Noch mehr als die Experten des Public Health waren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beunruhigt. Nach der Entschlüsselung des Genoms des SARS-Coronavirus stellten sich ihnen drei Fragen:1 Gab es weitere Varianten der Betacoronaviren, die dem Menschen gefährlich werden konnten? Wie war es um ihre natürlichen Reservoire und ihre Zwischenwirte bestellt? Und in welchen Weltregionen kamen sie besonders häufig vor?
In einer ersten Etappe untersuchten die Biowissenschaftler die taxonomischen Beziehungen des neu aufgetretenen Erregers. Sie identifizierten fast 40 Varianten, die eine hohe Variabilität aufwiesen und infolgedessen über eine ausgeprägte Fähigkeit zum Überspringen der Artenbarriere verfügten. Diese Flexibilität verdankten sie ihrem natürlichen Reservoir, den Fledermäusen, die aufgrund ihrer weiten Verbreitung und ihrer Flugfähigkeit eng mit den Coronaviren koexistieren. Einige Fledermausarten beherbergten sogar mehrere Coronaviren gleichzeitig, und das war eine ideale Voraussetzung für häufige Rekombinationen zu weiteren Subtypen. Infolgedessen war es jederzeit möglich, dass sich SARS-ähnliche Coronaviren an verschiedene Zwischenwirte und schließlich auch an den Menschen anpassten. Zudem waren sie weltweit verbreitet. Seit der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre erschienen mehrere Studien, durch die die Existenz virusbeherbergender Fledermäuse in Südostasien, Afrika, der arabischen Welt und schließlich auch in Nordamerika nachgewiesen wurde. Tatsächlich überschritten Alpha- und Betacoronaviren in der Folgezeit immer wieder die Artenbarriere. Die Alphaviren mischten sich unter die Influenzaviren und lösten relativ harmlose Atemwegsinfekte aus. Hingegen waren das SARS- und mehr noch das MERS-Virus gefährlich. Bis zum Beginn der Covid-19-Pandemie traten weltweit immer wieder SARS- und MERS-Infektionsherde auf.
Im März 2019 bilanzierte eine chinesische Forschergruppe die bisherigen Untersuchungsergebnisse der vorangegangenen fünfzehn Jahre.2 Sie kam zum Ergebnis, dass eine weitere Pandemie vom SARS-Typ bevorstehe, und dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit von China ausgehen werde. In China seien die meisten Fledermausarten heimisch, und ihre Koexistenz mit den Coronaviren sei besonders ausgeprägt. Zudem lebten die Fledermäuse im besonders dicht besiedelten, bevölkerungsreichsten und durch mehrere Klimazonen geprägten Süden und Osten des Lands in enger Nachbarschaft mit den Menschen, wobei auch die traditionelle Esskultur eine wichtige Rolle spiele. Die Biologen forderten eindringlich den Aufbau eines Frühwarnsystems, damit der nächste Ausbruch schon in der Entstehungsphase unterdrückt werden konnte. Ein dreiviertel Jahr später sollte sich diese wissenschaftlich fundierte Warnung bitter bewahrheiten.
Parallel zu den Epidemiologen und Biowissenschaftlern machten sich auch die Virologen an die Arbeit.3 In einem ersten Schritt wandten sie 2003 ein seit längerem entwickeltes gentechnisches Verfahren, das die Identifikation der Funktionsweisen bestimmter Genabschnitte in den Lebewesen ermöglicht (Reverse Genetik), auf die SARS-Coronaviren an.4 Ein Jahr später synthetisierten sie das Spike-Protein, mit dem das Virus an den menschlichen Lungenzellen andockt.5 Einige Zeit später wurde das Erbgut eines SARS-ähnlichen Virus in seiner gesamten Länge zusammengefügt, um seine pathogenen Eigenschaften in standardisierten menschlichen Zellkulturen und Modellmäusen untersuchen zu können.6 Der Infektionsnachweis gelang, und damit begann unter der Regie der US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) auch auf dem Feld der Corona-Virologie eine neue Ära der biologischen Synthese von lebendigen Organismen. In den folgenden Jahren wurden die technischen Prozeduren weiter verfeinert, um den Schlüssel-Schloss-Mechanismus zwischen dem Spike-Protein des Virus und dem menschlichen ACE2-Rezeptor exakt imitieren und die Rekombination der viralen Laborprodukte maschinell automatisieren zu können. Das Ziel dieser aufwendigen und kostspieligen Team-Arbeiten in den Hochsicherheitslabors war von den NIH klar vorgegeben: Es sollten SARS-analoge Coronaviren synthetisiert werden, um im Fall eines Wiederauftretens der SARS-Pandemie in kürzester Zeit massenhaft Impfstoffe und monoklonale Antikörper7 produzieren zu können.
