3.EPIZENTREN IN DER NEUEN WELT UND DAS WELTWEITE WIEDERAUFFLACKERN DER PANDEMIE (MAI–AUGUST 2020)

Die Vereinigten Staaten von Amerika

In der zweiten Aprilhälfte hatte die Pandemie in den USA ihren ersten Höhepunkt überschritten, aber die Stabilisierung war nur von kurzer Dauer.1 Bis Mitte Mai breitete sich das Virus unterschwellig weiter aus, sodass die schon jetzt sehr hohen registrierten Neuinfektionen und Todesfälle landesweit nur geringfügig zurückgingen. Doch bald häuften sich in der wöchentlichen Berichterstattung der Centers for Disease Control (CDC) die Alarmzeichen. Ab der 21. Berichtswoche2 stiegen der Prozentanteil der positiv Getesteten und die Zahl der in die Krankenhäuser eingewiesenen Erkrankten wieder an. Zusätzlich bildeten sich in den Regionen Southeast und Pacific Northwest neue Schwerpunkte heraus, die sich bis Mitte Juni auf fünf und zeitweilig sogar sieben erweiterten. Da der inneramerikanische Reiseverkehr nur sehr begrenzt heruntergefahren worden war, konnte sich SARS-CoV-2 ausgehend von seinen ersten Hotspots in New York City sowie in den Bundesstaaten New York und New Jersey weitgehend ungebremst auf die Südstaaten Florida, Texas und Arizona sowie die südliche und nördliche Pazifikküste (Kalifornien und Washington) ausbreiten. In den beiden letzten Fällen erfasste das Virus auch Bundesstaaten, die seine Ausbreitung im Gegensatz zu New York zunächst erfolgreich eingedämmt hatten.

Diese dramatische Entwicklung spiegelte sich bald auch in den statistischen Überblicken wider. Mit über einer Million registrierten Infizierten und 57.000 Verstorbenen am 28. April war das Niveau der Pandemie auch unter Berücksichtigung der großen Bevölkerungszahl3 ohnedies schon erheblich. Die Zahl der täglich registrierten Neuinfektionen stieg zunächst stetig und dann ab der ersten Juniwoche sprunghaft, und zwar bis Mitte Juli auf über 70.000. Dagegen entwickelten sich die durch die Pandemie verursachten Sterbefälle unterschiedlich. Sie waren schon Anfang April auf mehr als 2.000 täglich gestiegen und erreichten Anfang Mai mit etwa 3.000 ihren vorläufigen Gipfel. In den folgenden Wochen halbierten sie sich und pendelten sich bis Mitte Juli auf einem Plateau zwischen 400 und maximal 800 ein. Gleichwohl waren die Gesamtzahlen erschreckend. Am 27. Mai waren 100.000 Amerikanerinnen und Amerikaner im Zusammenhang mit Covid-19 verstorben, bis zum Ende der ersten Juliwoche waren es mehr als 130.000. Aussagekräftig war in diesem Zusammenhang auch die Altersverteilung der Todesopfer. Sie gehörten zu 91 % den Altersklassen der über 55-Jährigen an, wobei der jeweilige Anteil mit jedem Lebensjahrzehnt deutlich zunahm und bei den über 75-Jährigen 59,5 % ausmachte.4 Laut WHO-Tagesbericht vom 14.7.2020 waren bis dahin in den Vereinigten Staaten 3,344 Millionen Menschen positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden und 135.000 Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen.5

Hinter diesen nüchternen Zahlen standen bedeutsame gesellschaftliche Prozesse. Bis Anfang Mai hatten sich die viralen blinden Passagiere von der Ostküste über die inneramerikanischen Transportwege unterschwellig in allen Landesteilen festgesetzt. Die darauf folgende Schwerpunktbildung am ›Sunbelt‹ und von dort aus im Mittelwesten und insbesondere an der Pazifik-Westküste war zunächst ebenfalls einer Migrationsroute geschuldet – den Wegen der lateinamerikanischen Wanderarbeiter und Immigranten aus den südlichen Gemeinden Floridas und Kaliforniens, die dem im Juni beginnenden Erntezyklus der Landwirtschaft folgten und in die Südstaaten, den Mittelwesten und in die Pazifikstaaten ausströmten. Die auf ihren Routen entstandenen Cluster breiteten sich dann im Gegensatz zur Entwicklung vom vergangenen März im Umland und in den Vorstädten der großen Agglomerationen – insbesondere Miami, Houston, Phoenix und Los Angeles – aus. Die nun breit einsetzende ›Community Transmission‹ wurde schließlich durch die inzwischen erfolgte Aufhebung der sozialen Kontaktbeschränkungen rapid beschleunigt. Die Menschen strömten wieder an die Strände und füllten die Freizeit- und Event-Parks wieder mit Leben. Sie feierten die wieder gewonnene Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit in Bars, Restaurants und Nachtclubs. Aber auch die den höheren Heilsgütern zugewandten konservativen Schichten der US-amerikanischen Gesellschaft kamen wieder auf ihre Kosten. Die Kirchen und Bethäuser wurden wieder eröffnet, Kongregationen abgehalten und religiöse Sommercamps organisiert. Auf diese Weise trugen vor allem die Kirchengemeinden der Evangelikalen und Baptisten erheblich zur Festsetzung der Pandemie in den suburban-ländlichen Lebenssphären bei.

Schon im April hatte das neue Epizentrum der Pandemie Europa überholt und der weiteren Entwicklung den Takt vorgegeben. Die Gründe dafür, dass ausgerechnet die führende und über die größten medizinwissenschaftlichen Kapazitäten verfügende Hegemonialmacht wie einige europäische Staaten die Kontrolle über das Pandemiegeschehen verlor, sind vielfältig. Ich werde sie in den beiden letzten Teilen dieser Untersuchung erörtern.6

Epizentrum Lateinamerika

Als sich die Pandemie in Europa und den USA ausbreitete, neigte sich der Sommer in Lateinamerika seinem Ende zu.7 Auch dort wütete sie schon, aber sie war noch im Wesentlichen auf die ecuadorianische Wirtschaftsmetropole Guayaquil an der Pazifikküste und die brasilianischen Agglomerationen São Paolo und Rio de Janeiro begrenzt. Mittlerweile waren auch die letzten Auslandsspanier und Italienreisenden zurückgekehrt und hatten unfreiwillig für die weitere Verbreitung des Virus in den Quartieren der lateinamerikanischen Mittelschichten und den abgeschotteten Villenvierteln der Wohlhabenden gesorgt, weil sie die ihnen empfohlene freiwillige Quarantäne überwiegend missachteten. Diese zusätzlichen Streuherde machten sich jedoch zunächst in Mexiko, der Karibik und in Südamerika statistisch kaum bemerkbar.

