1.BEGINN UND REGIONALE AUSBREITUNG

Die Ursprünge

Wo entstand das als SARS-CoV-2 bezeichnete Coronavirus, wann sprang es erstmalig auf den Menschen über, und wo begann die erste Übertragung von Mensch zu Mensch? Bis zum Herbst 2020 gab es eine Entstehungsgeschichte, die wegen ihrer zahlreichen und sich gut ergänzenden Berichte und Indizien überzeugte. Doch dann geriet dieses Narrativ ins Wanken. Es erschienen mehrere Studien, denen zufolge es vor dem Ausbruch der ersten großen Infektionsherde eine mehrmonatige sporadische Ausbreitung des Erregers gegeben haben musste, die unerkannt geblieben war. Zwischen diesen beiden Gewissheiten klaffen große Lücken. Wie sollen wir damit umgehen? Eine Möglichkeit wäre, sich für unwissend zu erklären und die weiteren Forschungsergebnisse abzuwarten. Das aber kann Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte dauern, und auch dann ist ein einmütiger Kanon der Experten nicht sicher. Ich werde deshalb einen anderen Weg einschlagen. Ich werde die beiden Varianten der Entstehungsgeschichte unkommentiert präsentieren und anschließend versuchen, zwischen ihnen eine argumentative Brücke zu bauen.

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(1) Gegen Ende November 2019 zirkulierten in leitenden Gremien der chinesischen Gesundheitspolitik Berichte über einen 55-jährigen Mann aus der Provinz Hubei, der an einer neuartigen und untypisch verlaufenden Lungenentzündung erkrankt war.1 Bis Anfang Dezember wurden in der Provinzhauptstadt Wuhan täglich neue Einzelfälle gemeldet, sodass die Zahl der an atypischer Pneumonie Erkrankten bis Mitte Dezember auf 27 anstieg. Als Infektionsherd wurde der zentralen Fisch- und Wildtiermarkt Wuhans ausfindig gemacht, wo sich mehrere Patienten in den Wochen zuvor als Verkäufer oder Kunden aufgehalten hatten. Wie überall in China und Südostasien werden auf diesen traditionellen Märkten exotische Wildtiere feilgeboten und vor den Augen ihrer Käufer geschlachtet. Ihrem Verzehr möglichst unmittelbar nach der Tötung werden von der traditionellen chinesischen Medizin energiefördernde Impulse zugeschrieben, und deshalb nehmen sie in der chinesischen Küche einen bevorzugten Platz ein.

In der dritten Dezemberwoche stieg die Zahl der an atypischer Pneumonie Erkrankten auf 60 an. Die Ärztinnen und Ärzte der klinischen Notfallzentren schlugen Alarm. Zu ihnen gehörte auch Zhang Jixian, eine leitende Ärztin des Krankenhauses der Provinz Hubei. Sie schickte am 27. Dezember erste Proben aus den Atemwegssekreten der Erkrankten an ein Labor zum Erregernachweis. Dort wurden die ersten RNA-Sequenzen eines neuartigen Virus der Corona-Familie nachgewiesen. Noch in den letzten Dezembertagen teilte Zhang Jixian der lokalen Gesundheitskommission und ihren ärztlichen Kollegen mit, dass das klinische Bild und die Untersuchungsergebnisse ihren Verdacht bestätigt hatten. Inzwischen befanden sich schon mehr als 180 Menschen mit gravierenden Krankheitssymptomen (Pneumonie und Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom – SARS) in klinischer Behandlung. Aber die lokalen Behörden verboten Präventionsmaßnahmen und unterdrückten die öffentliche Berichterstattung. Zhang Jixian und das Labor, das die ersten genetischen Sequenzen des Virus dokumentiert hatte, wurden zum Stillschweigen verpflichtet.

Gegen Jahresende erfuhr auch der im Zentralkrankenhaus Wuhan tätige Assistent der Augenärztlichen Abteilung Li Wenliang von dieser Entwicklung. Er verbreitete die Befunde und diagnostischen Unterlagen im Internet. Seine daraufhin erfolgte Maßregelung wurde später in China und anschließend auch weltweit bekannt und machte ihn zur Symbolfigur einer dissidenten Ärzteschaft.