Die MERS-Pandemie von 2012 führte zu einer Intensivierung der Synthese-Projekte der Gentechniker und Virologen. Da die auf die Forschungsinstitute der University of North Carolina (in Chapel Hill) und der Boston Medical School konzentrierten Programme den gewaltigen Anforderungen an biotechnische Ressourcen und wissenschaftliche Kompetenz nicht gewachsen waren, arrangierten die NIH nun einen internationalen Forschungsverbund. Es unterstützte den Aufbau eines zentralen Forschungslabors der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) in Wuhan und schloss Kooperationsverträge mit einem immunologisch-virologischen Institut in Bellinzona im schweizerischen Tessin.8 Innerhalb dieses Netzwerks starteten großangelegte Versuchsserien, die nachgerade faustische Dimensionen annahmen.9 Die Teams beschafften sich ein SARS-ähnliches Virus, das die Virologen von Wuhan gerade in einer Hufeisen-Fledermaus gefunden und isoliert hatten. Im nächsten Schritt kombinierten sie sein Genom mithilfe der reversen gentechnischen Verfahren mit dem Erbgut des originären SARS-CoV-Virus, das sie in Mäusen gezüchtet hatten. Diese Neuschöpfung (Chimäre) testeten sie anschließend in den Kulturen menschlicher Lungenzellen. Dabei bildeten sich Infektionsherde, und dies war der Beweis dafür, dass das Spike-Protein der Chimäre am menschlichen ACE-2-Rezeptor andockte und im Laborversuch (in vitro) mit den pathogenen Genomsträngen der SARS-CoV-Epidemie übereinstimmte. In einem letzten Schritt konnte dann auch die Replikation des Chimäre-Virus in den Lungen lebender Mäuse (in vivo) nachgewiesen werden.
Das waren beunruhigende Ergebnisse. Sie stellten unter Beweis, dass jederzeit mit dem Auftreten weiterer Varianten der SARS-Coronaviren zu rechnen war, die an den auf der Oberfläche der menschlichen Lungenzellen vorhandenen Rezeptoren anzudocken vermochten. Dies konnte nicht nur direkt oder über Zwischenwirte geschehen, wie dies die Epidemiologen inzwischen nachgewiesen hatten. Es war zudem möglich, dass die Coronaviren ›toxische‹ Spike-Proteine besaßen, die den Menschen ohne vorherige Mutation oder Rekombination zu infizieren vermochten. Infolgedessen schlugen die Forschungsgruppen 2016 in einer bilanzierenden Studie Alarm. Sie schrieben, der Nachweis der Fähigkeit der (inzwischen als WIV1-CoV bezeichneten) Chimäre, den ACE2-Rezeptor als Eintrittspforte zur menschlichen Lungenzelle zu nutzen, sei ein Warnsignal für jederzeit mögliche weitere Epidemien. Gleichzeitig ergebe sich aus der Synthese des Virus die Chance, sich gegen die bevorstehenden Ausbrüche zu wappnen.10 Damit nahmen die Autoren die uns schon bekannten Prophezeiungen der Biowissenschaftler vor einer von China ausgehenden Coronapandemie um drei Jahre vorweg.
