6.VOM ATOMKRIEGSSZENARIO ZUR PANDEMIEBUNG

Die Stellungnahme der Schutzkommission des Bundesinnenministeriums zum Nationalen Pandemieplan war meines Wissens das erste Dokument, in dem Berater einer deutschen Spitzenbehörde die Anpassung der epidemiologischen Planspiele an die Influenzakatastrophe von 1918–1920 forderten. Es genügte nach ihrer Auffassung nicht, sich an den Fall- und Todeszahlen der mittelschweren Pandemien der vergangenen Jahrzehnte zu orientieren. Man müsse mit dem Auftreten weitaus gefährlicherer Viren rechnen, denn für »die Abschätzung eines Szenarios nach Art der ›Spanischen Grippe‹« seien »diese Zahlen zu optimistisch«.1 Unter Zugrundelegung der damaligen Mortalitätsrate würde dies bei einer angenommenen Erkrankung von 50 % der Bevölkerung »maximal über eine Million Todesopfer in Deutschland bedeuten«. Diesem jederzeit möglichen Ereignis müsse die Pandemieplanung angepasst werden, und dies habe weitreichende Konsequenzen für den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz. Darüber hinaus sei es dringlich, auch die gesamtgesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen abzuschätzen, denn die Pandemie und die zu ihrer Eindämmung erforderlichen Maßnahmen würden zu gewaltigen »Kollateralschäden« führen und die gesamte Infrastruktur gefährden.2

Derartige Kassandrarufe waren nicht neu. Worst-Case-Szenarien mit Millionen von Toten waren bislang auf einem gänzlich anderen Terrain durchgespielt worden. Seit der Zuspitzung des Kalten Kriegs zu Beginn der 1960er Jahre hatten die Kommandostäbe der NATO (und zweifellos auch des Warschauer Pakts) zusammen mit den beteiligten nationalen Regierungen ›Herbstübungen‹ (Fall Exercises = FALLEX) durchgeführt, um die Auswirkungen eines Atomkriegs auf ihre militärische Infrastruktur und die Bevölkerung des europäischen Kriegsschauplatzes abschätzen zu können.3 Dabei war es aufgrund der strategischen Vorgaben (›Massive Retaliation‹) binnen kürzester Frist zu apokalyptischen Szenarien gekommen: Bei FALLEX 62 verloren allein in der BRD und Großbritannien 10–15 Millionen Menschen ihr Leben, und das Gesundheitswesen, die Lebensmittelversorgung und die Kommunikationsstrukturen waren zusammengebrochen.

Von FALLEX zu LÜKEX: Die Entwicklung in Deutschland

Seit Beginn der 1970er Jahre wurde FALLEX durch die ›Gesamtverteidigungsübung‹ WINTEX-CIMEX ersetzt, um der mittlerweile flexibler gewordenen NATO-Konzeption gerecht zu werden, wonach Atomwaffen erst nach dem Überschreiten einer gewissen Eskalationsstufe eingesetzt werden sollten. Aber auch die Gewichtung zwischen den Militärs und den Politikern hatte sich mittlerweile verschoben, denn nach der Verabschiedung einer umfassenden Ausnahmegesetzgebung für den Kriegsfall (›Notstandsgesetze‹) gewannen politische Interventionen an Gewicht. Nach diesen Plänen würden nur die Repräsentanten der politischen Klasse und der kritischen Infrastruktur in ihren zentralen und regionalen Bunkeranlagen überleben, während die breite Masse der Bevölkerung den Atomschlägen weitgehend schutzlos ausgeliefert blieb. Zwar wurden auch Evakuierungspläne durchgespielt, aber sie erwiesen sich aufgrund des Zusammenbruchs der Infrastruktur als illusorisch und ermöglichten nur einer Minderheit der Bevölkerung das Überleben.4

Diese als ›Zivilverteidigung‹ kaschierte apokalyptische Perspektive ließ sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten. Vor allem die politischen Repräsentanten der BRD waren von Stabsübung zu Stabsübung mit Millionen von Toten konfrontiert, weil nach dem Eintreten einer gewissen Eskalationsstufe immer der Einsatz von Atomwaffen in der Nähe großstädtischer Agglomerationen simuliert wurde, sodass die in den Bunkern übenden zivilen Stabsmitglieder alle zwei Jahre den fiktiven Untergang ihrer eigenen Familien miterlebten. Das war selbst für hartgesottene Politiker und Ministerialbeamte zu viel. Seit Mitte der 1980er Jahre verließen mehrere regionale Regierungsvertreter die Übungen kurz vor Beginn dieser Eskalationsstufe. 1989 folgte ein aus dem deutschen Kanzleramt in den Regierungsbunker im Ahrtal delegierter Staatssekretär mit Zustimmung seines Vorgesetzten diesem Beispiel.5 Einige Monate danach kam das Ende der bisherigen Ost-West-Konfrontation. WINTEX-CIMEX war obsolet geworden, und die zivilen Mitplaner der nuklearen Vernichtung mussten sich gemeinsam mit den Administratoren der ›Zivilverteidigung‹ nach neuen Betätigungsfeldern umsehen.

Bei den nun einsetzenden Bemühungen um die Umwidmung und Neuorientierung ihrer Planstellen erwiesen sie sich als erstaunlich flexibel.6 Um sich an die veränderten Zeitläufte anzupassen, mussten sie erstens den ›zivilen Bevölkerungsschutz‹ von den bisherigen militärischen Prioritäten abkoppeln und die allfälligen Krisenlagen der Zivilgesellschaft in den Blick nehmen. Hier offerierten sich vielfältige Ansatzpunkte, die seit den 1980er Jahren bedrohliche Ausmaße angenommen hatten: Naturkatastrophen, Kernschmelzen in den Atomkraftwerken, Terroranschläge mit chemischen und biologischen Waffen und – neuartige Pandemien. Zweitens musste ein neuer nationaler Rahmen geschaffen werden, weil die bislang durch die regionalen Militärblöcke vorgegebenen Rahmenbedingungen entfallen waren. Und drittens schien es geboten, für beides eine neue juristische Grundlage zu schaffen, die die bisherige Notstandsgesetzgebung aus ihrer Fixierung auf den ›Verteidigungsfall‹ herauslöste.

