1.DAS VIRUS EROBERT DEN MENSCHEN

Das Virus in seiner natürlichen Umwelt

Das Virus SARS-CoV-2 gehört zu einer Untergattung der Coronarviren, den sogenannten Betacoronaviren.1 Als natürliches Reservoir nutzen diese vergleichsweise großen, kugelrunden und mit keulenartigen Fortsätzen (›spikes‹) ausgestatteten Viren die Fledermäuse. Die Fledermäuse und Flughunde sind die einzigen Säugetiere, die zu fliegen vermögen und deshalb über einen großen Radius verfügen. Sie sind weltweit in großen Populationen verbreitet. Sie beherbergen zahlreiche Viren, die immer wieder einmal auf andere Tierarten und den Menschen übertragen werden. In Südost- und Ostasien sind die Fledermäuse besonders häufig anzutreffen. Sie koexistieren dort mit zahlreichen Varianten der Coronaviren, die mit dem Erreger von Covid-19 eng verwandt sind.2 Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte in dieser Weltregion ist ihr Kontakt zu den Menschen recht eng. Da seit Beginn des neuen Millenniums aus diesem natürlichen Reservoir schon zweimal stark krankmachende Virusarten auf den Menschen übertragen wurden (Zoonosen) und bei ihm ein schweres akutes Atemwegssyndrom auslösten, werden die Übertragungswege intensiv erforscht.

Wie alle Coronaviren ist auch das SARS-CoV-2 ein RNA-Virus. Sein Erbgut (Genom) ist einsträngig angeordnet, unsegmentiert und positiv gerichtet. Auf ihm sind knapp 30.000 Bausteine (Nukleotide) miteinander verknüpft. An den beiden Enden befinden sich kürzere Abschnitte, die an der Übertragung der Erbinformationen nicht teilnehmen. Die Hauptmasse der Nukleotide ist so angeordnet, dass sie zehn virusspezifische Proteine codieren können. Diese Polypeptide bewerkstelligen u. a. den Aufbau der Virushülle, der Membran, der für die Vervielfältigung des Genoms zuständigen RNA-Polymerase und des Spike-Proteins.

Für die Anbindung der Viruspartikel (Virionen) an die jeweilige Wirtszelle ist das aus der Hülle herausragende Spike-Protein zuständig. Es verfügt über zwei Domänen (S1 und S2): S1 besorgt die Anbindung des Virus an den Oberflächenrezeptor der Wirtszelle, S2 führt die Verschmelzung der beiden Zellmembranen herbei. Daraufhin aktiviert ein spezifisches Enzym der Wirtszelle den Infektionsvorgang, und nun kann der Erreger in die Wirtszelle eindringen.

Anschließend beginnt der Vermehrungsvorgang (Replikation). Die Virus-RNA wird direkt als Bauanleitung für die Bildung virusspezifischer Proteine genutzt, da die Wirtszelle sie nicht von der eigenen Steuer-RNA (messenger-RNA) zu unterscheiden vermag. Infolgedessen wird das Genom des Eindringlings durch die Einschaltung seiner eigenen RNA-Polymerase kopiert und vervielfältigt. In einem letzten Schritt werden dann die Proteine und die RNA-Kopien zu neuen Viruspartikeln zusammengebaut und aus der Wirtszelle abgeschnürt.

Die Übertragung auf den Menschen

Als Anknüpfungspunkt zum Eindringen in die menschliche Zelle benutzt das SARS-CoV-2 einen spezifischen Rezeptor, der sich auf der Oberfläche der Atemwegs- und Lungenzellen befindet. Es handelt sich dabei um ACE2, ein Enzym der Blutdruckregulation.3 Wie war es zu dieser ungewöhnlichen Anpassung der viralen RNA an den neuartigen Wirt gekommen? Um dies zustande zu bringen, mussten in der für die Codierung des Spike-Proteins zuständigen Nukleotid-Sequenz Veränderungen vorgenommen werden. Da die enge Verwandtschaft des neuen Virus-Genoms mit den anderen Betacoronaviren seit Anfang Januar 2020 bekannt war, konnte schon im Frühstadium der Pandemie eine gezielte Spurensuche beginnen. Darüber hinaus war aufgrund des Vergleichs mit den nahe verwandten Genomtypen rasch klar, dass der neuartige Subtyp erst im Herbst 2019 entstanden sein konnte. Infolgedessen kamen drei Entstehungshypothesen in Frage:

