Die neuartigen Coronapandemien waren ausgesprochene Alarmsignale. Zwar blieben sie in ihrer Ausdehnung beschränkt und traten nur sporadisch auf. Aber der Anteil der durch sie ausgelösten schweren Erkrankungen und Falltodesraten von fast 10 bzw. 35 % war gravierend. Auch wenn es gelang, die Ausbreitung dieser Infektionskrankheiten gezielt einzudämmen, entstanden in den folgenden Jahren weltweit immer wieder lokale Infektionsherde, so beispielsweise ab Mitte Mai 2015 in Südkorea, wo ein unfreiwilliger Importeur des MERS-Virus binnen weniger Wochen 186 Personen infizierte, weil er nacheinander mehrere Krankenhäuser aufsuchte und lange unerkannt blieb. Infolgedessen ist es mehr als verständlich, dass die nationalen und internationalen Gesundheitsbehörden und Forschungsinstitute trotz vielfältiger paralleler Belastungen1 über gezielte Präventions- und Überwachungsmaßnahmen nachzudenken begannen. Und dies umso mehr, als im Herbst 2016 in der südchinesischen Provinz Guangdong eine weitere pathogene Variante des Betacoronavirus auftrat – SARS-CoV-2–, die die Jungferkelbestände mehrerer Schweinemastfarmen dahinraffte und nur durch die Ausrottung großer Schweinebestände eingedämmt werden konnte.3
Die Experten des öffentlichen Gesundheitswesens hatten somit gute Gründe für ihre Besorgnis. Sie schlussfolgerten aus den sich seit 2003 häufenden epidemiologischen und virologischen Untersuchungen, dass die Weltbevölkerung noch einmal Glück gehabt hatte: Das neuartige Virus verfügte über keine perfekten Andockpunkte an den menschlichen Lungenzellen, und die wenigen ernsthaft Infizierten wurden wegen der Schwere ihrer Symptome rasch erkannt. Das konnte sich jedoch künftig zum Schlechteren wenden, denn das Auftreten ›raffinierterer‹ Varianten des Coronavirus war jederzeit möglich.
Derartige Ausgleichsmaßnahmen benötigten freilich Jahrzehnte, die überbrückt werden mussten. Das CCDC wurde massiv aufgewertet und mit einer Sondereinrichtung zur Früherkennung epidemischer Infektionskrankheiten ausgestattet. Dieses Frühwarnsystem wurde mit Katastrophenplänen kombiniert, um auch für den Fall eines Scheiterns der ersten Eindämmungsetappe gerüstet zu sein.
Die anfänglichen Vertuschungsmanöver und das anschließende harte Durchgreifen der chinesischen Führung wurden von den ›Intelligence Units‹ des Public Health weltweit beobachtet und kommentiert, zugleich aber auch auf die eigene Problemlage bezogen. Die Situation war seit Anfang März 2003 in zahlreichen Ländern ähnlich, weil der ominöse chinesische Indexpatient gegen Ende Februar mit Hunderten internationaler Gäste des Hongkonger Hotels Metropole Kontakt gehabt hatte. Da zudem weltweit die ersten schweren Krankheitsfälle auftraten – in Deutschland erstmalig am 15. März 2003 – musste rasch gehandelt werden, um das sich in der VR China anbahnende Fiasko zu vermeiden.