Tatsächlich gelang es den Akteuren des ›Zivilen Bevölkerungsschutzes‹ im Verlauf der 1990er Jahre, sich neu zu erfinden.7 Die Behörden des Zivil- und Bevölkerungsschutzes waren verschlankt und unter Berücksichtigung der gewandelten Aufgabenfelder in einem dem Innenministerium unterstellten ›Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe‹ (BBK) zusammengefasst worden. In diese Spitzenbehörde wurde auch die in Neuenahr-Ahrweiler in der Nähe des zentralen Regierungsbunkers ansässige ›Akademie für Zivilverteidigung‹ integriert, die seit Beginn der 1970er Jahre die zivile Komponente der WINTEX-CIMEX-Szenarien mit vorbereitet hatte.8 Die Administratoren dieser mittlerweile als ›Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz‹ firmierenden Institution kamen 2002 auf die Idee, die WINTEX-Übungen in neuem Gewand wieder aufleben zu lassen. In bewusster Anlehnung an ihren Vorgänger sollten sie unter der Kürzel LÜKEX (Länderübergreifende Krisenmanagement Exercises) aus der Taufe gehoben werden. Das Ziel war, Spitzenvertreter der Bundes- und Landesregierungen, der Exekutive, der Rettungsdienste und der Wirtschaft durch simulierte Katastrophenszenarien auf die Bewältigung außergewöhnlicher Krisenkonstellationen vorzubereiten. Die erste Stabsübung galt 2004 dem Krisenmanagement einer winterlichen Extremwetterlage mit großflächigem Stromausfall. Ein Jahr später bereiteten sich die Krisenstäbe auf die von Deutschland ausgetragene Fußballweltmeisterschaft vor, wobei sie die unterschiedlichsten Katastrophenszenarien (Terroranschläge, eingeschleppte Seuchen und Massenunfälle) durchspielten.

Die Pandemie-Übungen 2007 und 2012

Im November 2007 stand dann der erste fiktive Pandemiefall auf der Agenda.9 Ein Krisenstab des Bundesinnen- und Bundesgesundheitsministeriums trat zusammen. Gemeinsam mit sieben nachgeordneten Länderressorts, mehreren Hilfsorganisationen und 50 Großunternehmen des Energie-, Transport-, Banken- und Handelssektors stellte er sich den Anforderungen eines simulierten Pandemiegeschehens, das das Robert Koch-Institut beisteuerte. Es gab eine Influenza-Epidemie vor, die dem Szenario zufolge von Südostasien ausging, sich innerhalb von zwei Monaten weltweit ausbreitete und in zwei Wellen verlief. Die fiktiven Grundannahmen waren dem zwei Jahre zuvor erarbeiteten Nationalen Pandemieplan entnommen, sie entsprachen also noch nicht den Maximalforderungen der ›Schutzkommission‹. Es handelte sich vielmehr um eine mittelschwere Influenzapandemie. Innerhalb der auf acht Wochen terminierten Zeitspanne sollten 30 % der Bevölkerung (etwa 27 Millionen Menschen) erkranken. Knapp die Hälfte – 13 Millionen – würde eine Arztpraxis aufsuchen, 370.000 Patientinnen und Patienten sollten im Krankenhaus behandelt werden, und 102.000 Personen würden an den Folgen der Infektion sterben. Anhand dieser Vorgaben sollte geprüft werden, ob das Gesundheitssystem, die Verwaltung und die zentralen Versorgungsbereiche diesem ›mittleren‹ Pandemieszenario gewachsen waren. Diese Frage wurde an drei für die Pandemiedynamik entscheidenden Schnittstellen geklärt. Im fiktiven Anfangsstadium wurden die verfügbaren Präventions- und Vorbereitungsmaßnahmen durchgespielt. Der erste Tag der von etwa 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern getragenen Stabsübung fiel in die Akutphase, eine Woche bevor die Pandemie ihren Gipfelpunkt erreichte. Der zweite Übungstag war dagegen an das Ende der ersten Pandemiewelle verlegt; er diente der Bestandsaufnahme der gesundheitspolitischen und infrastrukturellen Folgen der bisherigen Gegenmaßnahmen sowie der Vorbereitung der zweiten Pandemiewelle.

Der Volltext des Abschlussberichts von ›LÜKEX 2007‹ wurde bis heute unter Verschluss gehalten. Gleichwohl lassen die späteren Indiskretionen einiger Übungsteilnehmer einige Rückschlüsse zu.10 Dem Krisenstab und der alsbald hinzugezogenen Interministeriellen Bund-Länder-Kommission gelang es zu keinem Zeitpunkt, eine angemessene Beziehung zwischen der Risikoabschätzung und den zu ergreifenden Gegenmaßnahmen herzustellen. In einigen Bundesländern war der Verwaltungsapparat nicht in der Lage, die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. In allen involvierten Bereichen – Gesundheitswesen, Sicherheitsbehörden, Versorgungsbetriebe und Einzelhandel – kam es zu scherwiegenden Personalausfällen, sodass die Versorgung mit Arzneimitteln und den Gütern des täglichen Bedarfs ins Stocken geriet. In einigen Landkreisen brach die medizinische Grundversorgung zusammen. Aufgrund der extremen Belastung der klinischen Behandlungseinrichtungen trat ein eklatanter Mangel an Lagerbeständen und Notfallvorräten für Arzneimittel, Schutzausrüstungen und medizinisches Gerät ein. Sicher waren einige Engpässe auf die unzureichenden Vorgaben des RKI zurückzuführen, so etwa die unrealistische Annahme einer gleichmäßig hohen Erkrankungsziffer bei allen Alters- und Berufsgruppen. Trotzdem war die Bilanz alarmierend. Über alle diese Befunde schwieg sich die öffentlich zugängliche Kurzfassung des Auswertungsberichts jedoch aus.11 Die Verfasser waren stattdessen voll des Lobs über das erfolgreich koordinierte Krisenmanagement, die gelungene Einbeziehung der Medien zur Kontrolle und Steuerung der Öffentlichkeit und die erstmalige »Einbindung der privaten Betreiber kritischer Infrastrukturen«, die noch weiter ausgebaut werden müsse.12 Das Hauptziel von ›LÜKEX 2007‹ war zweifellos die medienpolitische Optimierung der sozialen Kontrolle im Pandemiefall, weshalb vor allem die herausragende Bedeutung der mit den Leitmedien »abgestimmten Informationspolitik und Kommunikationsstrategie« in den Fokus rückte.13 Zusätzlich konnten unter Verweis auf diese als besonders ertragreich bewertete Stabsübung die gesetzlichen Grundlagen zur institutionellen Verankerung des erneuerten Zivilschutzes abgeschlossen werden. Zwei Jahre später novellierte der Bundestag ein 1997 verabschiedetes Gesetz über Zivilschutz und Katastrophenhilfe des Bundes.14 Zusammen mit dem im Jahr 2000 in Kraft getretenen Infektionsschutzgesetz gestattet es seither in seiner konsolidierten Version die umfassende Kontrolle und Steuerung der Bevölkerung im Pandemie- und Katastrophenfall. Demgegenüber erschien die Beseitigung der manifest gewordenen Defizite des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung der Bevölkerung im Pandemiefall nachrangig.