Das in Beijing ansässige nationale Center for Disease Control and Prevention erfuhr erstmalig am 30. Dezember von den Anfängen der Epidemie. Sein Leiter schickte sofort eine Expertengruppe nach Wuhan. Sie bestätigte die klinischen Berichte. Am 31. Dezember informierte das Kontroll- und Präventionszentrum die Weltgesundheitsorganisation (WHO) – allerdings unvollständig und offensichtlich auch irreführend. Es meldete lediglich 27 Krankheitsfälle, die durch einen bislang unbekannten Erreger ausgelöst worden seien. Einige Tage später schloss es die Erreger der in den Jahren 2002/03 und 2012 vorausgegangener Coronapandemien (SARS-CoV und MERS-CoV2) aus und verneinte eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung.

Infolgedessen trat das nationale Kontroll- und Präventionszentrum zunächst nicht in Aktion. Es überließ der Nationalen Gesundheitskommission und deren Provinzniederlassungen die Initiative. Der Huanan-Wildtiermarkt in Wuhan wurde am 1. Januar 2020 geschlossen und desinfiziert, weitergehende Präventionsmaßnahmen wurden nicht angeordnet. Die Mensch-zu-Mensch-Übertragung wurde bis zum 20. Januar von den Zentralbehörden und Medien dementiert, obwohl Teile des Erbguts (Genom) des neuartigen Virus SARS-CoV-2 schon Ende Dezember 2019 aus den Rachensekreten eines Patienten identifiziert und das Genom in den folgenden Wochen vollständig entschlüsselt und der internationalen Fachöffentlichkeit mitgeteilt worden war.3 So konnte sich die Epidemie trotz der immer häufiger bestätigten Nachweise einer Übertragung von Mensch zu Mensch und der inzwischen bekannt gewordenen ersten Todesfälle ungebremst ausbreiten; inzwischen erkrankten auch die ersten Angehörigen der Gesundheitsberufe. Dabei war seit der Entschlüsselung des Genoms aufgrund zahlreicher Vorstudien der letzten Jahre anzunehmen, dass das Virus aus dem natürlichen Reservoir der Fledermäuse stammte. Es war offensichtlich über einen tierischen Zwischenwirt auf den Menschen gelangt, indem es sich an ihn durch Mutation oder Rekombination angepasst hatte.4 Damit war der Huanan-Markt in Wuhan als erster Ausbreitungsherd (Cluster) der heraufziehenden Pandemie wahrscheinlich geworden. Kurze Zeit später wurde ein aus Malaysia illegal importiertes und auf dem Markt gehandeltes Schuppentier (Pangolin) als Zwischenüberträger ausfindig gemacht.

Trotzdem wurden in Wuhan bis zum Beginn der vierten Januarwoche keine ins Gewicht fallenden Gegenmaßnahmen ergriffen. Noch am 18. und 19. Januar fanden in Wuhan Massenveranstaltungen der Provinzregierung zum Auftakt der lunaren Neujahrsfeierlichkeiten statt. Dadurch wurde der Übergang der neuartigen Infektionskrankheit zur Massenepidemie beschleunigt. Am 23. Januar wurden aus Wuhan und der Provinz Hubei offiziell 375 Erkrankte gemeldet, dazu kam noch die überwiegende Mehrheit der 131 als unspezifiziert ausgewiesenen Fälle.5

Dies brachte die Kehrtwende. Die Verwaltungseinheit Wuhan wurde von der Außenwelt abgeriegelt, einige Tage später auch die Provinz Hubei. Während die ersten überregionalen Notfall- und Erfassungsteams eintrafen, stiegen die diagnostizierten Fallzahlen von Tag zu Tag rasant an. Bis zur Eindämmung der ersten Epidemiewelle Mitte Februar stammten die meisten an Covid-19 Erkrankten und Gestorbenen aus Hubei und der Provinzhauptstadt Wuhan. Am 5. Februar wurden aus der Provinz Hubei 16.678 an Covid-19 Erkrankte gemeldet. Bis zum 15. Februar stieg die Zahl der kumulierten Fälle auf 54.406, insgesamt 1.468 Patientinnen und Patienten waren gestorben. Danach verlangsamte sich der Anstieg: Am 1. März waren 66.907 Menschen erkrankt, die Zahl der Gestorbenen hatte sich jedoch auf 2.761 verdoppelt. Bis Mitte März war die Epidemie in Hubei und der Provinzhauptstadt Wuhan weitgehend eingedämmt.