Noch vor der Entsendung ihrer Untersuchungskommission nach China wurde die WHO weltweit aktiv. Sie nahm Kontakt mit der Gesundheitsbehörde Hongkongs auf, verschaffte sich die Daten aller Gäste des Hotels Metropole und verteilte sie über ihre Regionalbüros an die involvierten nationalen Zentren zur Infektionskontrolle (CDC) weiter.4 Daraufhin aktivierten die Überwachungsbehörden ihre epidemiologischen Abteilungen und bildeten Task Forces, um die möglichen unfreiwilligen Importeure des neuen Virus aufzuspüren und die klinischen Meldesysteme auf mögliche unerkannte atypische Pneumoniefälle aufmerksam zu machen. Da nur die weltweit führenden Institutionen – die Centers for Disease Control and Prevention der USA, das japanische National Institute of Infectious Disease und das deutsche Robert Koch-Institut – über die entsprechenden Kompetenzen und Kapazitäten verfügten, kam es unter der Regie der WHO zu einer spezifischen Arbeitsteilung. Die virologischen Labors des japanischen Zentrums übernahmen die Testung und Immunitätsprüfung des Untersuchungsmaterials, das ihnen die Partnerinstitutionen Hongkongs, Singapurs, Vietnams und anderer südostasiatischer Länder zuschickten. Die Epidemiologic Intelligence Unit (EIU) der US-amerikanischen CDC stimmte die globale Informationslage mit den Nachrichten aus der VR China ab. Das RKI mobilisierte seine gesamten Ressourcen. Sein zentrales Viruslabor sequenzierte in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Tropeninstitut die wichtigsten Teile des Virusgenoms. Zusätzlich entwickelte es die Testverfahren zum Infektions- und Immunitätsnachweis des SARS-Virus weiter und trieb zusammen mit den kooperierenden Laboratorien ihre Standardisierung voran. Parallel dazu entwickelte die Abteilung für Infektionsepidemiologie ihr Überwachungsspektrum (Surveillance) weiter, ging knapp 80 Verdachtsfällen nach und nahm Verbindung mit den möglichen Kontaktgruppen der insgesamt neun nachgewiesenen Infizierten im In- und Ausland auf. Alle Ergebnisse wurden in eine extra aufgebaute Hotline eingespeist und an die internationalen Kooperationspartner, insbesondere die WHO und das europäische Frühwarnsystem, weitergegeben.
Im Rahmen dieses ad hoc aufgebauten Verbundnetzes gelang es, die pandemische Ausbreitung des SARS-Virus rasch einzudämmen. Dieser Erfolg verdankte sich vielen glücklichen Zufällen sowie der Tatsache, dass Sekundärpassagen ausblieben. Den Akteuren war dies bestens bewusst. Ihre wichtigste Lektion bestand infolgedessen darin, sich für den weltweiten Aufbau nationaler Frühwarnsysteme und einer damit einhergehenden dauerhaften Kommunikationsstruktur einzusetzen.
In den von der SARS-Pandemie heimgesuchten Ländern wurden diese Einsichten zügig umgesetzt.5 Auf das aufwendige Frühwarnsystem der VR China habe ich schon hingewiesen. Dauerhafte Emergency Units entstanden auch in Kanada, Australien, Taiwan, Singapur und Südkorea und wurden zügig ausgebaut. Hinzu kamen u. a. das 2003 von der EU-Kommission auf den Weg gebrachte und im Mai 2005 funktionsfähig gewordene European Centre for Disease Control and Prevention (ECDC), für dessen Etablierung die SARS-Pandemie den letzten Anstoß gegeben hatte.6
Letztlich konnte eine dauerhafte Frühwarnstruktur zur Vorbereitung auf weitere unverhofft auftretende Pandemien nur auf der Basis verbindlicher WHO-Richtlinien geschaffen werden. Deshalb griffen die durch die SARS-Pandemie besonders betroffenen WHO-Mitgliedstaaten eine Initiative wieder auf, die die WHO-Versammlung 1995 verabschiedet hatte, um angemessene Antworten auf die durch die Internationalisierung des Reiseverkehrs und der Handelsbeziehungen verstärkten Gesundheitsrisiken zu finden. Nach intensiven Vorarbeiten etablierte die WHO-Versammlung 2003 eine Arbeitsgruppe und beauftragte sie, die aus dem Jahr 1969 stammenden ›International Health Regulations‹ (IHR) grundlegend zu überarbeiten.7 Zwei Jahre später folgte die Verabschiedung des Regelwerks. Es beschränkte sich im Gegensatz zur Vorfassung nicht mehr auf spezifische Epidemien, sondern bezog sich auf alle Erkrankungen, von denen ein weltweites Risiko ausging. Davon ausgehend wurden alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, einen elementaren Standard an Vorbeugungs- und Überwachungsstrukturen zu etablieren und ein Meldesystem für alle neu auftretenden Erkrankungen von möglicher internationaler Bedeutung einzurichten. Die eintreffenden Berichte sollten einem vom WHO-Generalsekretär berufenen Experten- und Beratungsgremium vorgelegt werden. In dringlichen Fällen sollte zudem ein ›Emergency Committee‹ zusammentreten und die erforderlichen Gegenmaßnahmen einleiten. Auch die Befugnisse der sechs regionalen und der nationalen WHO-Niederlassungen wurden gestärkt, und in den wichtigsten Flughäfen und Hafenstädten sowie an den globalen Verkehrsknotenpunkten wurden Beobachtungsstellen eingerichtet. Es gab viele weitere Festlegungen und Empfehlungen, so etwa über die Koordination von Prophylaxekampagnen und Impfprogrammen, in denen sich das durch die erste globale Pandemie des 21. Jahrhunderts ausgelöste Krisenbewusstsein widerspiegelte.