Fünf Jahre später fand eine zweite Pandemieübung statt.15 Die Federführung lag diesmal beim Robert Koch-Institut, das das Szenario gemeinsam mit mehreren Bundesbehörden erarbeitete und anschließend durchspielte. Dabei gab es seine bisherige Zurückhaltung auf und simulierte ein Schreckensszenario, das sogar die Maximalforderungen der ›Schutzkommission‹ des Bundesinnenministers übertraf. Die Gründe, die zu dieser folgenreichen Weichenstellung geführt haben, werden erst spätere Historiker aus den Aktenüberlieferungen rekonstruieren können. Wie dem auch sei: Das Szenario hatte den Charakter einer Atomkriegssübung aus der Ära des Kalten Kriegs.

Den Vorgaben des als »Risikoanalyse« bezeichneten Planspiels zufolge war in Südostasien ein neuer Krankheitserreger aufgetaucht, ein ›Modi-SARS‹-Virus, dessen Eigenschaften weitgehend mit dem zehn Jahre zuvor identifizierten SARS-Virus übereinstimmten. Er war hoch infektiös: Jeder Infizierte steckte durchschnittlich drei weitere Menschen an, bei entsprechenden Gegenmaßnahmen halbierte sich diese Reproduktionszahl annähernd.16 Zudem war der Erreger gefährlich, denn 93 % aller Betroffenen erkrankten den Vorgaben zufolge mäßig bis schwer. Nur bei 5 % der Betroffenen gab es milde Verläufe, und lediglich 2 % blieben symptomlos. Die durchschnittliche Inkubationszeit betrug drei Tage. Sofort bei Auftreten der ersten Symptome waren die Infizierten ansteckend. Eine kausale Prophylaxe oder Therapie waren nicht möglich, es gab keine wirksamen Medikamente und Impfstoffe. Lediglich die an eine Influenza gemahnenden Krankheitserscheinungen, die sich häufig zu schweren Komplikationen (atypische Pneumonie und schweres akutes Atemwegssyndrom) steigerten, konnten symptomatisch behandelt werden.

Auch die Ausbreitung der Pandemie war detailliert vorgegeben. Es wurde angenommen, dass kurz vor der ersten Warnung der WHO zehn Erkrankte unerkannt mit dem Flugzeug aus Asien in die BRD einreisten, von denen zwei Indexpatienten aufgrund ihrer sofort aufgenommenen intensiven Kontakte unabhängig voneinander in Nord- und Süddeutschland die Entstehung der ersten Infektionsherde auslösten. Davon ausgehend kam es zu einer derart raschen Ausbreitung, dass die sofort eingeleiteten Eindämmungsversuche scheiterten. Die flächendeckende Ausbreitung war nicht mehr aufzuhalten.

Mit der Annahme einer rasanten und umfassenden Ausbreitung der Infektion ließen die Autoren des Drehbuchs die realen Vorbilder hinter sich. Sie konstruierten den weiteren Verlauf unter Zuhilfenahme einer spezifischen biomathematischen Modellrechnung.17 Diesem Modell lag die Annahme zugrunde, dass das ›Modi-SARS‹-Virus alle Altersklassen der Bevölkerung entsprechend der vorgegebenen Reproduktionszahl (1,6) gleichmäßig befiel und sich entsprechend der jeweiligen Bevölkerungsdichte auch gleichmäßig ausbreitete. Somit waren dem Drehbuch zufolge alle Generationen und alle Regionen dem Pandemiegeschehen gleichermaßen ausgeliefert (die Ballungsgebiete allerdings erheblich stärker als die ländlichen Regionen). Nur bei der Annahme der Sterblichkeit gingen die Epidemiologen des Robert Koch-Instituts von einer differenzierten Altersverteilung aus: Die Letalitätsrate sollte durchschnittlich 10 % betragen und von 1 % bei den Kindern bis zu 50 % bei den über 65-Jährigen ansteigen.

Mit dieser verschlimmerten Version der SARS-Pandemie von 2002/2003 gaben sich die Drehbuchautoren jedoch nicht zufrieden. Sie simulierten mit den Ausgangsdaten vielmehr einen Pandemieverlauf, den sie auf drei Wellen und drei Jahre verteilten. Dabei sollte es während der Höhepunkte der drei Wellen zu dramatischen Zuspitzungen kommen. Für den 300. Tag gaben sie vor, dass insgesamt 6 Millionen Menschen akut erkrankt seien, und zwar 4,1 Millionen von ihnen so schwer, dass sie eine Krankenhausbehandlung benötigten, wobei von diesen wiederum 1,1 Millionen auf Intensivstationen verlegt werden müssten.18 Für den ›Peak‹ der zweiten Welle (520. Tag) nahmen sie hingegen 3 Millionen akut Erkrankte, 2 Millionen zu hospitalisierende und 0,6 Millionen intensivpflichtige Patientinnen und Patienten an; und selbst am 880. Tag, dem Gipfelpunkt der dritten Welle, würden nochmals 2,3 Millionen Menschen erkranken, von denen 1,5 Millionen bzw. 0,4 Millionen Krankenhaus- bzw. Intensivbehandlung benötigten. Diese düsteren Zahlen wurden wie die oben skizzierten Grundannahmen damit begründet, dass es auch bei den inzwischen Genesenen aufgrund einer Mutation des Erregers zu Re-Infektionen kommen und dass erst am Ende des dritten Pandemiejahrs ein leistungsfähiger Impfstoff zur Verfügung stehen werde. Insgesamt würden sich dieser apokalyptischen Blaupause zufolge so gut wie alle (78 Millionen) BRD-Bewohner mit dem ›Modi-SARS‹-Erreger infizieren. Es sei »mit mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge der Infektion zu rechnen,« dabei seien jedoch die zusätzlichen Sterbefälle der Infizierten, anderweitig Erkrankten und Pflegebedürftigen noch nicht berücksichtigt, die aufgrund »der Überlastung des medizinischen und des Pflegebereichs keine adäquate medizinische Versorgung bzw. Pflege mehr erhalten können«.19 Die RKI-Modellrechner gingen somit implizit von mindestens 10 Millionen Pandemietoten aus, wahrscheinlich war die Zahl der am Ende der behördlichen Katastrophenübung geschätzten Todesopfer noch höher. Infolgedessen ließ das Drehbuch dieser »Risikoanalyse« nicht nur die von der Schutzkommission geforderte Anpassung der bisherigen Szenarien an die Influenzapandemie von 1918–1920 weit hinter sich. Auch die Horrorszenarien des nuklearen Armageddon geisterten wieder durch die Amtsstuben und Informationssysteme der Bundesbehörden.