(1) Das Virus wurde direkt von den Fledermäusen auf den Menschen übertragen. Diese Annahme war keineswegs abwegig. Einige Fledermausarten gelten im Fernen Osten als Delikatesse, sie wurden auch auf dem Wildtiermarkt in Wuhan gehandelt. Zudem hinterlassen die Fledermäuse nicht nur in ihren Schlafquartieren (Höhlen, Dachböden usw.), sondern auch in den von ihnen zur Nahrungssuche beflogenen Obst- und Gemüsegärten reichlich Kot und Speichel. Diese Hypothese wurde inzwischen von mehreren Experten angezweifelt. In den besonders mit Coronarviren kontaminierten Fledermausarten konnten bislang keine Subtypen identifiziert werden, in denen die genetische Codierung für die hochspezifische Anbindung an den menschlichen Rezeptor vorhanden war. Auch die übrigen Genomstrukturen unterschieden sich teilweise vom Erreger der Covid-19-Pandemie. Deshalb favorisieren die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit einiger Zeit die zweite Hypothese.

(2) Das Virus gelangte über ein anderes Säugetier als Zwischenwirt auf den Menschen. Diese Annahme ist der ersten Hypothese deshalb überlegen, weil sie den für die Veränderung eines ganzen RNA-Abschnitts erforderlichen Vorgang plausibel macht. Nur wenn zwei nahe miteinander verwandte Coronaviren einen Zwischenüberträger gleichzeitig infizierten, kann es zu einem wechselseitigen Austausch dieser Genabschnitte (Rekombination) kommen und ein neuer Subtyp entstehen, der den Schlüssel zum Andocken an den menschlichen Rezeptor bereitstellt.

Chinesische Forscher hatten zunächst Schlangen, Meeresfrüchte und Vögel in Verdacht; auch weitere Wildtiere kamen in Frage, zumal diese schon bei einer vorherigen Pandemie eine Rolle gespielt hatten.4 Auch mit diesen Tieren waren die Händler, Schlachter und Kunden des Huanan-Markts in engen Kontakt gekommen. Schließlich wurde man fündig – beim malaysischen Schuppentier (Pangolin), was einmal mehr darauf hinwies, dass SARS-CoV-2 genauso gut in Südostasien entstanden und nach China eingeschleppt worden sein konnte. Dieser ameisen- und termitenfressende Höhlenbauer hat nicht nur engen Kontakt mit den Fledermäusen, er genießt im Fernen Osten auch Kultstatus. Trotz eines offiziellen Verbots wird das vom Aussterben bedrohte Tier in China und anderen asiatischen Ländern tonnenweise eingeführt und auf den Wildtiermärkten als Delikatesse gehandelt. Zudem dienen seine Schlachtabfälle – insbesondere die Schuppen – als wichtige Ressource der traditionellen chinesischen Medizin. Tatsächlich wurde im Februar 2020 aus dem Pangolin ein Coronavirus isoliert, dessen Genom weitgehend mit demjenigen des SARS-CoV-2 übereinstimmte. Auch sein Spike-Protein war so strukturiert, dass es sich an den menschlichen Rezeptor zu binden und in die Wirtszelle einzudringen vermochte.