Trotzdem begannen die Gesundheitsexperten und Epidemiologen sich Sorgen zu machen. Der Herbst stand vor der Tür. Mit ihm kam in vielen – wenn auch keineswegs allen – Regionen die Zeit des Regens und der gesteigerten Luftfeuchtigkeit, auch wenn sich die Temperaturen in den äquatornahen Ländern kaum abkühlten. Dies konnte beim Übergang zum südamerikanischen Winter eine beschleunigte Übertragung und Ausbreitung des Erregers begünstigen. Hinzu kam, dass trotz aller extremen Klassenunterschiede auch in Lateinamerika die sozialen Transmissionswege manchmal recht kurz waren. Es war aus der Sicht der Wissenschaftler nur eine Frage der Zeit, wann die in den ›gehobenen‹ Vierteln tätigen Gelegenheitsarbeiter, Handwerker und Dienstboten die Coronaviren in die Armenviertel weitertransportieren würden. Dann würde es aber kein Halten mehr geben, und dann würden die Eindämmungsversuche zu einer Sisyphosaufgabe. Diese Befürchtung hatte auch deshalb viel für sich, weil der große Strom der Massenwanderungen in den Norden inzwischen gestoppt war. Die zentralamerikanischen Regime hatten nach dem Bekanntwerden der ersten Infektionsfälle die Grenzen geschlossen, die Eisenbahnlinien gestoppt und die Wanderrouten abgesperrt. In Mexiko saßen zehntausende Migrantinnen und Migranten fest. Ähnlich katastrophal sah es in den überfüllten Gefängnissen aus. Die Insassen der Haftanstalten und Lager sowie die Bewohner der metropolitanen Armenquartiere waren besonders gefährdet.

So kam es denn auch, zumindest in jenen acht lateinamerikanischen Ländern, die in der Zeit von April bis Ende Juli von der Pandemie besonders stark heimgesucht wurden.8 Der Pandemie waren die politischen, ethnischen, religiösen, sprachlich-kulturellen und teilweise auch die klimatischen Grenzen und Unterschiede gleichgültig. Entscheidend für ihre Dynamik waren die regional verdichteten Agglomerationen, in denen die Einkommensschwachen dicht gedrängt lebten und dem Geschehen fast schutzlos ausgeliefert waren. Dabei griff Covid-19 auch auf diejenigen Länder über, die ihr bislang erfolgreich getrotzt hatten. In Ecuador setzte sie von der Hafenstadt Guayaquil zur Hauptstadt Quito über. In Chile eroberte sie die Metropolregion Santiago und behielt sie monatelang im Griff. Bis Ende April setzte sie sich in den Vororten und Einzugsgebieten der brasilianischen Provinzhauptstädte von Ceará, Amazonas und Pernambuco fest und initiierte in Manaus (Amazonas) ein Massensterben. Anfang Mai erreichte die Massenerkrankung die Armenviertel von Mexico City und kurz danach von Buenos Aires. Die Barrios der kolumbianischen Metropole Bogotá, der peruanischen Hauptstadt Lima und von Boliviens Metropolregion La Paz folgten wenig später.

Wie hätte es auch anders sein sollen? In den lateinamerikanischen Barrios und Favelas verfügt nur jeder dritte Haushalt über fließendes Wasser, Händewaschen und andere regelmäßige Verrichtungen der Basishygiene sind ausgeschlossen. Kühlschränke gibt es nur in jedem vierten Haushalt, die Menschen können sich keine Lebensmittelvorräte anlegen und müssen sich Tag für Tag auf den überfüllten Märkten mit dem Nötigsten versorgen. 50–70 % aller Erwerbstätigen sind prekäre Kleingewerbetreibende, Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter oder Straßenhändler. Wer ihnen Ausgehverbote erteilt oder sie unter Quarantäne stellt, liefert sie trotz der teilweise gezahlten Nothilfen dem Hunger aus. Zudem sind die Bewohnerinnen und Bewohner der Armutsquartiere überdurchschnittlich häufig chronisch erkrankt und deshalb besonders anfällig. Das öffentliche Gesundheitswesen ist jedoch seit langem nur noch ein Schatten seiner selbst und zu wirksamen Hilfeleistungen kaum fähig. Die WHO, internationale Hilfsorganisationen, kirchliche Träger und selbstorganisierte Basisinitiativen intervenierten, so gut es ging, und auch die regionalen Gesundheitsbehörden versuchen eine Wiederholung der Katastrophe von Guayaquil zu vermeiden. Dabei haben die Krisenstäbe einiger kleinerer Nationalstaaten durchaus Erfolge erzielt, so etwa in Uruguay und Costa Rica. In diesen Ländern existieren weitgehend intakte soziale Sicherungssysteme, und auch die Arbeits- und Lebensverhältnisse sind stabiler. Infolgedessen konnten die Gesundheitsbehörden ihr Vorgehen offen kommunizieren, weil ihre gezielten Isolierungs- und Quarantänemaßnahmen die Betroffenen nicht ins Elend stürzten.

Doch dies waren Ausnahmen. Ende Juli 2020 sah es so aus, als ob das weit gefächerte Engagement zur Abwendung einer humanitären Katastrophe zu kurz griffe. Die Pandemie bewirkte eine Verschärfung der Verelendung und der Hungerprobleme. Dies war in ersten Ansätzen auch in den USA zu beobachten, bislang aber aufgrund großzügiger bundesstaatlicher Unterstützungsmaßnahmen verhindert worden.