Soweit die epidemiologischen Vorgaben. Die Infektiosität und Pathogenität des fiktiven Erregers war derart drastisch, dass er die Kapazitäten auch hoch entwickelter Gesundheitssysteme hoffnungslos überfordern musste. Die Experten konnten dies nicht übersehen haben.20. Fünf Jahre nach der LÜKEX-Übung stellten sie sich dann die Aufgabe, die Auswirkungen einer besonders gravierenden Pandemie auf das Gesundheitswesen, die lebenswichtige Infrastruktur, auf Medien und Politik sowie auf die Volkswirtschaft abzuschätzen. Dabei kamen sie zu teilweise erstaunlichen Ergebnissen. Ihr Grundtenor war: Das Gesundheitswesen wird zwar zusammenbrechen, und auch die Volkswirtschaft dürfte erhebliche Einbußen erleiden. Aber der Kern der gesellschaftlichen Reproduktion, ihre ›Kritische Infrastruktur‹, würde intakt bleiben.

Im Bereich der Gesundheitsversorgung sahen die Planspieler durchgängig schwarz: »Die medizinische Versorgung bricht bundesweit zusammen.«21 Dem erhöhten Personalbedarf stünden massive Ausfälle gegenüber, da die Pandemie auch auf die Akteure der Gesundheitsberufe übergreifen würde. Die Industrie wäre nicht in der Lage, die sprunghaft gesteigerte Nachfrage nach Arzneimitteln, Medizinprodukten, Schutzausrüstungen und Desinfektionsmitteln zu befriedigen. Als besonders folgenreich wurden die begrenzten Bettenkapazitäten der Krankenhäuser eingeschätzt. Die bundesweit verfügbaren 500.000 Krankenhausbetten waren überwiegend mit anderen Kranken belegt. Ihre Zahl konnte dem Szenario zufolge durch provisorische Maßnahmen, wie etwa die Einrichtung von »Notlazaretten«, erhöht werden. Trotzdem wäre es unmöglich, die überwiegende Mehrheit der unter Normalbedingungen stationär zu versorgenden vier Millionen Patientinnen und Patienten der ersten Pandemiewelle adäquat zu versorgen. Infolgedessen wurden dem Szenario zufolge umfassende »Sichtungsmaßnahmen«22 nötig, und es sei deshalb geboten, schon jetzt festzulegen, wer unter diesen Bedingungen zur stationären Behandlung angenommen werden solle und wer nicht.23

Bei der Abschätzung der gesundheitspolitischen Folgen waren die Experten der teilnehmenden Bundesbehörden hingegen erstaunlich optimistisch. Sie gingen davon aus, dass gleich zu Beginn des pandemischen Geschehens auf allen Ebenen der Verwaltung Krisenstäbe zusammengerufen und die Leitung und Koordination der Gegenmaßnahmen übernehmen würden.24 Sie würden unverzüglich damit beginnen, die Erkrankten zu isolieren, die Infektionsketten aufzudecken und die ermittelten gesunden Kontaktpersonen unter Quarantäne zu stellen. Dank der Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes könnten die Amtsärzte dabei entschieden durchgreifen und persönliche Grundrechte wie etwa das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, auf Freiheit der Person sowie die Versammlungsfreiheit aufheben. Darüber hinaus könne der Gesundheitsminister auf dem Verordnungsweg eine allgemeine Impfpflicht und andere Vorbeugungsmaßnahmen anordnen, wodurch das Recht auf körperliche Unversehrtheit eingeschränkt werde. An diesen Maßnahmen würden die Krisenstäbe auch im Fall einer unkontrollierbar gewordenen Ausbreitung der Epidemie festhalten. Darüber hinaus verfügten sie über vielfältige Möglichkeiten, um durch den Rückgriff auf entsprechende Sonderklauseln des Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsrechts die Kernbereiche der Infrastruktur aufrechtzuerhalten.

Ausgehend von diesen juristischen Prämissen überprüften die Drehbuchautoren sodann die Auswirkungen der Pandemie auf die Schlüsselsektoren der gesellschaftlichen Reproduktion, die mit oberster Priorität aufrechterhalten werden sollten. Da während der drei Pandemiewellen jeweils bis zu 8 % der Bevölkerung gleichzeitig erkranken und insgesamt etwa vier Millionen der aktiven Bevölkerung versterben würden, erschienen in einzelnen Bereichen extreme Engpässe und teilweise auch Ausfälle unvermeidlich. Diese Feststellung bezog sich vor allem auf das Transportwesen (Fluglinien und Flughäfen, Bahn und Öffentlicher Nahverkehr) und den Logistiksektor, dessen Engpässe aus seiner Just-in-time-Abhängigkeit von den internationalen Lieferketten resultierten und die laufende Produktion beeinträchtigten. Dagegen schien es uneingeschränkt möglich, die Wasser-, Energie- und Elektrizitätsversorgung aufrecht zu erhalten. Dieser Befund wurde auch für die Telekommunikation, die Informationstechnik, das Banken- und Finanzsystem sowie die staatlichen, parlamentarischen und administrativen Bereiche erhoben. Allerdings konnten die Personalausfälle in der Ernährungswirtschaft und im Lebensmitteleinzelhandel zu Einschränkungen der Individualversorgung führen, die Versorgung der geschlossenen Institutionen (Krankenhäuser, Altenheime usw.) galt jedoch nicht als beeinträchtigt.