Wuhan ist ein zentralchinesischer Verkehrsknotenpunkt. Autobahnen verbinden die Stadt mit den Metropolregionen Beijing im Norden, Shanghai im Osten sowie Guangzhou, Shenzhen und Hongkong im Süden. Sie liegt an der Schnellbahnstrecke Peking-Hongkong. Der Flughafen verbindet die Industriemetropole, in deren Verwaltungsbezirk 10,8 Millionen Menschen leben, mit allen innerchinesischen Zentren. Bis zum Stichtag 23. Januar konnten alle In- und Ausländer Wuhan weitgehend ungehindert verlassen, und noch kurz vor dem Inkrafttreten der Ausgangssperre verließen viele Menschen die Stadt. Damit war die innerchinesische Ausweitung der Epidemie gebahnt, und dies spiegelte sich auch in den offiziellen Meldungen wider.6 Am 21. Januar wurden erstmalig mehrere an Covid-19 Erkrankte aus den Metropolregionen Guangdong, Beijing und Shanghai gemeldet; die Gesundheitsverwaltungen weiterer neun Provinzen berichteten über Einzelfälle. Zwei Tage später, am Tag der Errichtung des ›Cordon Sanitaire‹ um Wuhan, registrierten die Behörden der drei Hauptmetropolen exponentielle Anstiege, während nun auch die Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macau betroffen waren. Am 24. Januar schien sich die Situation in Guangdong, Beijing und Shanghai zu stabilisieren, aber in den übrigen neun Provinzen deutete alles auf die Entstehung kleiner Cluster hin. Als der chinesische Präsident Xi Jinping am 26. Januar die Feierlichkeiten zum chinesischen Neujahr mit Verweis auf den »Ernst der Lage« absagte, hatte sich die Epidemie längst ausgebreitet. Drei Tage später wurden erstmalig aus allen Provinzen SARS-CoV-2-Infizierte gemeldet. Nach offiziellen Angaben betrug die Gesamtzahl jetzt 5.997, 213 Menschen waren an der Krankheit gestorben. Danach breitete sich die Epidemie trotz der inzwischen landesweit angelaufenen Eindämmungsmaßnahmen weiter aus. Bis zum 15. Februar waren außerhalb der Provinz Hubei nach Angaben der WHO 1.170 Menschen erkrankt und 67 Patienten gestorben. Am 11. März waren es 13.182 beziehungsweise 116. In den folgenden Tagen erkrankten oder starben immer weniger Menschen an dem neuartigen Virus. Damit war in der VR China die Eindämmung der Epidemie innerhalb kurzer Zeit gelungen. Das Virus war jedoch keineswegs ausgerottet, wie dies das Politbüro der Kommunistischen Partei am 15. März verkündete. In allen Provinzen bildeten sich immer wieder neue Cluster. Zunächst waren die an Russland und Nordkorea angrenzenden Provinzen betroffen, wo im Verlauf des Monats April in mehreren Städten neue Infektionsherde auftraten. In der zweiten Maiwoche meldeten die Gesundheitsbehörden Wuhans einige neu registrierte Infektionsfälle; bei einer anschließenden Massentestung, die die gesamte Stadtbevölkerung umfasste, wurden 300 symptomlos Infizierte entdeckt. Besonderes Aufsehen erregte die Entdeckung eines neuen Clusters auf dem größten Fleisch-, Fisch- und Gemüsemarkt der Hauptstadt Beijing, wo gegen Ende der zweiten Juniwoche 36 Händler und Kunden positiv getestet wurden. Der Markt wurde geschlossen und desinfiziert, elf benachbarte Stadtviertel wurden unter Quarantäne gestellt. Zunächst hieß es, kontaminierte Lachse seien die Infektionsquelle gewesen. Diese Annahme wurde nach dem Vorliegen genauerer Untersuchungsergebnisse stillschweigend fallen gelassen. Wie in Wuhan hatte es auch in Beijing seit einiger Zeit asymptomatisch Erkrankte gegeben. Um die Übertragungswege zum Zentralmarkt abzuklären, wurden bis zum 20. Juni 2,3 Millionen Einwohner Beijings getestet, etwa 250 waren SARS-CoV-2-positiv. Das waren verschwindend geringe Infektionszahlen. Sie genügten jedoch für den Nachweis, dass das Virus in China endemisch geworden war.

