Sekundärpassagen) ausgingen. In Dschidda und Ryadh entstanden krankenhausspezifische Infektionsherde. Aus den meisten arabischen Ländern und dem Iran wurden Einzelfälle gemeldet, ebenso aus Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland. Dabei handelte es sich immer um arabische Reisende oder um Touristen, die von der Arabischen Halbinsel zurückgekehrt waren, und deren persönliches Umfeld. Sie waren überwiegend männlich. Besonders gefährdet waren 50–69-Jährige, die an chronischen Krankheiten (vor allem obstruktive Lungenerkrankungen und Diabetes) litten. Die Fallsterblichkeit war hoch und unterstrich die Schwere der Infektion. Im Januar 2020 meldete die WHO über 2.519 bestätigte MERS-Infektionen und 866 Verstorbene. Davon entfielen auf Saudi-Arabien 2.121 Patienten und 788 Todesopfer. Bei dieser hohen Fallsterblichkeit (34,3 % weltweit und 37,1 % in Saudi-Arabien) muss indessen berücksichtig werden, dass es auch bei der MERS-CoV-Infektion zahlreiche Fälle gibt, die asymptomatisch oder mild verlaufen und nicht erkannt werden. Einer in Saudi-Arabien durchgeführten Studie zufolge gab es mehrere zehntausend Immunisierte. Die Letalitätsrate ist somit mit großer Wahrscheinlichkeit wesentlich niedriger. Sie kann aufgrund der unsicheren Datenlage nicht geschätzt werden.

Auch die MERS-Pandemie zog ausgedehnte virologische und epidemiologische Studien nach sich. Dabei konnten ihre Besonderheiten, nämlich ihr sporadischer, aber durch schwere Erkrankungen gekennzeichneter Verlauf, rasch aufgeklärt werden. Beim Erreger handelt es sich um ein typisches Betacoronavirus, dessen Nukleotidsequenzen jedoch in einigen Abschnitten erhebliche Besonderheiten aufweisen. Als Eintrittspforte zum Menschen benutzt es einen sich auf der Oberfläche der Lungenzellen befindlichen Peptidase-Rezeptor (DPP 4). Der Schlüssel-Schloss-Mechanismus ist jedoch instabil, sodass die Viren nur in die tief im Lungeninneren gelegenen Lungenzellen einzudringen vermögen. Dies erklärt zum einen, warum die Infektionsketten in der Regel auf die Erstpassage beschränkt bleiben, zum andern aber auch die Schwere der Erkrankung.

Auch die Epidemiologen wurden rasch fündig. Wie bei allen bis heute bekannten Betacoronaviren bilden Fledermäuse das Reservoir. Von hier aus breitet sich das MERS-CoV auf die einhöckerigen Kamele als Zwischenwirte aus; wie Antikörper-Serientests nachwiesen, sind inzwischen alle Dromedarherden der Arabischen Halbinsel durchseucht. Die Übertragung auf den Menschen findet in den Ställen, auf den Kamelmärkten und bei der Verarbeitung sowie beim Konsum der Kamelprodukte statt, so etwa beim Trinken von roher Kamelmilch.