In den Statistiken schlugen sich die hier zusammengetragenen Beobachtungen nur unzureichend nieder, denn die Dunkelziffern der tatsächlich Infizierten und Verstorbenen waren offensichtlich noch weitaus höher als in Asien, Europa und den USA. Trotzdem vermitteln sie uns einen Eindruck, wenn wir sie mit den Minimalschätzungen der Experten über die Dunkelziffern der tatsächlich Infizierten (je nach Land um den Faktor 8–10) und bei den Verstorbenen (Faktor 1,5–1,8) multiplizieren.9

Am 6. Mai 2020 rangierte Brasilien mit insgesamt etwa 116.300 positiv Getesteten, 6.000 Neuinfizierten und 8.000 Verstorbenen als größtes lateinamerikanisches Land direkt hinter den USA auf Platz zwei.10 Bis zum Stichtag 28. Mai befand es sich mit 346.400 positiv Getesteten, 16.300 Neuinfizierten und 22.000 Todesopfern auf derselben Position. An diesem Tag kam erstmalig ein zweites lateinamerikanisches Land, nämlich Peru, dazu. Ab Mitte Juni schloss Chile auf, und am 26. Juni war es nach Brasilien (weiter Platz 2 hinter den USA) und Peru (inzwischen an sechster Stelle) auf der siebten Position zu finden. Zu diesem Zeitpunkt waren in Brasilien längst über eine Million Erkrankte (1,2 Millionen) sowie 53.800 Verstorbene registriert worden; in Peru waren es inzwischen 264.700 bzw. 6.000, und in Chile 254.400 bzw. 4.700. In den folgenden Wochen kam schließlich auch Mexiko dazu. Wie stark das dritte Epizentrum mittlerweile das globale Pandemiegeschehen dominierte, zeigte sich am Stichtag 21. Juli. Brasilen lag unverändert mit jetzt insgesamt 2,1 Millionen Erkrankten, 33.400 registrierten Neuinfizierten und 80.100 Verstorbenen an zweiter Stelle; Peru, Mexiko und Chile rangierten auf den Plätzen 6 bis 8 mit registrierten Infizierten in einer Spanne zwischen 354.000 und 331.000. Die Zahl der positiv Getesteten verharrte weiter auf einem hohen Plateau, aber bei den Todesopfern verfügte Mexiko mit 39.600 (gegenüber 13.200 bzw. 8.500 in Peru und Chile) inzwischen über einen traurigen Vorsprung. Wie stark die Epizentren USA und Lateinamerika mittlerweile die Dynamik der Pandemie dominierten, demonstrierte der WHO-Lagebericht einen Tag später.11 Weltweit hatten sich inzwischen knapp 14,8 Millionen Menschen nachweislich infiziert, und 612.000 waren dem Virus zum Opfer gefallen. Davon stammten 7,81 Millionen Erkrankte und 313.800 Todesopfer aus Nordamerika, der Karibikregion und Südamerika.

Aus Platzgründen war es nicht möglich, den Pandemieverlauf in den acht näher untersuchten Ländern Lateinamerikas auch nur kursorisch nachzuzeichnen. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass sich ihre Dynamik keineswegs in den großen Agglomerationen erschöpfte. Da es dort für die betroffenen Unterklassen trotz aller – noch später zu erörternder – Gegenmaßnahmen fast keine Schutzmöglichkeiten gab, versuchten viele Familien notgedrungen, sich dem Unheil durch die Flucht zu entziehen oder zumindest die seit längerem unterbrochenen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den entlegenen ländlichen Regionen wieder aufzubauen, aus denen sie vor Jahren abgewandert waren. Dabei entwickelte sich eine neuartige Untergrundökonomie, die sich teilweise mit den ohnehin schon bestehenden informellen Sektoren überschnitt, teilweise aber auch neue Techniken des Überlebens herausbildete. Mit dieser Seite der Pandemie werden sich spätere Historiker noch ausführlich beschäftigen. Für unsere Fragestellung ist jedoch ein anderer Kontext von Bedeutung: der Weitertransport des Erregers bis in die entlegensten ländlichen Regionen. In den Statistiken der Gesundheitsbehörden der jeweiligen Nationalstaaten lässt sich dieser Trend gut ablesen. Aus dem Großraum Buenos Aires siedelten die blinden Passagiere vorrangig in die Bundesstaaten Chaco und Córdoba über. La Paz verließen sie in Richtung Santa Cruz, Tarija und Oruro, wobei in der Provinz Santa Cruz fast doppelt so viele Menschen starben wie in der Hauptstadt. In Brasilien schwärmten sie aus den inzwischen stärker als São Paolo und Rio de Janeiro betroffenen Hauptstädten der Provinzen Ceará, Amazonas und Pernambuco ins Umland aus, begleiteten die Flüchtigen aber auch in die Provinzen Pará, Maranhão und Espírito Santo. Santiago verließen sie in Richtung Valparaíso, Antofagasta und Tarapacá. Aus Guayaquil und Quito machten sie sich vor allem in Richtung Pichincha und Manabí auf die Wanderschaft. Den kolumbianischen Bundesdistrikt Bogotá verließen sie in Richtung Atlántico, Valle del Cauca und Bolívar. Aus der Metropole und dem Bundesstaat Mexico emigrierten sie im Juni und Juli vorrangig nach Tabasco, Veracruz und Puebla. Besonders großflächig verlief ihr Exodus aus Lima, wo sie nur wenige Zentralregionen aussparten und sich diffus im Nordosten und im gesamten Weststreifen ausbreiteten.