Indessen war diese wissenschaftliche ›Vorwegnahme‹ weiterer Coronapandemien alles andere als harmlos. In der Retorte der Gentechniker war eine neue pathogene Variante entstanden, die die Fähigkeit hatte, eine weitere Epidemie auszulösen. Zwar arbeiteten die Teams in Labors, in denen die Abluft, das Abwasser und die Abfälle nach strengen Maßstäben gefiltert wurden, und sie hantierten in virusdichten Schutzanzügen. Trotzdem kam es in diesen weltweit expandierenden Hochsicherheitslabors immer wieder zu Unfällen und unvorhergesehenen Ereignissen, die das Entweichen von Erregern begünstigten. Nicht zufällig beschloss der US-Kongress Ende 2014 ein einjähriges Moratorium für die Forschung mit SARS- und MERS-Viren, das allerdings nicht verlängert wurde. Danach sind in Chapel Hill, Boston, Wuhan, Bellinzona und andernorts weitere Chimären synthetisiert und an Zellkulturen und Modellmäusen getestet worden.
Infolgedessen lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass SARS-CoV-2 ein ›Laborflüchtling‹ war, obwohl dies nach wie vor unwahrscheinlich erscheint. Auch wenn die Hypothese einer natürlichen zoonotischen Übertragung alle wesentlichen Argumente auf ihrer Seite hat, sollte die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Freisetzung einer Genomvariante des Virus aus den Forschungslabors von Wuhan, Bellinzona, Capel Hill und Boston weiter diskutiert werden.
Dessen ungeachtet steht für die meisten die Legitimität dieser Forschungsprojekte außer Frage: Es sollten leistungsfähige Impfstoffe entwickelt werden, um die endemisch gewordenen Corona-Infektionen unter Kontrolle zu bringen und gegen die befürchteten neuen Ausbrüche gewappnet zu sein.11 Die Ansprüche an die Vakzine waren gewaltig. Es ging nicht nur darum, potente Antikörper gegen ein möglichst breites Spektrum der Virusgenome zu entwickeln, vor Infektion und Übertragung zu schützen und überschießende Immunreaktion zu vermeiden. Bei den Coronaviren erforderte die Abdichtung der Oberfläche der Schleimhautzellen des Atemtrakts oberste Priorität, und dies war nur möglich, wenn vor allem spezielle Antikörper gebildet wurden.12
Diese und andere Ermahnungen wurden jedoch anfänglich kaum berücksichtigt. Da sich die Ergebnisse der genetischen Analyse des SARS-Virus nur allmählich konsolidierten, waren die Genabschnitte des Spike-Proteins, die sich besonders zur Bildung von Antikörpern eignen, noch unbekannt. Deshalb konzentrierten sich vor allem chinesische Forschergruppen auf die Entwicklung von Impfstoffen, die inaktivierte SARS-Viren als Plattform benutzten. Die Viren wurden mit Formalin und UV-Licht behandelt, zur Wirkungsverstärkung wurde das seit langem erprobte Adjuvans Aluminiumhydroxid zugesetzt. Trotz der enormen Risiken begann einem US-amerikanischen Übersichtsbericht zufolge schon 2004 die klinische Erprobung.13 Auch in anderen Ländern setzten Impfstoffteams auf dieses Verfahren. Die Resultate waren in allen Fällen negativ. Die mit den doppelt inaktivierten Impfstoffen traktierten Versuchstiere bildeten zwar rasch Antiköper aus. Es kam aber gleichzeitig zu überschießenden Immunreaktionen, die die schweren Verläufe des akuten Atemwegssyndroms kopierten. Aber auch die Produktion des Impfstoffs war gefährlich, denn die Arbeiterinnen und Arbeiter hantierten mit hochkonzentrierten Aufbereitungen der SARS-Viren, da die Bioreaktoren noch nicht in Gebrauch waren. Infolgedessen konnte bei unsachgemäßem Vorgehen jederzeit eine neue SARS-Pandemie ausgelöst werden.