Auf die Frage, inwieweit die Pandemiefolgen und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen die sozioökonomische Infrastruktur beeinträchtigen würden, gingen die Experten nur kursorisch ein. Sicher war ihnen bewusst, dass allein der in Betracht gezogene plötzliche Tod von vier Millionen Erwerbstätigen eine gewaltige Schrumpfung der Wirtschaftsleistung nach sich ziehen würde. Auch die Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte (sinkende Steuereinnahmen und steigende Ausgaben zur Stabilisierung der gesundheitlichen Situation) ließen sie nicht ganz unerörtert, genauso die Auswirkung der Stockungen in den Lieferketten auf die Wirtschaft. Letztlich waren diese Aspekte jedoch für sie nachrangig. Ihnen genügte der Nachweis, dass die Kernbereiche der Infrastruktur auch bei einer katastrophalen Ausweitung des Pandemiegeschehens und des darauf folgenden Zusammenbruchs des Gesundheitswesens aufrechterhalten werden konnten.

Nur auf den ersten Blick wirkt dieses Drehbuch infolge seiner konzeptionellen Anbindung an einige Phänomene der SARS-Pandemie plausibel. Dieser Eindruck verflüchtigt sich jedoch beim genaueren Hinsehen. Es bildete in keiner Weise die komplexe Dynamik ab, die eine typische Pandemie auszeichnet, so etwa die Möglichkeit, dass sich die anfängliche Annahme eines hochinfektiösen und extrem pathogenen Erregers als Fehlalarm herausstellen oder sich im weiteren Verlauf relativieren könnte. Auch die gleichförmig schwere Erkrankung aller Altersgruppen der Bevölkerung war angesichts der vorgegebenen unterschiedlichen Sterblichkeit eine unrealistische Prämisse. Genauso wirklichkeitsfremd war die Unterstellung einer einheitlichen geografischen Ausbreitung, obwohl die ausgesprochen sporadische und von Infektionsherden (Clustern) ausgehende Ausbreitung der Coronaviren seit einem Jahrzehnt bekannt war. Nicht nachvollziehbar war aber auch die Hypothese eines fast vollständigen Befalls der BRD-Bevölkerung (78 Millionen Menschen), obwohl allgemein bekannt war, dass bei einer Infektionshäufigkeit von 60–70 % eine kollektive Immunität (›Herdenimmunität‹) auftritt, sodass die Pandemie bei spätestens 48 bis 56 Millionen Infizierten abklingen würde. Dies schloss das Auftreten einer zweiten und dritten Welle aus; eher würde die Infektion in den folgenden Jahren immer wieder sporadisch auftreten, ohne die Bevölkerung und das Gesundheitssystem noch ernsthaft zu belasten.

Das größte Dilemma des Szenarios war schließlich die aus diesen Fehlern resultierende Fixierung auf ein Worst-Case-Geschehen von nachgerade eschatologischen Dimensionen. Dadurch wurden alternative Verläufe mit moderaten oder mittleren Schweregraden ausgeschlossen, was die Entstehung folgenreicher Leerstellen bei der Vorbereitung auf realistischere Varianten einer Coronapandemie nach sich ziehen musste. Infolgedessen verloren die Akteure an den Schaltstellen der behördlichen Pandemievorsorge ihre Bodenhaftung.

Pandemien sind definitionsgemäß immer globale Ereignisse. In der Risikoanalyse blieben sie jedoch ausgeklammert.25 Wenn in einem hoch industrialisierten und mit einem modernen Gesundheitssystem ausgestatteten Land 10% der Bevölkerung einem Virus zum Opfer fallen, dann sind gleichzeitig mindestens 20 % der Weltbevölkerung zum Untergang verurteilt. Im Jahr 2012 wären dies etwa 1,4 Milliarden Menschen gewesen. Auch diese Rückwirkungen auf das deutsche Krisenszenario blieben unerwähnt – man denke nur an den Kollaps der Weltwirtschaft, die Hungerkatastrophen und die daraufhin einsetzende Massenmigration der Überlebenden in die weniger stark heimgesuchten Regionen.

Die Defizite der Risikoanalyse verleiteten auch zu einer fehlerhaften Beurteilung der Gegenmaßnahmen und Folgeschäden. Nicht nur die Gesundheitsversorgung würde zusammenbrechen. Wenn innerhalb von drei Jahren ein Zehntel der BRD-Bevölkerung an den Folgen einer Pandemie zugrundgeht, kann auch die lebenswichtige Infrastruktur nicht mehr durch die Anwendung der vergleichsweise moderaten Ausnahmebestimmungen des Infektionsschutzgesetzes sowie des Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsrechts aufrechterhalten werden. Dem Szenario zufolge erkranken auch die aktiven Gesellschaftsschichten der Bevölkerung zu 93 % derart gravierend, dass sie mindestens zwei Wochen lang ausfallen und zu erheblichen Teilen klinisch behandelt werden müssen; zudem würden vier Millionen Berufstätige im Verlauf der drei Pandemiewellen versterben. Dies sind jedoch nur die unmittelbaren Pandemiefolgen. Darüber hinaus kann und wird niemand erwarten, dass die in der kritischen Infrastruktur Beschäftigten noch zur Arbeit gehen werden, wenn ihre Angehörigen und Freunde überwiegend deshalb zugrunde gehen, weil für sie keine Krankenhausbetten mehr verfügbar sind. Mit Sicherheit müssten sie mit Polizeigewalt und massiven Sanktionsdrohungen dazu gezwungen oder gegen ihren Willen kaserniert werden.

Ich halte es für zwecklos, die tatsächlich zu erwartenden Folgen eines solchen Szenarios weiter auszumalen. Es erscheint mir in seiner Gesamtanlage nicht nur unglaubwürdig, sondern auch verantwortungslos. Als ich es im März 2020 kennenlernte, hielt ich es zunächst für eine raffinierte Fälschung, die sich als Bundestagsdrucksache getarnt hatte. Erst als ich es auf der Webseite des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe wiederfand, war ich eines Besseren belehrt. Und nun stellte sich die Frage, wieso es sich die Bundesregierung leisten konnte, eine Ausarbeitung, in der u. a. der Tod der Hälfte aller über 65-Jährigen ›modelliert‹ wurde, dem Parlament zur »Unterrichtung« über Risikoanalysen im Bevölkerungsschutz vorzulegen. Die Absichten, die sie damit verfolgte, sind unklar. Sie sind genauso wenig wie die Grundannahmen dieses zentralbehördlichen ›Krisenmanagements‹ kritisch hinterfragt worden.