Auch die epidemiologischen Aspekte des lateinamerikanischen Pandemiegeschehens wurden untersucht, wobei vor allem Brasilien in den Fokus rückte.12 Ihren Ergebnissen zufolge war die Übertragungsdynamik von Anfang an hoch, schwächte sich bis Anfang Mai ab und beschleunigte sich anschließend wieder. Die Durchseuchung der Bevölkerung schwankte zwischen 3,3 % in São Paolo und 10,6 % in Amazonas. Trotz dieser rasanten Entwicklung lag Brasilien nicht an der Spitze der Fallsterblichkeit in Lateinamerika.13 Sie war in Chile und Peru Ende Juni 2020 mit jeweils knapp 30 Verstorbenen pro 100.000 Einwohner höher als in Brasilien (27,8), Ecuador (26,3) und Mexiko (21,4). Diese Relationen sind aufgrund der vielfältigen Vertuschungsmanöver der involvierten Regierungen nur begrenzt aussagekräftig. Aber selbst wenn wir sie mit den von den Experten vorgeschlagenen Dunkelziffern multiplizieren, fällt die Relation der Sterbefälle pro 100.000 Einwohner zu diesem Zeitpunkt noch immer deutlich niedriger aus als in den europäischen Ländern Belgien (85,2), Großbritannien (65,7), Spanien (60,7), Italien (57.5) und Schweden (52,1).14

Das weltweite Wiederaufflackern der Pandemie

Während sich im Anschluss an die erste Welle der Coronapandemie die Epizentren in den USA und Lateinamerika herausbildeten, verstärkten sich im Mai–Juni 2020 einige Anzeichen, die auf den Beginn eines globalen Wiederaufflackerns hindeuteten. Weltweit entstanden neue Infektionsherde, und zwar auch in denjenigen Regionen, die Covid-19 unter erheblichen Anstrengungen unter Kontrolle gebracht hatten oder von der Pandemie bislang weitgehend verschont geblieben waren. Dadurch veränderte sich ihr Charakter in wesentlichen Punkten. Deshalb werde ich kurz die regionalen Entwicklungen skizzieren und die Unterschiede zur ersten Pandemiewelle herausarbeiten.

Ostasien und westliche Pazifikregion

Dass die Übergangsetappe auch diejenigen Länder nicht aussparte, deren Gesundheitsbehörden bislang erfolgreich agiert hatten, zeigt der Blick auf Ostasien und die westliche Pazifikregion. In Vietnam hatte es seit einiger Zeit keine neu registrierte Infektion mehr gegeben.15 Dann tauchte gegen Ende Juli in der Küstenstadt Danang, einem beliebten Badeort, ein neues Cluster auf, das innerhalb weniger Tage Ableger in Hanoi, Ho Chi Minh-Stadt und in zwei Zentralprovinzen ausbildete. Der Virusstamm war neuartig und verwies gleich mehrfach auf den ominösen Ursprung der Pandemie, nämlich auf die exotischen Wildtiermärkte und papierlose chinesische Immigranten.

Auch die Sonderverwaltungszone Hongkong hatte die erste Phase von Covid-19 trotz ihrer exponierten Lage als dicht bewohntes Transitzentrum von und nach China hervorragend gemeistert.16 Im Verlauf des Mai war es jedoch wie in Wuhan zu neuen Ausbrüchen gekommen, und Anfang Juli registrierten die Gesundheitsbehörden zahlreiche neue Infektionsherde. Im Gegensatz zu Vietnam hatten sie ihren Ursprung im Logistiksektor, dessen Beschäftigte – LKW-Fahrer, Schiffsbesatzungen und Flugzeug-Crews – von den Reisebeschränkungen ausgenommen waren. Bis Ende Juli 2020 lagen die Fallzahlen weitaus höher als in den Vormonaten, und ganze Wohnviertel und mehrere Altenheime waren betroffen. Erstmals seit Pandemiebeginn stießen die klinischen Behandlungskapazitäten an ihre Grenzen.

Wie in Vietnam und Hongkong waren auch die Gesundheitsbehörden Australiens kompromisslos und zunächst auch erfolgreich gegen die neue epidemiologische Herausforderung vorgegangen.17 Auch einige im Mai 2020 neu entstandene Cluster hatten sie erfolgreich eingedämmt. Gegen Ende Juni verloren sie jedoch die Kontrolle über das weitere Geschehen, und der exponentielle Anstieg der Infektionszahlen dauerte bis Anfang August an. Besonders betroffen waren die Gliedstaaten Victoria mit Hotspots in den Vororten Melbournes und New South Wales. In diesem Fall bildeten die Fleisch- und Lebensmittelfabriken mit ihren sozial ungeschützten und auf enge Wohnbereiche zusammengepferchten Beschäftigten besonders exponierte Streuherde.

Dies waren jedoch nur die drei wichtigsten regionalen Beispiele. Ab Mitte Juli wurden auch aus Japan, China und Südkorea neue Ausbrüche gemeldet. In der globalen Bilanz ließen sich diese Entwicklungen zunächst kaum ablesen, hier rangierten Ostasien und die westliche Pazifikregion weiter an letzter Stelle. Aber die Zahl der registrierten Infizierten war von knapp 200.000 Mitte Juni auf über 300.000 Ende Juli gestiegen, und zwar in Australien, Hongkong und Vietnam am stärksten.18

Afrika

Sieht man von Südafrika ab, so war das subsaharische Afrika bislang ein Randphänomen des Pandemiegeschehens gewesen. Diese Situation wendete sich im Verlauf des Juni 2020 deutlich zum Schlechteren.19 Seit Mitte Juni stiegen die Fallzahlen in den 54 Ländern kontinuierlich und verdoppelten sich bis zur dritten Juliwoche auf über 20.000 täglich. Dabei entfiel mehr als die Hälfte aller Fälle auf Südafrika, wo bis Ende des Monats mehr als 470.000 Menschen positiv getestet wurden. Die Situation in Südafrika wurde zu einer Warnung. Es wurde zunehmend für möglich gehalten, dass sich Afrika im Verlauf der Übergangsetappe verspätet hatte, dafür aber umso folgenreicher zu einem neuen Gravitationspunkt der Pandemie entwickeln könnte.