Wie häufig in der Geschichte der Impfstoffentwicklung folgte der heroischen Anfangsphase eine Phase der Ernüchterung. Weltweit wurden jetzt die methodischen und technischen Voraussetzungen überprüft und verfeinert.14 Frettchen wurden für die Labore gezüchtet, denn bei ihnen löste die SARS-Infektion Symptome und Krankheitsverläufe aus, die den klinischen Beobachtungen am Menschen gleichkamen. Das Adjuvans Aluminiumhydroxid wurde mithilfe neuer Adsorptionstechniken modifiziert, weil es manchmal die impfbedingten Autoimmunreaktionen verstärkte, oder es wurde gänzlich durch weniger aggressive Zusatzstoffe ersetzt. Auch die Plattformen wurden verfeinert. Weltweit wurde alles herangezogen, was sich bislang im Rahmen der Gen- und Krebsforschung bei der Impfstoffentwicklung bewährt hatte: DNA-Rekombinanten, Proteinfragmente des Virus und die von den Gentechnikern synthetisierten Varianten des SARS-Virus. Alle diese Studien scheiterten, weil sie bei den Versuchstieren entweder überschießende Immunreaktionen auslösten oder nur eine schwache und kurzlebige Immunabwehr bewirkten. Trotz einiger bedeutender Innovationen war die Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs nach jahrelangen Anstrengungen in die Krise geraten.
Dann brachte die MERS-Pandemie einen neuerlichen Aufschwung. Bislang hatten die mit der Bekämpfung der Infektionskrankheiten befassten Behörden des öffentlichen Gesundheitswesens die Impfstoffentwicklung gegen die SARS-Viren koordiniert und finanziell unterstützt. Jetzt kamen weitere Akteure hinzu. Die Mediziner und Biowissenschaftler gründeten neue Forschungsnetzwerke, so etwa 2012 das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung. Zusätzlich brachten etwa zwei Dutzend Unternehmen der Bio- und Gentechnik ihr Knowhow ein.
2015/16 begann die dritte Etappe der Impfstoffentwicklung gegen die Coronaviren.15 Dabei setzte sich weltweit in Anlehnung an die Innovationen der Gentherapie die Tendenz durch, möglichst harmlose Viren als ›Genfähren‹ zu benutzen, die, ohne sich selbst zu vermehren, die inzwischen sequenzierten Genabschnitte zur Expression des Spike-Proteins der pathogenen Coronaviren in die menschlichen Zellen einbrachten und eine Immunreaktion auslösen. Versuche in diese Richtung hatte es schon in den Jahren zuvor gegeben, aber sie hatten keine Erfolge gezeitigt. Beispielsweise hatten Mediziner der University of North Carolina die abgeschwächten Erreger der viralen Mundhöhlenentzündung (Stomatitis) als Genfähre benutzt, aber keine länger anhaltende Immunität gegen das SARS-Virus erreicht.16 Doch nun kannte die Phantasie der Forscherinnen und Forscher keine Grenzen mehr. Eine französische Gruppe benutzte den Masern-Impfstoff als Vektor zur Expression des modifizierten Spike-Proteins des SARS-Virus.17 Ein Team US-amerikanischer und australischer Gentechnikfirmen passte das rekombinante Spike-Protein in ein harmloses Insektenvirus ein und hoffte durch den Zusatz von Delta-Inulin (Advax) eine effiziente Lösung gefunden zu haben, auf deren Basis die Impfstoffproduktion in kürzester Zeit hochgefahren werden konnte.18
Dies sind nur zwei Beispiele von vielen. Sie scheiterten in den meisten Fällen schon in der Laborphase. Nur wenige erreichten die erste Etappe des klinischen Versuchsstadiums. Zu diesen Ausnahmen gehörte die Studie einer Forschergruppe der University of Oxford, die ein bei Schimpansen endemisches Adenovirus als Vektor zur Replikation des Spike-Proteins des MERS-Virus benutzte. Die Phase I der klinischen Erprobung erbrachte erstmalig eine Immunreaktion, die bei drei Vierteln der Probanden 180 Tage lang anhielt.19 Ein ebenfalls zur Vorbeugung gegen die MERS-Infektion gestarteter Großversuch des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung, der das Virus der Pocken-Vakzine benutzte, wirkte dagegen weniger nachhaltig.20 Die hier skizzierten klinischen Studien wurden bis zur Jahreswende 2019/20 fortgesetzt. Dann setzte die SARS-CoV-2-Pandemie neue Prioritäten.21