Klar ist nur eines: Konsequenzen wurden aus der Risikoanalyse nicht gezogen, allemal nicht im Gesundheitswesen, und dabei blieb es in den folgenden Jahren. Als beispielsweise das Bundesinnenministerium 2016 seine ›Konzeption Zivile Verteidigung‹ publik machte, thematisierte es auch die geplanten Vorkehrungen im Bereich des Gesundheits- und Krankenhauswesens.26 Diesen Verlautbarungen zufolge geschah seither einiges, um sich auf Massenunfälle und Großkatastrophen vorzubereiten. Der Aufbau eines Informationssystems wurde etabliert, um Daten über klinische Auslastungsreserven zu gewinnen und davon ausgehend eine Krankenhausalarm- und -einsatzplanung vorzubereiten.27 Zusätzlich wurden auf Bundesebene Depots zur Bevorratung von Sanitätsmaterial für den ›Großschadensfall‹ eingerichtet. Aus den Planspielen zur Bekämpfung von Pandemien wurden hingegen keine Konsequenzen gezogen. Es gab keine Bevorratung von Schutzmasken, Handschuhen, Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Auch an die dafür erforderlichen Reservekapazitäten an Vorprodukten (beispielsweise Äthanol) und industriellen Fertigungsanlagen dachte niemand, und bei den medizinischen Geräten zur Behandlung schwerer Atemsyndrome sah es nicht anders aus. Sogar bei der Bevorratung von Medikamenten, die im Gegensatz zu den zweifelhaften antiviralen Wirkstoffen von erheblichem Belang sein können, geschah nichts. Die gesundheitspolitischen Krisenplaner wagten es nicht, die auf zwei Wochen beschränkten und im Just-in-time-Verfahren getakteten Verteilungskreisläufe der Pharmagroßhändler und Apotheken anzutasten. Auch der seit Beginn des neuen Millenniums aus Kostengründen forcierte Abbau der Krankenhauskapazitäten, der ihren Planungen diametral zuwiderlief,28 war für sie kein Thema.

Evakuierungspläne in den Vereinigten Staaten von Amerika

Auch in anderen Ländern der NATO und des Warschauer Pakts haben die Katastrophenplanungen ähnliche Wandlungen vom Atomkriegsszenario zur Pandemie-Übung durchgemacht. Für sie alle soll im Folgenden das Fallbeispiel USA stehen, denn hier erreichten beide Varianten – die Vorwegnahme eines ›nuklearen Winters‹ und die Simulation der globalen Ausbreitung eines neu aufgetretenen Coronavirus kurz vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie – außergewöhnliche Dimensionen.

Auch in den USA standen bis Ende der 1980er Jahre die Vorkehrungen für einen nuklearen dritten Weltkrieg im Zentrum des Zivilschutzes. Das war nicht erstaunlich, denn seit den ersten Atombombentests der UdSSR waren auch die Vereinigten Staaten zu einem ›Frontstaat‹ geworden. Die Truman-Administration reaktivierte daraufhin die während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Organisationen der ›Zivilverteidigung‹.29 In den Jahren 1950/51 wurden sie neu strukturiert und zu einer Civil Defense Administration (CDA) zusammengefasst. Ein Planungsstab des Nationalen Sicherheitsrats legte ihre Aufgaben in einer strategischen Blaupause fest, die die zivile Komponente der US-amerikanischen Atomkriegsplanungen bis Ende der 1980er Jahre geprägt hat.30 Dabei standen die Vorbereitung (›education‹) der Zivilbevölkerung auf einen nuklearen Fallout, der Bau von Behelfsbunkern und die Evakuierung der Bevölkerung aus den großstädtischen Agglomerationen im Vordergrund. Vor allem die Aufklärungsprogramme wurden in großem Stil aufgezogen.

Alle diese Vorkehrungen waren mit Planspielen und Übungsszenarien verknüpft, in denen ihre möglichen Effekte und Verbesserungsmöglichkeiten getestet wurden. Dabei war immer viel Zweckoptimismus im Spiel. Beispielsweise wurde errechnet, dass allein durch die massenhaften Aufklärungskampagnen mindestens 27 Millionen Menschenleben gerettet werden könnten.

Besonders brisant wurde es verständlicherweise bei der Konzeptualisierung und Evaluierung der Evakuierungspläne. Anfänglich lehnte die CDA sie ab. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass einige Bundesstaaten und Städte derartige Planungen in Angriff nahmen. Nachdem die Stadtverwaltung von Portland im Bundesstaat Oregon 1955 die Räumung des Stadtzentrums innerhalb von 19 Minuten angeblich erfolgreich durchexerziert hatte, kam es jedoch zum Umdenken. Nun wurde die Evakuierung aller wichtigen Großstädte, die als Präferenzziele eines sowjetischen Vergeltungsschlags galten, zu einer nationalen Agenda. Dies schien auch durchaus plausibel, denn es gab Vorwarnzeiten von mehreren Stunden, bis die der Luftabwehr entkommenen strategischen Bomber der UdSSR ihre Ziele erreichten.

Als gegen Ende der 1950er Jahre die Ära der ballistischen Interkontinentalraketen begann, wurden diese Vorannahmen hinfällig. Trotzdem hielt die US-Administration an ihren Planungen fest. Unter der Präsidentschaft Ronald Reagans kulminierten sie sogar nochmals. Sie wurden in einem ›Crisis Relocation Program‹ (CRP) zusammengefasst, das den Exodus der gesamten Zivilbevölkerung und ihre Aufnahme in speziell dafür vorbereitete ›host areas‹ vorsah.31 Gerechtfertigt wurde diese gewaltige Kraftanstrengung durch die Ergebnisse einer möglicherweise frisierten Computersimulation, wonach 80 % der Bevölkerung gerettet werden könnten. Dies war jedoch nur die offizielle Version. Eine kritische Auswertung verwies hingegen auf das Fehlen entscheidender Parameter, die die Simulation zur Makulatur machten. Zu Recht monierte die Federation of American Scientists die Ausklammerung der Rahmenbedingungen. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems würde die Versorgung der Verletzten und Verstrahlten unmöglich machen. Die Lebensmittelversorgung würde zusammenbrechen, und es sei nach dem in der Simulation angenommenen Abwurf von über 1.400 nuklearen Sprengköpfen mit einer Sprengkraft von 6.559 Megatonnen mit katastrophalen ökologischen Folgen, nämlich einem ›nuklearen Winter‹, zu rechnen. Ein Medizinprofessor der Stanford University schätzte, dass nicht mehr als 60 Millionen Menschen (etwa 25 % der Gesamtbevölkerung) das nukleare Armageddon überleben würden.32 Daraufhin zogen sich immer mehr Bundesstaaten und Stadtverwaltungen aus den Planspielen zurück.