Es gab jedoch auch gegenläufige Tendenzen. Nur in der Hälfte der Länder des subsaharischen Afrikas verdoppelte sich seit Mitte Juni 2020 die Zahl der positiv Getesteten, und zwar vor allem in Nigeria, Ghana, Kenia, Kamerun, Äthiopien, Elfenbeinküste, Madagaskar, Sambia und Senegal. Dabei waren die Massenquartiere der großstädtischen Agglomerationen besonders betroffen, in die die aus der Golfregion und Südostasien zurückgekehrten Wanderarbeiter die Coronaviren einschleppten. Diesen Schwerpunkten standen Länder mit niedrigen oder stabilen Fallzahlen gegenüber, auch wenn die geringen Testkapazitäten teilweise auf erhebliche Dunkelziffern hinwiesen. In den von der Zwischenphase erfassten Ländern war die Lage jedoch trotz aller mithilfe der WHO durchgeführten Vorkehrungen prekär. Das Gesundheitswesen ist wie in Lateinamerika flächendeckend unterausgebaut und auch in den Agglomerationen unterfinanziert. Intensivmedizinische Kapazitäten gibt es in der Regel nur in den Hauptstädten. Schon zu Beginn der Übergangsetappe waren die Reserven an Schutzausrüstungen und medizinischem Gerät erschöpft. Berichten der WHO zufolge infizierten sich aufgrund dieser Mangelsituation mehr als 10.000 Angehörige der Gesundheitsberufe mit dem Erreger.

Trotz dieser Überlastungssituation starben auch in der Übergangssituation im subsaharischen Afrika verhältnismäßig wenige Menschen an den Folgen der Infektion; nur in Südafrika verwiesen die Schätzungen der Übersterblichkeit auf eine zeitweilig markante Dunkelziffer. Dieser Befund ist vor allem auf das jugendliche Durchschnittsalter der Bevölkerung von 19,5 Jahren zurückzuführen (in Europa beträgt der Altersmedian 43 Jahre).

Europa

Das erste Epizentrum der Pandemie außerhalb Asiens hatte bis Mitte April das Schlimmste überstanden, aber der Preis – eine hohe Fallsterblichkeit bei den Schwerkranken und Senioren – war erschreckend gewesen. Danach waren die Infektions- und Sterblichkeitsziffern zwei Monate lang deutlich rückläufig oder verharrten – wie etwa in Großbritannien, Russland und Schweden – auf einem etwas niedrigeren Niveau. Bei den sechs von der WHO täglich dokumentierten Weltregionen rangierte der Alte Kontinent Mitte Juni mit einer Gesamtzahl von 2,52 Millionen registrierten Infizierten und knapp 150.000 Todesopfern hinter beiden Amerikas (Nord- und Lateinamerika) auf Platz zwei, und die übrigen Weltregionen folgten mit weitem Abstand.20 Für das von vielen Experten befürchtete neuerliche Aufflackern der Pandemie gab es zunächst keine eindeutigen Hinweise.

Diese Gewissheit verflüchtigte sich seit Mitte Juni 2020 in mehreren Etappen.21 Immer wieder entstanden einzelne lokale Infektionsherde, die – wie etwa der Skandal um den deutschen Schlachthofkonzern Tönnies22 – frappierende Parallelen zu analogen Clusterbildungen in der australischen oder US-amerikanischen Fleischindustrie aufwiesen. Sie konnten jedoch zunächst durch gezielte Massentestungen und die minutiöse Analyse der Übertragungswege eingedämmt werden. Das änderte sich jedoch, sobald mehrere und zudem deutlich größere Cluster gleichzeitig auftraten, wobei den blinden Passagieren verschiedene Schwachstellen der Infektionsabwehr zugutekamen.23 Im englischen Leicester nutzten ihnen die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen der Textilarbeiter, die in den Jahrzehnten zuvor aus Südasien eingewandert waren. Von hier aus eroberten sie die benachbarten Stadtviertel. In Deutschland kam es zu weiteren Clusterbildungen in der Fleischindustrie, aber auch ein erheblicher Teil der auf einer niederbayerischen Gemüsefarm angeheuerten südosteuropäischen Wanderarbeiter infizierte sich. Es gab zahlreiche weitere Beispiele, die auf die gestiegene Gefährdung der gesellschaftlichen Unterklassen hinwiesen, so etwa die sich häufenden Erkrankungen beim Dienstpersonal des Beherbergungsgewerbes und der Gastronomie. Weitere Schwachstellen bildeten das Wiederaufleben religiöser Feiern und Jugendcamps, das wieder in Gang gekommene Club- und Nachtleben sowie die Eröffnung der Badestrände.

Derartige Konstellationen konnten zwar mit den inzwischen erworbenen Fähigkeiten gezielt angegangen, isoliert und zurückverfolgt werden. Sie überkreuzten sich jedoch zunehmend mit der Wiederaufnahme der internationalen Geschäftsreisen und des Urlaubstourismus. Hier ließ die von einer breiten Mehrheit während der ersten Pandemiephase geübte Selbstdisziplin nach. Sobald Rückreisende aus Risikogebieten die ihnen nahegelegte Testung und Selbstquarantäne unterließen, konnten sich die Erreger aufgrund ihres unterschiedlichen pathogenen Verhaltens gegenüber ihren unfreiwilligen Wirten und Überträgern wieder unkontrolliert ausbreiten.

Ab Mitte Juli war klar, dass sich auch in Europa der Übergang zu einer zweiten Welle anbahnte. Die regionalen Schwerpunkte bildeten sich jedoch zunächst nur in der Peripherie aus. Dabei waren Länder betroffen, die sich bislang – wie etwa die Kleinstaaten des Westbalkans – vollkommen am Rand des Geschehens befunden hatten. Andere waren dagegen schon im März–April 2020 schwer heimgesucht worden, so etwa Katalonien und die benachbarten nordspanischen Provinzen. Ein mächtiger Schub ging zusätzlich von der Russischen Föderation aus, die mit ihren exponentiell angestiegenen Infektionszahlen inzwischen auch aus globaler Perspektive einen Kernbereich der Übergangsetappe darstellte. Seit Ende Juli stiegen schließlich auch in weiteren Peripherieländern sowie in Teilen der europäischen Kernzone die Fallzahlen, insbesondere in Bulgarien, Rumänien, Tschechien, Slowenien und Luxemburg. In diesen Ländern wurden auch die klinischen Kapazitäten außergewöhnlich stark beansprucht. In den globalen Statistiken fand diese Entwicklung noch keinen Niederschlag. In der 30. Berichtswoche (20.–28. Juli 2020) dokumentierte das WHO-Regionalbüro Europa eine Gesamtzahl von knapp 3,23 Millionen nachgewiesenen Infizierten, von denen 27 % den Gesundheitsberufen angehörten und sich 151.000 in der Berichtswoche neu angesteckt hatten. 210.378 Patientinnen und Patienten waren verstorben; 90 % von ihnen waren älter als 65 Jahre, und 81 % hatten an kardio-vaskulären Vorerkrankungen gelitten.24