(3) Eine dritte Hypothese besagt, dass das neuartige Virus in einem Forschungslabor synthetisiert worden und anschließend daraus entwichen sei. Dieses Argument wird bis heute mit der Annahme verknüpft, der Laborunfall sei ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt der Biowaffenforschung. Es wurde inzwischen wissenschaftlich überprüft.5 Dabei wurde die enorme Andockungskapazität (und entsprechend hohe Infektiosität) des Virus bestätigt, zugleich aber vermerkt, dass seine eher moderate krankmachende Wirkung (Pathogenität) gegen einen Zusammenhang mit der auf möglichst tödliche Erreger getrimmten Biowaffenforschung spreche. Das ist durchaus zutreffend. Gleichwohl halte ich eine derart enge Fragestellung für nicht zielführend. In den letzten zehn Jahren wurden umfangreiche virologische Versuche zur Entwicklung eines Impfstoffs gegen die SARS-Infektion durchgeführt.6 Zu diesem Zweck mussten neue Subtypen der Coronaviren synthetisiert werden, um sie anschließend in menschlichen Zellkulturen testen zu können. Dabei entstanden in mehreren Forschungslabors der USA, Chinas und der Schweiz neuartige Varianten, die eine Bindekapazität an den menschlichen ACE2-Rezeptor aufwiesen.7 Die involvierten Forscher haben den Verdacht, SARS-CoV-2 könnte das Produkt eines Laborunfalls sein, verständlicherweise vehement zurückgewiesen. Auch ich halte diese Annahme für unwahrscheinlich. Zumindest nach dem jetzigen Forschungsstand ist davon auszugehen, dass eine SARS-CoV-2-Vorstufe von der Fledermaus auf das Schuppentier oder einen anderen Zwischenwirt gelangte, sich in ihm mithilfe eines verwandten Betacoronavirus rekombinierte und in einem Spezialrestaurant oder auf einem Wildtiermarkt des Fernen Ostens auf den Menschen übertragen wurde.

Im Januar 2021 reiste eine Expertenkommission der WHO nach Wuhan und in die Provinz Hubei, um die Ursprünge der Pandemie aufzuklären.8 Sie kam nach vierwöchigen Untersuchungen und Befragungen zu keinem schlüssigen Ergebnis, legte sich aber auf vier Forschungshypothesen fest, die weiter abgeklärt werden sollten. Dabei favorisierte sie die Zwischenwirtthese, ließ aber auch eine direkte Übertragung von der Fledermaus als plausibel gelten. Dagegen verwarf sie die Laborthese und brachte eine Übertragung durch tiefgefrorene Meeresfrüchte als vierte Variante neu ins Spiel. Die endgültige Klärung der Übertragung der Zoonose Covid-19 auf den Menschen ließ somit auch ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie weiter auf sich warten. Gesichert war nur das Wissen über den Ausgangspunkt der für den Menschen verhängnisvollen Virusentwicklung, das natürliche Reservoir der Fledermäuse.

Aus dieser Erkenntnis ergeben sich weitere Fragen, die über die enge virologische Kausalitätskette hinausweisen. Sie gehen von der Tatsache aus, dass in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere Coronaviren die Artenbarriere zwischen Fledermaus und Mensch überwunden haben. Wie Umweltbiologen feststellten, war dafür nicht nur die immer enger gewordene Interaktion zwischen den Menschen und den schrumpfenden Ökosystemen sowie die Massenaufzucht der exotischen Zwischenwirte von Bedeutung. Vielmehr führte der Klimawandel zu einer markanten Verschiebung der geografischen Verbreitung und der Artenvielfalt der Fledermäuse.9 Dies traf – und trifft – insbesondere auf die südchinesische Provinz Yunnan und die südostasiatischen Nachbarländer Myanmar und Laos zu – jene Regionen, in denen die Fledermausarten, die die Vorläufer der blinden Passagiere beherbergen, gehäuft vorkommen. Auch hier fehlen die letzten Beweise. Aber die Indizien sind eindeutig. Bei der hoffentlich bald möglichen integrierenden Analyse des Ursprungs der Coronapandemie wird auch der Faktor Klimawandel angemessen zu berücksichtigen sein.