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(2) Schon vor seiner Entdeckung in Wuhan zirkulierte das Virus SARS-CoV-2 in Italien. Dieser Befund wurde zunächst mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommen, zumal er sich nicht auf Erfahrungsberichte stützte, sondern das Ergebnis nachträglicher Laboruntersuchungen war.7 Aber die Indizien wirken inzwischen schlüssig. Sie bestätigen nachträglich die Befürchtungen einiger Lungenfachärzte, die schon im Januar 2020 eine auffällige Häufung atypischer Pneumonien beobachtet hatten.8 In den Blutseren von knapp 1.000 symptomlosen Italienerinnen und Italienern wurden in den für ein Lungenkrebs-Screening entnommenen Blutseren für die Zeit ab September 2019 spezifische Antikörper gegen SARS-CoV-2 nachgewiesen.9 Die erste akute Immunreaktion war am 3. September aufgetreten, und allein im September und Oktober waren 14,7 % bzw. 16,3 % aller Proben positiv. Dabei bildeten die Lombardei, der Veneto und die Emilia Romagna die regionalen Schwerpunkte. Diese aufsehenerregenden Befunde animierten zu weiteren Untersuchungen. In der Hautprobe einer im November 2019 Erkrankten wurden Gensequenzen des Virus nachgewiesen, ebenso im Abstrich eines ebenfalls im November erkrankten Kleinkinds. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Abwässer Mailands und Turins im Dezember 2019 mit Viruspartikeln kontaminiert waren. Diese Befunde sind ein deutlicher Hinweis dafür, dass dem Ausbruch der Pandemie eine Etappe vorangegangen sein musste, in der sich Einzelinfektionen häuften.

Ähnlich intensive serologische und virologische Nachforschungen über das Vorstadium von Covid-19 hat es in anderen Ländern noch nicht gegeben. Zweifellos war Italien aus mehreren Gründen dafür prädestiniert. Wie wir gleich sehen werden, datiert der offizielle Beginn der Ausbreitung in Italien erst Monate später, und dies vermochte die besonders heftige und rasante Entstehung des Epizentrums Norditalien nicht zu erklären. Darüber hinaus zwingen die zumeist symptomlosen Verläufe der prä-pandemischen Phase zur Annahme, dass es unter den seit September 2019 zirkulierenden Viren eine Mutation gegeben haben muss, die ihnen die Mensch zu Mensch-Übertragung erleichterte und sie aggressiver machte. Hier zeigt sich eine wichtige Parallele zu Wuhan, wo es zunächst ebenfalls wenig aggressiv verlaufene Einzelfälle gegeben hatte.10 Infolgedessen erlaubt eine Synopse der bis heute bekannten zwei Ursprungsherde eine erste Hypothese über die Ursprünge und Ausbreitung der SARS-CoV-2-Pandemie.11

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(3) Irgendwo in Südostasien oder China entstand in den Fledermäusen, dem natürlichen Reservoir der Coronaviren, eine neue Variante, die dem späteren SARS-CoV-2 sehr ähnlich war. Indem sie auf einen Zwischenwirt übersprang, erwarb sie eine gewisse Fähigkeit, an der menschlichen Lungenzelle anzudocken.12 Dadurch kam es zu ersten Einzelinfektionen, die fast immer symptomlos verliefen, sodass das neue Virus zunächst nicht auffiel und auch nicht genetisch untersucht wurde.

Nach einer ausreichenden Häufung der Einzelfälle breitete sich das Virus unerkannt in Südostasien und China aus und überquerte entlang der Flug- und Schiffsrouten die Kontinente. Es wurde jedoch erst Monate später entdeckt, nachdem sich eine infektiösere und aggressivere Variante gebildet und zur Entstehung der ersten großen Infektionsherde geführt hatte. Dies geschah Mitte Dezember in Wuhan und einige Wochen später in Norditalien. Es ist jedoch anzunehmen, dass es um die Jahreswende 2019/2020 weitere lokale oder regionale Schwerpunktbildungen gegeben hat, die derzeit noch unbekannt sind. Genauso ungeklärt ist die Frage, ob es sich bei den aggressiven Mutanten von Wuhan und Norditalien um identische Genome handelte, oder ob sie sich unabhängig voneinander zu zwei unterschiedlichen Strängen weiterentwickelt hatten. Im ersten Fall könnte ein chinesischer Reisender im Dezember 2019 die aggressive Variante als blinden Passagier in die Lombardei mitgebracht haben (oder umgekehrt!); zweitens sind aber auch unabhängig voneinander entstandene Mutanten des aus dem Fernen Osten stammenden prä-pandemischen Coronavirus denkbar. Festzuhalten bleibt jedenfalls die zeitlich versetzte Entstehung der bis heute bekannten Ursprungsherde der Pandemie. Sie hatten eine entsprechende Staffelung der von ihnen ausgehenden Infektionswellen zur Folge (Wuhan ab Anfang Januar, Norditalien ab Anfang Februar 2020), bis sie sich dann ab Mitte Februar weltweit überlagerten. Die ersten regionalen und globalen Ausbreitungswellen der Pandemie werden in den folgenden Abschnitten skizziert.