Naher und Mittlerer Osten

Während sich die Zwischenetappe in Ostasien, Afrika und Europa in mehreren Schritten aufbaute und nur langsam verstärkte, traf sie den Nahen und Mittleren Osten mit voller Wucht.25 Ihre Ausbreitung verlief wie im März und April von Osten nach Westen, wobei der Iran und Saudi-Arabien die entscheidenden Ausgangspunkte bildeten. Zuerst wurden die Golfregion und der arabische Osten erfasst. Darauf folgte die Levante mit Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten als Hotspots, während die weitere Entwicklung des regionalen Geschehens im Süden von Ägypten und der Türkei im Norden flankiert wurde. Der übrige arabische Westen (Nordafrika bzw. Maghreb) wurde erst spät erfasst und blieb mit Ausnahme Marokkos wenig betroffen.

In den statistischen Übersichten spiegelte sich diese geografische Dynamik nur andeutungsweise wider.26 Sie weisen jedoch auf eine spezifische epidemiologische Schwerpunktbildung hin, die sich im Mai–Juni 2020 herausbildete und sich bis Mitte August nicht veränderte. Das von der Pandemie am stärksten betroffene Königreich Saudi-Arabien wurde dabei von den beiden nichtarabischen Nationalstaaten Iran und Türkei eingerahmt. Auf den nächsten Plätzen folgten – in nur geringfügig wechselnder Reihung – die Golfstaaten Katar, Irak, Oman, Kuweit, Vereinigte Arabische Emirate und Bahrain. Aus der westarabischen Subregion waren lediglich Ägypten und mit deutlichem Abstand Marokko vertreten. Die Länder der Levante wurden erst ab Juli von der Übergangsetappe erfasst. Sie traten aber quantitativ kaum in Erscheinung. Bis Mitte August 2020 lag der Schwerpunkt des Pandemiegeschehens weiter in der Golfregion und im arabischen Osten.

Blicken wir zunächst kurz auf die drei großen Nationalstaaten des Nahen und Mittleren Ostens, in denen sich die neuen Hotspots zuerst aufbauten. Im Iran war die Zahl der nachgewiesenen Neuinfektionen Ende April bis Anfang Mai deutlich zurückgegangen, und auch die Sterbefälle waren rückläufig.27 Danach setzte ein markanter Wiederanstieg ein, der auf die Ausbreitung des Virus in den südlichen Provinzen – insbesondere Kuzistan und Sistan-Baluchistan – zurückzuführen war. Er beschleunigte sich in den folgenden zwei Monaten weiter und erreichte bis zu 20.000 Neuinfizierte wöchentlich. Auch die Sterbeziffern erhöhten sich wieder, wenn auch deutlich verlangsamt. Erst Anfang August stabilisierte sich die Lage auf hohem Plateau. Mit über 300.000 registrierten Infizierten und 17.400 Verstorbenen blieb der Iran Hotspot des regionalen Pandemiegeschehens.

Der zweite mittelöstliche Schwerpunkt und Impulsgeber für die neuerliche Ausbreitung der Pandemie war Saudi-Arabien.28 Hier hatte sich die Ausbreitung der Infektionsketten erst im Verlauf des Mai abgeschwächt. Zu Beginn der zweiten Juniwoche kehrte sich dieser Trend jedoch um. Die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen stieg zeitweilig auf über 4.000 und unterschritt erst ab Mitte Juli die 2.000-Marke. Die Sterbefälle folgten dieser Entwicklung in etwa einwöchigem Abstand, blieben aber vergleichsweise niedrig. Gleichwohl schloss Saudi-Arabien zunehmend zum bisherigen Pandemiezentrum auf der östlichen Seite des Persischen Golfs auf. Am 4. August 2020 dokumentierte die WHO eine Gesamtzahl von knapp 280.100 laborbestätigten Fällen, nur noch etwa 30.000 Infizierte weniger als im Iran.29 Der Anteil der Verstorbenen war jedoch erheblich niedriger.

Das wichtigste Phänomen der Zwischenetappe im Nahen und Mittleren Osten war indessen die rasante Ausbreitung des Coronavirus in den Nachbarstaaten des Irans und Saudi-Arabiens.30 Bislang hatte sich die Ausbreitung der Infektionsketten auf diese Ländergruppe in engen Grenzen gehalten. Dies änderte sich jedoch im Verlauf des Juni 2020 schlagartig. Vor allem im Irak und in Katar wurde ein exponentieller Anstieg der Infektionszahlen registriert, im Irak beispielsweise um fast das Achtfache. In Katar war der Anstieg sogar noch rasanter, und zwar aufgrund der Tatsache, dass die ausländischen Wanderarbeiter, die etwa 90 % der Gesamtbevölkerung ausmachten, lange Zeit aus der vergleichsweise hoch entwickelten Gesundheitsversorgung ausgeklammert blieben. In dieser Hinsicht war der Fall Katar ein typisches Beispiel für die besonderen Ausbreitungsbedingungen der blinden Passagiere in den Golfstaaten; das Land wies zudem relativ zu seiner Bevölkerungsgröße die weltweit größte Infektionshäufigkeit auf. Im Irak begünstigte hingegen die durch den latenten Bürgerkrieg beschleunigte Mobilität die rasante Ausbreitung des Virus. Hier waren vor allem die Provinzen Sulaymaniya, Maysan, Erbil und Najaf betroffen, und erst an fünfter Stelle die Agglomeration Bagdad. In den Golfstaaten konzentrieren sich die Schwerpunkte der Pandemie dagegen auf die Massenquartiere der ausländischen Bauarbeiter in den Vorstädten der Metropolen. Anfang August 2020 berichteten die Gesundheitsbehörden Iraks und Katars der WHO über insgesamt 131.900 bzw. 111.300 laborbestätigte Infizierte und 4.934 bzw. 177 an oder mit Covid-19 Verstorbene.31