Die Übertragung von Mensch zu Mensch

SARS-CoV-2 wurde für den Menschen gefährlich, sobald es einen Anknüpfungspunkt an seinen Lungenzellen gefunden und die Fähigkeit entwickelt hatte, in sie einzudringen und sein Genom in ihnen parasitär zu kopieren.10 Das geschah zunächst nur in Einzelfällen. Dann aber kam es beim massenhaften Kopieren des Erbguts zu kleinen Webfehlern, die die Abfolge der für die Ausbildung des Spike-Proteins zuständigen Nukleotidsequenz veränderten. Dieser rein zufällige ›Irrtum‹ hatte fatale Folgen, denn er erleichterte die Übertragung von Mensch zu Mensch. Am Übertragungsweg selbst änderte sich nichts: Die von den geschädigten Lungenzellen ausgestoßenen Viruspartikel gelangten wie bisher in die Atemwegssekrete und drangen beim Husten, Schnupfen und Niesen, aber auch beim Reden, Chorsingen und Schreien nach außen. Sie konzentrierten sich in Tröpfchen und Aerosolen und kontaminierten vor allem in geschlossenen Räumen die in der Nähe befindlichen Menschen; Smog und Feinstaub begünstigen aber auch eine Übertragung im Freien.11 Bislang war für eine Weitergabe der Infektion eine erhebliche Masse an Viruspartikeln (Viruslast) erforderlich gewesen. Seit den ersten Mutationen in der Gegend des Spike-Proteins genügten schon Anreicherungen von mehr als 11.000 Erregern zur Fortsetzung der Infektionskette.

Dagegen blieb die Pathogenität des mutierten Erregers begrenzt. Bald wurde erkannt, dass knapp die Hälfte aller Infizierten keine Symptome zeigte, während bis zu 30 Prozent Krankheitszeichen entwickeln, wie sie von den saisonalen Influenza-Epidemien bekannt sind und häufig als ›grippaler Infekt‹ gedeutet werden: Abgeschlagenheit, Rachenbeschwerden, trockener Husten, Fieber sowie Kopf- und Gliederschmerzen. Bei weiteren 15–20 Prozent wird es hingegen ernst. Durch die vom Rachen in die Atemwege fortschreitende Virusinvasion kann es zu ausgedehnten Schädigungen der Lunge kommen. Eine atypische Pneumonie ist dann die Folge. Es gibt aber auch rasante Verläufe, die zu einem schweren toxischen Atemnotsyndrom mit Lungenversagen führen können.

SARS-CoV-2 ist tatsächlich alles andere als eine Biowaffe. Aber die überwiegend symptomlosen oder moderaten Krankheitsverläufe ermöglichen es dem Virus, die Frühwarnsysteme der Epidemiologien zu umgehen oder zu täuschen. Es kann sich weitgehend unbemerkt verbreiten. Wenn die Gefahr dann erkannt wird, ist es häufig zu spät, um die Infektionsketten zurückzuverfolgen und zu unterbrechen. Ein halbes Jahr nach Pandemiebeginn lagen die ersten repräsentativen Stichproben aus spezifischen bzw. zufällig ausgewählten Bevölkerungsgruppen vor. Dabei ergab der Abgleich der nachgewiesenen akut Infizierten mit denjenigen, die die Infektion schon unerkannt überstanden hatten, den Nachweis einer Dunkelziffer von bis zu 10:1. Eine in Santa Clara, Kalifornien, durchgeführte Stichprobe wies sogar eine noch höhere Relation nach.12 Bei den durch SARS-CoV-2 Infizierten ist folglich der Manifestationsindex erstaunlich niedrig.