Das Übergreifen der Epidemie auf Ost- und Südostasien

Der Flughafen Wuhan verfügt auch über mehrere Direktverbindungen nach Ost- und Südostasien. Es war deshalb mehr als wahrscheinlich, dass Flugreisende aus Wuhan und der Provinz Hubei das hochinfektiöse und ziemlich resistente Virus beinahe in Echtzeit in die Nachbarländer Chinas exportieren würden, und das umso eher, als auch symptomlos Infizierte ansteckend sein können. Für diesen ›Export‹ gibt es jedoch eine wichtige Voraussetzung: Damit beispielsweise 25.000 bis 30.000 Fluggäste in der Zeitspanne vom 23. Dezember 2019 bis zum Tag der Stilllegung der Fluglinien einen Monat später das Virus in die Nachbarländer weitertragen konnten, musste eine hinreichend große Gruppe der Einwohner Wuhans infiziert sein. Dazu reichten die von der VR China an die WHO berichteten Infektionsfälle jedoch nicht aus. Selbst wenn man die ohne regionale Zuordnung mitgeteilten Zahlen hinzuaddiert, waren dies am 23. Januar 506 Menschen – bei einer Megacity wie Wuhan eine unzureichende Menge.13 Es konnte deshalb nicht ausbleiben, dass die Epidemiologen der Transatlantikregion die offiziellen Angaben kritisch hinterfragten, sobald sich herausstellte, dass tatsächlich alle regionalen – und fast gleichzeitig auch die globalen – Überträger bis zum 23. Januar aus Wuhan bzw. der Provinz Hubei eingereist waren oder zuvor innerhalb Chinas Kontakt mit Menschen aus dieser Region gehabt hatten. Im Februar wurden mehrere Modellrechnungen veröffentlicht, die ausgehend von den bis dahin bekannt gewordenen Covid-19-Erkrankungen außerhalb Chinas auf die tatsächlichen Infektionsfälle in Wuhan zurückschlossen. Sie kamen zum Ergebnis, dass die Inzidenzrate bis zur Schließung des Flughafens 11 bis 20 Mal höher sein musste als offiziell angegeben.14 Da in China fast durchgängig nur die tatsächlich Erkrankten – und nicht die symptomlos gebliebenen positiv Getesteten – als Covid-19-Fälle registriert wurden, wird sich das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe von Wuhan wahrscheinlich nie quantifizieren lassen.

Ein kurzer Blick auf die Ausbreitung der Erkrankung innerhalb Ost- und Südostasiens offenbart die Dynamik der weiteren Entwicklung.

Thailand

Schon am 13. Januar 2020 berichteten die thailändischen Behörden über einen ersten an Covid-19 Erkrankten, der aus Wuhan eingereist war: Dies war der erste bis heute bekannt gewordene ›Patient Null‹ außerhalb Chinas.15 In den folgenden Wochen kamen einige weitere positiv getestete Personen hinzu, und die Flugverbindungen nach China wurden gekappt. Ab der zweiten Februarwoche traten die lokalen Übertragungen in den Vordergrund. Die ersten kleinen Cluster entstanden, und als sich ab Mitte März die Zahl der Infizierten von Tag zu Tag erhöhte, konnten die Infektionsketten nicht mehr rückverfolgt werden. Trotzdem blieb Thailand in der Folgezeit vergleichsweise verschont. Am 22. April berichtete die WHO über bislang 2.826 Erkrankte und 49 Verstorbene.