Ein besonderes Phänomen der nah- und mittelöstlichen Pandemieentwicklung war die Levante. Sie war einerseits von den epidemiologischen Entwicklungen in der Türkei und Ägypten abhängig, wobei vor allem der zeitweilig rasante und ab Ende Juli 2020 erneut beschleunigte Anstieg der Infektionszahlen eine wichtige Rolle spielte; immerhin rückte die Türkei im Verlauf des Juli 2020 hinter dem Iran und Saudi-Arabien auf Platz 3 der am stärksten betroffenen Nationalstaaten der Region vor und wies Anfang August 233.800 laborbestätigte Infektionsfälle aus.32 Gleichzeitig entwickelte sich jedoch eine spezifische Eigendynamik. Die erste Pandemiewelle hatte Israel bis Mitte April unter dem Einsatz neuer epidemiologischer Erfassungstechnologien und mithilfe drakonischer Gegenmaßnahmen erfolgreich unter Kontrolle gebracht.33 Ab Mitte Juni stiegen die täglichen Fallzahlen jedoch erneut und entwickelten gegen Ende des Monats eine unerwartete Dynamik. Aus zahlreichen kleineren Infektionsherden entstanden neue Schwerpunkte des Infektionsgeschehens in Jerusalem, Bnei Brak, Tel Aviv-Jaffa und Ashdod. Wie in Katar blieben die Sterbefälle niedrig, auch wenn ein leichter Anstieg zu verzeichnen war. Die Übergangsetappe übertraf die erste Welle von März–April bald bei weitem. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen stieg Anfang Juli auf über 1.000 und verharrte wochenlang auf diesem Niveau. Die Gesamtzahl der positiv getesteten Infizierten stieg von Mitte Juni bis Anfang August 2020 um fast das Vierfache.34

Die palästinensischen Autonomiegebiete wurden erst ab Mitte Juli 2020 in diese Dynamik einbezogen.35 Bis Ende Juni waren nur einige kleinere Infektionsherde lokalisiert und eingedämmt worden, aber dies änderte sich nun drastisch. Die Infektionszahlen stiegen exponentiell, und zwar vor allem in Bethlehem, der Provinz Hebron, in Ost-Jerusalem und schließlich auch in Ramallah; sie erhöhten sich von Anfang Juli bis Anfang August 2020 um fast das Fünffache.36 Zu Recht war das zuständige Regionalbüro der WHO über diese Entwicklung alarmiert, zumal sie mit erneut ansteigenden Erkrankungsziffern im Libanon, in den Bürgerkriegsgebieten (Syrien, Libyen und Jemen) sowie im arabischen Westen (Ägypten und Marokko) einherging. Der Nahe und Mittlere Osten entwickelte sich seit Mitte Juli immer deutlicher zu einem neuen Epizentrum, das die zweite Pandemiewelle ankündigte, und dies war gerade in dieser Region mit ihren zahlreichen Flüchtlingslagern und ihrer völlig unzureichenden Berichterstattung aus den Bürgerkriegsgebieten mit unwägbaren Risiken verbunden.

Südasien

Zunächst deutete nichts darauf hin, dass der von 1,7 Milliarden Menschen bewohnte Subkontinent der zweiten Pandemiewelle als weiteres Epizentrum vorangehen würde. Gegen Ende der ersten Maiwoche wurden in Indien 49.000 laborbestätigte Erkrankungen und knapp 1.700 Todesopfer gezählt; in Pakistan waren es 22.500 bzw. 526 und in Bangladesch 11.000 bzw. 183.37 Das waren angesichts der enormen Bevölkerungsgrößen dieser Länder keine beindruckenden Zahlen. Auch die epidemiologische Lage gab keinen Anlass zur besonderen Beunruhigung. Die von der indischen Zentralregierung am 22./24. März verhängten drakonischen Maßnahmen hatten die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Erregers erheblich verlangsamt. In Bangladesch entstanden bis Ende Mai nur wenige neue Cluster. Besonders bemerkenswert war die Situation in Pakistan. Noch Ende April hatten die Experten über die niedrige Infektionsdynamik des geografisch exponierten Entwicklungslands gerätselt.38 In den Wochen danach waren die Zahlen etwas gestiegen, verharrten aber bis Monatsende auf einem stabilen Plateau.

Dies war jedoch nur die Ruhe vor dem Sturm, insbesondere in Indien.39 Hier erwies sich die von Premierminister Narendra Modi gewählte harte Variante des Lockdowns mit ihrer über alle Einwohner verhängten Ausgangssperre, den Betriebsschließungen und der Einfrierung des öffentlichen Lebens als Bumerang. 20 bis 30 Millionen Wanderarbeiter hatten über Nacht ihre Arbeit verloren und waren in den Massenquartieren der Megacities eingesperrt. Kurzfristig schreckten sie die zur Prügelstrafe ermächtigten Polizeistreifen ab, aber bald war der Hunger mächtiger. Zusammen mit ihren Familienangehörigen brachen sie aus den Pandemieghettos aus und wanderten bettelnd in ihre manchmal mehrere hundert Kilometer entfernten Heimatorte zurück. Es gelang der Zentralregierung und den Verwaltungen der Bundesstaaten, den Massenexodus ab Anfang Mai durch den Einsatz von Fernbussen und die Wiedereröffnung der großen Bahnlinien zu steuern und mithilfe sozial- und ernährungspolitischer Notprogramme eine Hungerkatastrophe zu verhindern. Aber weder die Bundesstaaten noch ihre Gesundheitsbehörden konnten verhindern, dass die blinden Passagiere die Flüchtlingstrecks bis in die entlegensten Provinzen begleiteten. Auch in den Slums der metropolitanen Agglomerationen vermochte sie kein noch so strenges Seuchenregime zu stoppen. Vielleicht sind sie aber auch nur deshalb in den Statistiken so stark repräsentiert, weil die epidemiologische Erfassung und Überwachung des Infektionsgeschehens erst ab Juli 2020 auf die entlegenen Regionen des Kontinents ausgedehnt wurde. Den Berichten der zentralen und bundesstaatlichen Gesundheitsbehörden sowie der WHO-Ländergruppe zufolge massierten sich die Infektionsketten im Juni in den Bundesstaaten Maharashtra (mit der 20 Millionen-Metropole Mumbai), Delhi, Gujarat, Tamil Nadu, Uttar Pradesh und Westbengalen. Bis Anfang August wurden auch die zentral gelegenen Bundesstaaten ausgehend vom Norden, Westen und Süden in das Pandemiegeschehen einbezogen.