Am 23. Mai 2005 verabschiedete die WHO-Versammlung das auf lange Sicht angelegte Regelwerk. Es gehörte – und gehört auch heute noch – zu den am besten durchdachten internationalen Abkommen des neuen Millenniums. Ob es sich auch in der Praxis bewährte, war eine ganz andere Frage, die uns noch weiter unten beschäftigen wird. An schweren Belastungsproben herrschte kein Mangel, denken wir nur an die nach wie vor ungebrochene Ausbreitung der Malaria, an die schwierige Umsetzung der Programme zur Eindämmung der AIDS-Pandemie oder die neuerlichen Ausbreitungswege der Tuberkulose.
Als Stresstest der besonderen Art sollte sich indessen das sieben Jahre nach der Verabschiedung der International Health Regulation ausgebrochene Middle East Respiratory Syndrome (MERS) erweisen, denn mit ihm war eine weiteres humanpathogenes Coronavirus aufgetaucht, das im Fall des Scheiterns sofort greifender Eindämmungsversuche katastrophale Folgen nach sich ziehen konnte. Doch diesmal bestanden die Frühwarnsysteme ihre Bewährungsprobe. Im Gegensatz zur SARS-Pandemie wurden sie aktiviert, sobald das Virusgenom des in London klinisch behandelten zweiten arabischen Patienten entschlüsselt war.8 Die dazu erforderlichen Untersuchungen schloss das Virologische Laboratorium der niederländischen Erasmus-Universität am 20. September 2012 ab. Drei Tage später informierte Public Health England das Frühwarnsystem des European Centre for Disease Prevention and Control und kurz danach das Frühwarnsystem der WHO, die entsprechende Warnmeldungen über ihre Regionalbüros an die Mitgliedsländer weiterleitete. Unter der Regie des Emergency Committee starteten arbeitsteilige Aktivitäten zur Aufklärung des Krankheitsgeschehens und zur Risikoabschätzung. Das Institut für Virologie der Universität Bonn entwickelte innerhalb weniger Tage ein an das neue Virusgenom angepasstes Testverfahren. Das WHO-Regionalbüro für den Mittleren Osten (Eastern Mediterranean) koordinierte die Kontakte zwischen den Gesundheitsministerien der betroffenen arabischen Länder. Die dabei gewonnenen klinischen Daten wurden in Abstimmung mit den britischen, US-amerikanischen (CDC) und deutschen Kooperationspartnern zu einer vorläufigen Krankheitsdefinition zusammengefasst. Es folgten Leitlinien zur Abklärung der Übertragungswege und des Infektionsrisikos sowie zur Aufklärung der zoonotischen Entstehung des MERS-CoV auf der arabischen Halbinsel.
Alles in allem gelang es, die globale Ausweitung der regionalen Epidemie auf wenige Einzelfälle zu beschränken. Insofern hatte das neu eingeführte globale Frühwarnsystem seine erste Belastungsprobe bestanden. Aber das war auch diesmal kein Wechsel auf die Zukunft, denn in der arabischen Welt blieb die MERS-CoV-Infektion endemisch. Zudem wurde einmal mehr deutlich, dass das Funktionieren des internationalen Netzwerks die Existenz leistungsfähiger nationaler Präventions- und Kontrollzentren voraussetzte. Wie nach der SARS-Krise mangelte es auch diesmal nicht an entsprechenden Initiativen. Die aus historischen Gründen zersplitterten Präventions- und Kontrolleinrichtungen Englands (nicht Großbritanniens) und Frankreichs wurden zu Zentralbehörden vereinigt.9 Das Robert Koch-Institut vollendete in den folgenden Jahren seinen Aufstieg zur zentralen Public-Health-Institution in Deutschland. Auch in der arabischen Welt und im subsaharischen Afrika gab es einige Fortschritte. Das Nigeria Centre for Disease Control nahm 2011 seine Tätigkeit auf, und zwei Jahre später gründeten die Mitgliedsländer der Afrikanischen Union die African Centres for Disease Control and Prevention (ACDC) mit Sitz in Addis Abeba. Hier ging es jedoch in erster Linie um die Koordinierung der Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Malaria und der AIDS-Pandemie, und seit 2014 bestanden die ACDC ihre erste Bewährungsprobe als regionale Frontorganisation gegen die Ebola-Epidemie.