Hinzu kommt ein zweiter Sachverhalt, der der Covid-19-Pandemie einen besonderen Stempel aufrückt: Die Schwere der Erkrankung variiert je nach dem Alter und den Vorerkrankungen der Infizierten erheblich. Bei den meisten Influenza-Epidemien erkranken die Kinder überproportional schwer und sind auch besonders ansteckend. Bei Covid-19 ist es genau umgekehrt.13 Kinder unter zehn Jahren sind in den bis jetzt veröffentlichten Samples der positiv Getesteten weltweit zu durchschnittlich 1,6 bis 2,0 % vertreten, Zehn- bis Neunzehnjährige zu 4,0 bis 4,4 %. Die Hauptgruppe der Erkrankten stammt mit 74–86 % aus den Alterskohorten der Zwanzig- bis Neunundsechzigjährigen, und die über Siebzigjährigen sind mit 17–20 % vertreten. Frauen erkranken mit 52 % etwas häufiger als Männer, der Altersmedian aller registrierten Infizierten liegt bei 49 bis 51 Jahren. Während der Zwischenetappe und der zweiten Pandemiewelle haben sich diese Relationen etwas verschoben.14 Der Anteil der Kleinkinder bis zu vier Jahren an den positiv Getesteten stieg von 0,5 auf 2 %, derjenige der 5–14-Jährigen von 1 auf 5 %. Auch bei den 15–24-Jährigen gab es bis Oktober 2020 einen deutlichen Zuwachs (von 4 auf 14 %, bei den 25–64-Jährigen fiel er mit einem Zuwachs von 50 auf 65 % etwas geringer aus). Den WHO-Experten zufolge waren diese Verschiebungen vor allem auf die Ausweitung der Testserien und verbesserte Überwachungstechniken zurückzuführen. Aber auch der verbesserte (Selbst-)Schutz der älteren Risikogruppen dürfte eine wichtige Rolle gespielt haben. Im Gegenzug fiel der Anteil der über 65-Jährigen an den Infizierten und Verstorbenen von 40 auf 15 % bzw. von 90 auf 75 %. Das waren bemerkenswerte Veränderungen, die allerdings von Land zu Land erheblich variierten. An der besonderen Gefährdungssituation der älteren Generationen hatte sich jedoch nichts geändert.

Dagegen gab es eine bemerkenswerte Entwarnung bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen.15 Während der ersten Welle stellten sie weltweit mit knapp mehr als 10 % einen erschreckend hohen Anteil an der Gesamtpopulation der positiv Getesteten. Bis Anfang Juni 2020 ging diese Relation auf 5 % zurück und erreichte zu Beginn der zweiten Pandemiewelle im September 2020 etwa 2,5 %. Seither lag die Quote der positiv getesteten Gesundheitsarbeiterinnen und Gesundheitsarbeiter konstant im Bevölkerungsdurchschnitt. In dieser erfreulichen Entwicklung kam die Wirksamkeit der seit der ersten Schockphase ergriffenen spezifischen Schutzmaßnahmen zum Ausdruck, die die Infektionsrisiken der Krankenschwestern, Pfleger und Mediziner weltweit exponentiell verringerten. Leider waren sie nicht von entsprechenden Strukturreformen begleitet, sodass die Hospitalpatienten und Altenheimbewohner daran nur begrenzt teilhatten.

Über die Ursachen dieses auf die Erwachsenen und Älteren verschobenen Erkrankungsrisikos gibt es seit Pandemiebeginn eine umfangreiche wie kontrovers geführte Forschungsdebatte. Dabei gab es einige überraschende Befunde, die sich teilweise ergänzen, aber noch zu keiner überzeugenden Synthese gefunden haben.16 Es wird erstens auf das Vorliegen einer unspezifischen Immunabwehr (Komplementreaktion) hingewiesen, die bei Kindern und Heranwachsenden besonders wirksam ist. Zweitens verdichten sich die Hinweise auf eine ebenfalls bei den jüngeren Generationen überproportional ausgeprägten Kreuz-Immunität, die im Ergebnis von Schutzimpfungen (insbesondere gegen Tuberkulose) oder bei der Abwehr weniger aggressiver Erkältungsviren vom Corona-Typ entstanden ist. Drittens schwächt sich das menschliche Immunsystem mit dem Älterwerden generell ab, ein seit längerem bekanntes Phänomen, das von den Geriatern als Immunseneszenz bezeichnet wird. Alle diese Argumente haben viel für sich, und sie schließen sich auch nicht gegenseitig aus. Eine klare Antwort wird uns die Immunforschung gleichwohl erst in einigen Jahren liefern. Sie wird uns dann auch erklären, warum sogar Kinder, die schwer an Krebs erkrankt sind, nur selten Symptome entwickeln.17 Gesichert ist jedenfalls schon jetzt, dass Kinder für die Infektion wenig anfällig sind, das Virus weitaus seltener übertragen als Erwachsene und im Fall einer Ansteckung nur sehr selten hospitalisiert werden müssen.18