Während die nuklearen Schreckensszenarien ihrem letzten Höhepunkt zustrebten, drängten sich indessen ganz andere und zudem handfeste Probleme des Bevölkerungsschutzes in den Vordergrund. Seit jeher werden die Vereinigten Staaten von gewaltigen Naturkatastrophen heimgesucht, und dies seit den 1970er Jahren mit wachsender Intensität und Häufigkeit: saisonal auftretende Hurrikane, Erdbeben, Überschwemmungen und Waldbrände. Es lag deshalb nahe, die bislang zersplitterten Organisationen des Katastrophenschutzes in einer Bundesbehörde zu bündeln und die einseitige Fokussierung auf den nuklearen Fallout aufzugeben. 1979 verfügte die Carter-Administration die Gründung einer Federal Emergency Management Agency (FEMA). Sie eröffnete in der Folgezeit zehn Regionalbüros zur Katastrophenbekämpfung vor Ort und setzte die Tätigkeit der Civil Defense Administration fort. Sie koordinierte die Ausbildung der Feuerwehr und forcierte die Entwicklung der Notfallmedizin. Zusätzlich gewann die Katastrophenplanung erheblich an Bedeutung, denn mit ihrer Hilfe konnten die soeben skizzierten Evakuierungspläne auf die naturbedingten Katastrophenlagen projiziert werden. Seither besteht eine der wichtigsten Aufgaben der FEMA darin, die nach Hurrikanen und Flutkatastrophen aufgetretenen realen Schäden zu kompensieren und den Wiederaufbau voranzutreiben. Seit Beginn des neuen Millenniums hat sich der Aktions- und Planungsrahmen der FEMA ständig erweitert, man denke nur an die Terroranschläge des 11. September 2001 und an die eine Woche danach gestartete Anschlagsserie eines Laborwissenschaftlers, der hochpathogene Milzbrandsporen an Medienvertreter und Politiker versandte.33 Unter dem Eindruck derart erweiterter wie realer Bedrohungsszenarien wurde die FEMA 2003 in das neu etablierte Department for Homeland Security (DHS) eingefügt.34

Pandemien als ›Live Simulation Exercises‹

Zu Beginn des neuen Millenniums rückte ein weiteres Problemfeld im Dringlichkeitskatalog der Katastrophenplaner nach oben: die Pandemiefrage. Dafür gab es in den USA eine weitere Zentralbehörde, die uns inzwischen vertraut ist – die 1946 gegründete und in Atlanta im Bundesstaat Georgia ansässigen Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Jahrzehnte lang waren die CDC das Flaggschiff des öffentlichen Gesundheitswesens der USA gewesen. Ihre Abteilungen zur Kontrolle der Influenza und zur Aufdeckung neuer viraler Infektionskrankheiten hatten auch international eine herausragende Rolle gespielt; in enger Zusammenarbeit mit der WHO hatten sie sich an der Ausrottung der Pocken beteiligt, Testverfahren zur Identifikation neuartiger Krankheitserreger entwickelt und die ›International Health Regulation‹ mit auf den Weg gebracht. Inzwischen waren aber die CDC nur noch ein Schatten ihrer selbst.35 Aufgrund ihrer chronischen Unterfinanzierung waren sie zu einem Spielball konservativer Sponsoren geworden, die missliebige Forschungsprojekte wie etwa eine Studie über die Zusammenhänge zwischen privatem Waffenbesitz und häuslicher Gewalt zu Fall brachten und die laufenden Projekte an das Profil der neuen Großstiftungen anpassten. Darüber hinaus hatte die Bush-Administration den internationalen Aktionsradius – so etwa das epidemiologische Frühwarnsystem36 – beschnitten und ihren Einfluss auf die Gesundheitspolitik der USA durch Deregulierungsmaßnahmen geschwächt. Das alles hatte zur Folge, dass die CDC bei der Umwandlung der Katastrophenszenarien von der nuklearen Fallout-Planung zu einem ›All Hazards‹-System zu kurz kam. Die Federal Emergency Management Agency überging die CDC bei der Vergabe öffentlicher Mittel zur Alimentierung der mittlerweile weit aufgefächerten Krisenplanspiele geflissentlich. Zwar versuchten auch die CDC mitzuhalten, aber ihre diesbezüglichen Versuche scheiterten kläglich.37

Stattdessen machten größere und kleinere Thinktanks im Umfeld der Washingtoner Politikberatung das Rennen. Zu ihnen gehörte das im Jahr 1998 von der John Hopkins School of Public Health gegründete Center for Civilian Biodefense Strategies, das im Auftrag der FEMA zahlreiche Risikoanalysen und Planspiele zur Abwehr bio-terroristischer Anschläge moderierte.38 Nach einem Zwischenspiel in Pittsburgh kehrte der Thinktank 2017 an die Johns Hopkins School of Public Health zurück. Seither firmiert er als ›Center for Health Security‹ und widmet sich einem entsprechend erweiterten Themenspektrum. Gleichzeitig wechselten auch die Auftraggeber, denn das kleine, aber überaus agile Team wurde nun von zwei Großstiftungen entdeckt, die seit einigen Jahren zu den Finanziers der John Hopkins School of Public Health gehören – dem Open Philanthropy Project und der Bill & Melinda Gates Foundation. Nun rückte die bis dahin nur in Expertenkreisen bekannte Denkfabrik zur Simulation bio-terroristischer Krisenlagen als Moderatorin globaler Pandemierisiken in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung.

Der Probelauf auf diesem neuen Terrain fand im Mai 2018 in Washington, D.C. statt.39 Dort schlüpften neun Repräsentantinnen und Repräsentanten aus Wirtschaft, Verbandswesen und politischer Klasse in die Rolle der Entscheidungsträger des Weißen Hauses und simulierten das Vorgehen gegen eine gerade neu aufgekommene Pandemie namens ›Clade X‹. Die epidemiologischen Vorgaben waren bewusst vage gehalten. Das Ziel der über Livestream übertragenen ›tabletop exercise‹ bestand lediglich darin, den realen Entscheidungsträgern zu demonstrieren, dass entschiedene und strategische Festlegungen die politische Führung sehr wohl dazu befähigen, eine etwaige Pandemie zu unterdrücken oder zumindest einzudämmen.