Japan

Zwei Tage nach der Meldung über den ersten Infektionsnachweis außerhalb Chinas berichteten die japanischen Gesundheitsbehörden über den ersten chinesischen Pneumoniekranken aus China.16 Er war am 6. Januar aus Wuhan zurückgekehrt und nach seiner Krankenhausaufnahme positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden. Zwischen dem 24. und 28. Januar wurden weitere fünf aus Wuhan stammende Erkrankte registriert; hinzu kam erstmals ein Japaner – ein Busfahrer, der eine Reisegruppe aus Wuhan transportiert hatte. Bis Ende Januar wurden mehrere Japaner positiv getestet, die aus Wuhan zurückgekehrt waren. Im Februar kam es zu einem langsamen Anstieg der Infektionen; dabei waren aus Wuhan bzw. der Provinz Hubei Eingereiste bzw. Zurückgekehrte noch in der Überzahl. Ab Mitte März bildeten sich mehrere lokale und regionale Cluster heraus, die sich vor allem auf die Provinz Hokkaido konzentrierten. Im April folgte mit der Zunahme der Testungen ein rapider Anstieg, der erst in der zweiten Monatshälfte zurückging. Am Stichtag 22. April wies die WHO insgesamt 11.496 Erkrankte und 277 Gestorbene aus. Die Neuerkrankungen waren deutlich zurückgegangen, aber die Fallsterblichkeit hatte sich verstärkt.

Südkorea

Am 20. Januar identifizierten die südkoreanischen Behörden den ersten an Covid-19 erkrankten Patienten.17 Es handelte sich um eine Chinesin aus Wuhan, die einen Tag zuvor eingereist war. Weitere ›Importe‹ der Erkrankung folgten, aber die Ausbreitung konnte durch die intensive Rückverfolgung der Infektionsketten bis Mitte Februar verlangsamt werden. Am 18. Februar waren 31 Erkrankte registriert. Von ihnen waren 15 kurzfristig aus China eingereist, die übrigen hatten sich wahrscheinlich in den Nachbarländern angesteckt. Bis Ende des Monats entstanden die ersten lokalen Herde, wobei vor allem religiöse Gemeinschaften der Hafenstadt Daegu betroffen waren. Trotz rigoroser Gegenmaßnahmen ließ sich die weitere Ausbreitung nur kurzfristig aufhalten. Schon am 26. Februar waren mehr als 1.000 Menschen erkrankt. Ein exponentieller Anstieg blieb jedoch aus, die Fallzahlen gingen im März wieder zurück. Am 22. April dokumentierte die WHO in ihrem Tagesbericht insgesamt 10.694 Erkrankte und 238 Todesopfer.

Taiwan

Die von Wuhan und der Provinz Hubei ausgehende Epidemie erreichte Taiwan am 21. Januar.18 ›Indexpatientin‹ war eine Frau aus Taiwan, die kurz zuvor aus Wuhan zurückgereist war. Am 26. Januar wurden zwei weitere Covid-19-Patienten registriert. Zwei Tage später wurde die erste innerhalb Taiwans erfolgte Infektion nachgewiesen. Da Taiwan schon Anfang Januar sein epidemiologisches Frühwarnsystem aktiviert hatte, stiegen die Fallzahlen erst ab Anfang März über zehn Neuerkrankte pro Tag. Am 10. März wurden 27 Neuerkrankte gemeldet. Danach klang die Infektion rasch ab, sodass Taiwan trotz der frühen ›Importe‹ aus Wuhan von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie weitgehend verschont blieb.

Singapur

Den Stadtstaat Singapur erreichte die Covid-19-Epidemie am 23. Januar.19 Bis Ende des Monats kamen alle Erkrankten aus Wuhan bzw. der Provinz Hubei. Danach erfolgte ein langsamer Anstieg. Bis zum 19. Februar mussten sich 84 Patienten einer Krankenhausbehandlung unterziehen, der weitere Anstieg konnte jedoch bis zum Ende der ersten Aprilwoche weitgehend eingedämmt werden. Trotzdem kam es anschließend in den Lagern und Schlafsälen der etwa 300.000 ausländischen Wanderarbeiter zur Ausbildung massiver lokaler Cluster im Süden des Stadtstaats. Die Fallzahlen stiegen rasant, allein am 20. April wurden 8.000 Neuinfizierte gemeldet. Dieses für ganz Südostasien außergewöhnliche Ereignis legte die entscheidende Schwachstelle des Gesundheitsmanagements der Behörden von Singapur bloß: Die Lager und Schlafsäle der weitgehend rechtlosen Wanderarbeiter waren bis zum Wiederaufflammen der Epidemie von den Präventionsmaßnahmen ausgespart geblieben.20