Hinter den hier nur knapp skizzierten Ausbreitungswegen steckte eine außergewöhnliche Dynamik, die sich eindrucksvoll in den Zahlen niederschlug. Am 19. Mai wurden erstmalig mehr als insgesamt 100.000 Inderinnen und Inder positiv auf SARS-CoV-2 getestet, am 3. Juni waren es 200.000, und am 17. Juli überschritten die positiven Laborergebnisse die Marge von einer Million. Weitaus aufschlussreicher sind jedoch die Zahlen, die sich aus dem Abgleich der kumulierten Infektionshäufigkeit mit den Genesenen ergeben. Hier gab es keine Annäherung, die Schere klaffte vielmehr immer stärker auseinander. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit war unverändert, und dies erklärt, weshalb Indien im Verlauf der Zwischenetappe hinter den USA und Brasilien zu den am stärksten betroffenen Ländern aufrückte. Am 21. Juni 2020 gab es in Indien knapp 170.000 akut an Covid-19 Erkrankte. Ihre Zahl stieg bis zum 2. August auf 567.700; den registrierten Infizierten standen inzwischen fast doppelt so viele Genesene – 1,1 Millionen – gegenüber.40 Parallel dazu verlagerten sich auch die regionalen Schwerpunkte etwas. Maharashtra und Mumbai wiesen noch immer die meisten aktiv Infizierten, Genesenen und Verstorben auf, gefolgt von Tamil Nadu, Delhi und Gujarat.

Aus dieser fast ungebremsten Ausbreitung könnte man schlussfolgern, dass die indischen Behörden und Gesundheitsexperten aufgrund der paradoxen Effekte des Lockdowns die Kontrolle vollends verloren und die weitere Entwicklung tatenlos hinnahmen. Dies war jedoch keineswegs der Fall. Vielmehr holten sie mit tatkräftiger Unterstützung der WHO-Ländergruppe ab Ende Juni 2020 nach, was schon im März–April sinnvoll gewesen wäre. Sie gingen zu Massentestungen über, organisierten mobile Teststationen und schickten mobile Schnelltestlabore in die abgelegenen Regionen. In den regionalen Schwerpunkten wurden Fieberkliniken und riesige Behandlungszentren aufgebaut, wofür die Sicherheitsbehörden ihr medizinisches Personal zur Verfügung stellten. Zusätzlich überwachten zahlreiche epidemiologische Trupps die Isolations- und Quarantänemaßnahmen in den lokalen Hotspots. Die Kehrtwende führte zu einer bemerkenswerten Reduktion der Fallsterblichkeit, die ab August mit 2,4 % weit unter dem globalen Durchschnitt lag. Einige Monate später lagen auch die ersten repräsentativen Untersuchungsergebnisse zur Schätzung der tatsächlichen Infektionsrate vor. Sie zeigten, dass sich bis Ende Juli 22,9 % der Bevölkerung des Großraums Delhi und 57 % der Bewohner der Massenquartiere in den Außenbezirken Mumbais mit dem Coronavirus infiziert hatten und mittlerweile immun waren. Aus diesen Befunden ergab sich eine auf die tatsächliche Gesamtzahl der Infizierten bezogene Letalitätsrate zwischen 0,1 und 0,3 %.41

Angesichts der Dramatik und des Ausmaßes des Geschehens in Indien standen die Nachbarländer Pakistan und Bangladesch im Schatten der regionalen Entwicklung. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass auch hier die Pandemie in der Übergangsetappe Fuß fasste und sich rasant ausbreitete.42 In Pakistan schwächte sich der Anstieg in der zweiten Maihälfte ab. Im Juni kam es dann aber zu einer exponentiellen Steigerung auf bis zu knapp 7.000 Neuinfizierten täglich, wobei vor allem die Provinzen Punjab, Sindh (mit der Metropolregion Karachi), Baluchistan und Khyber Pakhtunkhwa betroffen waren. Der Anstieg flachte kurzfristig wieder ab und beschleunigte sich ab Mitte Juli erneut; die tägliche Fallsterblichkeit folgte dieser Entwicklung in einem etwa einwöchigen Abstand. Dagegen verzeichneten die Gesundheitsbehörden Bangladeschs einen eher kontinuierlichen Verlauf, der möglicherweise mit der allmählichen Vergrößerung der Testkapazitäten zu tun hatte. Hier stiegen die Infektionszahlen ab Anfang Mai und erhöhten sich schrittweise, gefolgt von einem diskontinuierlichen – und ebenfalls erstaunlich niedrigen – Anstieg der Sterbefälle. Brennpunkt des Geschehens waren und blieben dabei die vorstädtischen Massenquartiere der Metropole Dhaka und die regionalen Zentren der Textilindustrie, deren Beschäftigte von den Schutzmaßnahmen weitgehend ausgeklammert blieben. Zum 4. August 2020 meldeten die drei südasiatischen Hauptländer der Weltgesundheitsorganisation insgesamt etwa 2,378 Millionen laborbestätigte Erkrankungen und 48.121 Todesfälle. Dabei lag Indien mit einem Anteil von knapp 1,856 Millionen Infizierten und 38.938 Verstorbenen weit vorn und gehörte hinter den USA und Brasilien zur Spitzengruppe der am stärksten betroffenen Länder.43