Indessen machte dieser publikumswirksame Wink der alarmierten Großstifter auf die Trump-Administration wenig Eindruck. Deshalb wiederholten sie im Oktober 2019 das Pandemie-Szenario nochmals, und zwar diesmal in New York. Um ihm Nachdruck zu verleihen, traten die Initiatoren – die Bill & Melinda Gates Foundation und das World Economic Forum – dem erneut moderierenden Center for Health Security demonstrativ zur Seite.40 Zudem wurde internationale Prominenz aufgeboten, um die Dringlichkeit des Zusammenwirkens der administrativen Pandemiebkämpfung mit den Sicherheitsbehörden, den Großstiftungen, der Pharmaindustrie und anderen global operierenden Großunternehmen unter Beweis zu stellen. Dabei waren auch die gesundheitspolitischen Repräsentanten der Schwellenländer und der südlichen Hemisphäre mit einbezogen, so etwa die Generaldirektoren des Chinese Center for Disease Control und des Nigeria Centre for Disease Control.41 Die Durchsicht der Teilnehmerliste der als ›Event 201‹ bezeichneten ›Live Simulation Exercise‹ macht deutlich, dass die mit dieser Problematik befassten Weltinstitutionen im Herbst 2019 tatsächlich eine bevorstehende Pandemiekatastrophe für möglich hielten. Die dreieinhalbstündige Veranstaltung wurde über alle verfügbaren Medienkanäle verbreitet.

Das Drehbuch der Pandemieübung war anspruchsvoll.42 In Brasilien war ein bei Fledermäusen vorkommendes Coronavirus über seinen Zwischenwirt (Schweine) auf den Menschen gelangt und breitete sich durch Mensch-zu-Mensch-Übertragung rasch aus. Es war so pathogen wie das reale SARS-Virus, zugleich aber wesentlich infektiöser. Das begünstigte im Gegensatz zur SARS-Pandemie seine rasche und unkontrollierbare Ausbreitung, wobei ein erheblicher Teil der Bevölkerung nur milde Symptome entwickelte. Auf die zunächst unauffällige und langsame Herdbildung in einigen brasilianischen Schweinefarmen folgte deshalb ein explosionsartiger Anstieg der Infektionen, der vor allem die Armutsbevölkerung einiger benachbarter und dicht besiedelter Quartiere erfasste. Die anschließende explosionsartige Ausweitung der Epidemie auf die Megacities Lateinamerikas war nicht mehr aufzuhalten. Von hier aus transportierten Flugreisende das neuartige, als CAPS bezeichnete Virus innerhalb eines engen Zeitkorridors nach Portugal, China, in die USA und in zahlreiche andere Länder. Anfänglich gelang es in einigen Fällen, die ersten überseeischen Infektionsherde einzudämmen. Die Pandemie war jedoch nicht mehr aufzuhalten, und schließlich kam es zu unkontrollierten Reimporten der blinden Passagiere. Einer der Gründe dafür war das Fehlen einer kausalen Therapie. Im ersten Pandemiejahr stand kein Impfstoff zur Verfügung. Es existierte zwar ein Medikament, das die Symptome milderte, die Ausbreitung der Infektion jedoch nicht zu bremsen vermochte.

Im Szenario wurden auch Informationen über die Ausbreitungsgeschwindigkeit, die Häufigkeit und die Sterblichkeit vorgegeben. In den ersten Monaten dominierte ein exponentieller Anstieg der Infektionszahlen, die Verdopplungszeit war auf eine Woche festgelegt. Darüber hinaus waren alle Menschen für das Virus empfänglich. Deshalb sollte die Pandemie erst abklingen, wenn sich 80–90 % der Weltbevölkerung innerhalb der ersten zwölf Monate angesteckt hatten. Am Endpunkt des Szenarios, der auf den Beginn des 18. Monats festgelegt war, waren 65 Millionen Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen. Der inzwischen verfügbare Impfstoff verhinderte das Auftreten einer zweiten Welle, aber die Erkrankung bestand endemisch als Kinderkrankheit weiter.

Den Drehbuchautoren war klar, dass eine derart schwere Pandemie weitreichende gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen würde. Um ihre Abschätzung ging es im Wesentlichen in den anschließenden, live übertragenen Diskussionsrunden. Die kritische Hinterfragung der epidemiologischen Vorgaben des Drehbuchs stand nicht zur Diskussion, und auch die zu ergreifenden gesundheitspolitischen Gegenmaßnahmen wurden nur in der ersten Sektion erörtert; dabei wurde ausdrücklich auf die eklatanten Mängel und Engpässe (fehlende Vorräte und Produktionskapazitäten) hingewiesen.

Das Planspiel ›Event 201‹ zielte vor allem darauf ab, die Regierungen, internationalen Organisationen und das Spitzenmanagement der Großunternehmen wachzurütteln und dazu zu bringen, sich auf den jederzeit möglichen Pandemiefall vorzubereiten. In diesem Sinn veröffentlichten das World Economic Forum, die Bill & Melinda Gates Foundation und das Center for Health Security am 17. Januar 2020 eine Sieben Punkte-Erklärung, in der sie die Zielstellungen des ›Event 201‹ nochmals zusammenfassten.43 Darin wurden die führenden Exponenten aus Politik und Wirtschaft aufgefordert, die vorhandenen Kapazitäten zur Pandemiebekämpfung zu bündeln, ausreichende Vorräte zur Initiierung der erforderlichen medizinischen Gegenmaßnahmen anzulegen und ihre rasche Verteilung im Pandemiefall zu gewährleisten, Produktionsanlagen für Impfstoffe und Diagnostika einzurichten und sich auf die gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer schweren Pandemie vorzubereiten.

Diese Schlussfolgerungen waren aus anderem Holz geschnitzt als die Auswertungsberichte der deutschen Krisenszenarien. Sicher waren auch hier die epidemiologischen Vorgaben zu unelastisch und ausschließlich auf ein Worst-Case-Szenario fixiert. Trotzdem wurden im ersten Teil der anschließenden Diskussionsrunden entscheidende Schwachstellen des internationalen Gesundheitssystems herausgearbeitet, die in der Abschlusserklärung der Veranstalter wieder aufgegriffen und auf den Punkt gebracht wurden. Aber auch diese Warnrufe verhallten ungehört.