Vietnam

Auch aus Vietnam wurden am 23. Januar die ersten beiden an Covid-19 erkrankten Patienten gemeldet.21 Es handelte sich um einen aus Wuhan stammenden Chinesen, der seinen Sohn besucht und ebenfalls infiziert hatte. Bis Mitte Februar erkrankten 16 Vietnamesen, die mit den beiden sowie anderen chinesischen Besuchern Kontakt gehabt hatten. Danach wurden drei Wochen lang keine weiteren Infektionen beobachtet. Anschließend bildeten sich jedoch neue Infektionsherde, deren Spuren auf Rückkehrer aus Europa und den USA verwiesen. Zusätzlich infizierten sich in der dritten Märzwoche mehrere Krankenhausmitarbeiter, und eine Klinik musste unter Quarantäne gestellt werden. Bis Mitte April bildeten sich kleine Cluster in zahlreichen vietnamesischen Großstädten. Gleichwohl gehörte Vietnam zu jenen ost- und südostasiatischen Ländern, die bis zum Beginn der zweiten Welle von der Epidemie weitgehend verschont blieben. Bis zum 22. April gab es keinen Todesfall, und die Gesamtzahl der bestätigten Infizierten belief sich auf 268 Personen.

Philippinen

Auch auf den Philippinen stammten die ersten an Covid-19 Erkrankten aus der Volksrepublik China. Der erste Fall wurde am 30. Januar aus Metro Manila gemeldet, weitere Infektionen folgten im Februar.22 In der ersten Märzwoche breiteten sich in einigen religiösen Gemeinschaften Manilas die ersten Infektionsherde aus. In den folgenden Wochen scheiterten die Versuche der Gesundheitsbehörden, die sich jetzt vor allem in den Armutsvierteln Manilas ausbreitende Epidemie einzudämmen. Bis Ende März waren alle siebzehn Regionen betroffen. Am 22. April dokumentierte die WHO 6.559 bestätigte Infizierte und 437 Gestorbene. Damit gehören die Philippinen nach Singapur und Indonesien zu der am stärksten von der Pandemie betroffenen Ländergruppe Südostasiens.

Indonesien

Aus Indonesien wurde erst am 2. März 2020 der erste Covid-19-Patient gemeldet, sodass ein Import der blinden viralen Passagiere aus Wuhan nicht mehr in Frage kam.23 Obwohl das erste Cluster, eine Tanzschule auf West-Java, rasch identifiziert wurde, konnten die von dort nach Jakarta weitergetragenen Infektionsketten nicht vollständig aufgeklärt werden. Bis Ende März breitete sich die Epidemie langsam auf dem gesamten indonesischen Archipel aus. Zur Monatsmitte dokumentierten die Gesundheitsbehörden 117 Infizierte und vier Gestorbene. Bis zum 31. März stiegen diese Zahlen auf 1.414 bzw. 129, und am 22. April dokumentierte die WHO 7.135 Erkrankte und 616 Todesopfer.

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Bis Ende März hatte die regionale Epidemie die meisten Länder Ost- und Südostasiens erreicht. Es gelang jedoch in den meisten Fällen, die lokalen Infektionsherde einzudämmen, sodass die Zahl der bestätigten Covid-19-Patienten – so etwa in Myanmar – erst in der dritten Aprilwoche die 100-Marge überschritt. Niemand vermochte seither eine Wende zum Schlechteren auszuschließen, wie die Ereignisse in Singapur gezeigt hatten. Insgesamt bleibt jedoch festzuhalten, dass die Nachbarländer Chinas nur ein vergleichsweise moderates Epidemiegeschehen durchlaufen haben, obwohl sie aufgrund der hohen regionalen Mobilität besonders intensiv mit dem ersten Epizentrum der Epidemie verbunden waren. Am 31. Januar gehörten acht Länder Ost- und Südostasiens zu den neunzehn Staaten, aus denen die WHO Covid-19-Infektionen meldete; zudem wiesen sie zu diesem Zeitpunkt die meisten Fallzahlen außerhalb Chinas aus. Aber am 31. März rangierten sie zusammen mit China auf Platz drei der regionalen Schwerpunkte der Pandemie. Europa und die USA waren seither die neuen Epizentren eines dramatischen Geschehens, das die Welt innerhalb eines halben Jahrs verändert hat.