Bei den Erwachsenen sieht es hingegen ganz anders aus. Hier gibt es spezifische Risiken, die auch schon die mittleren Generationen gefährden: starkes Übergewicht, Kettenrauchen und chronische Vorerkrankungen, wobei Beeinträchtigungen des Herz-Kreislaufsystems, obstruktive Lungenerkrankungen, Diabetes, Nierenleiden und Krebs im Vordergrund stehen. Besonders gefährlich wird es indessen, wenn über 70-Jährige mit einer oder mehreren dieser Vorerkrankungen zu kämpfen haben. Sie vermögen der Virusinvasion besonders wenig entgegenzusetzen. Wie wir schon wissen, ist die Lebenserwartung in den meisten Ländern der Transatlantikregion und teilweise auch in Ost- und Südostasien weltweit am höchsten; hier stellen die über Fünfundsechzigjährigen 16–24 % der Gesamtbevölkerung, während in Afrika nur jede(r) Zehnte überhaupt 65 Jahre alt wird.19 Es ist deshalb kein Zufall, dass in allen auf diese Regionen bezogenen Übersichten die durch Vorerkrankungen geschwächten Seniorinnen und Senioren als besonders betroffene Gesellschaftsgruppe ausgewiesen werden. Während sich ihr Anteil an der Gesamtzahl der positiv Getesteten nur auf 15–19 % beläuft, entfallen 85–88 % aller Todesfälle auf diese Altersgruppe. Dementsprechend liegt auch der Altersmedian aller im Zusammenhang mit Covid-19 dokumentierten Sterbefälle zwischen 79 und 84 Jahren.

Neue Virusmutanten

Die durch die überwiegend symptomlosen oder milden Verläufe bedingten Dunkelziffern und die Konzentration der schweren Krankheitsverläufe auf eine klar abgrenzbare Gefährdetengruppe sind für das Verständnis der komplexen Dynamik und der geografischen Schwerpunktbildungen der Pandemie von entscheidender Bedeutung. Hinzu kommt ein weiteres Phänomen, dessen Tragweite erst im Verlauf der zweiten Welle erkannt wurde: Die Entstehung weiterer Varianten, die die Infektiosität des Virus nochmals zu steigern vermochten.20 Entgegen allen Erwartungen absolvierte SARS-CoV-2 seit seiner ersten Mutation zum ›pandemiefähigen‹ Grundtyp zahlreiche weitere Veränderungen in der Nukleotidsequenz, die von den weltweit führenden Evolutionsbiologen in Edinburgh und Glasgow auf inzwischen 41.000 Einzelereignisse und etwa 880 Verzweigungen (lineages) geschätzt werden.21 Die meisten davon waren für die Virus-Mensch-Interaktion harmlos. Sobald sie sich jedoch auf die Codierung des Spike-Proteins bezogen, kam es zu dramatischen Veränderungen. Solche Varianten – inzwischen mehrere Dutzend – tauchten immer wieder einmal in den Verzweigungssträngen der Varianten auf. Sie wurden immer erst Monate später entdeckt und einigen besonders dramatischen Ausbrüchen zugeordnet, so etwa in Südafrika (B.1.351), Kalifornien (B.1.429), New York (B.1.526), Kent-Großbritannien (B.1.1.7), Dänemark (B.1.1.298), Australien (B.1.1.25) und Brasilien (B.1.128 mit den Subvarianten P.1 und P.2). Dies sind nur die wichtigsten Exemplare der neu entstehenden Corona-Kartografie, bei der interessanterweise auch außerasiatische Zwischenwirte – so etwa die dänischen Nerzzuchten – auftauchten. In der Weltöffentlichkeit wird diese evolutionsbiologische Dynamik nur selektiv wahrgenommen, nämlich am Beispiel der in Südafrika, Großbritannien, Brasilien und Indien aufgetretenen Varianten. Wie wir heute wissen, haben auch die weniger beachteten Varianten eine wichtige Rolle beim Übergang zur zweiten und dritten Welle gespielt. Sie wurden zwar erst im Dezember 2020 bzw. Januar 2021 nachgewiesen, konnten aber durch ihre Zuordnung zu den verschiedenen Verzweigungen (lineages) des Virus auf August (Südafrika), September (Großbritannien und Brasilien) und Oktober 2020 (Indien) rückdatiert werden. Sie zeichnen sich alle durch eine deutlich gesteigerte Infektiosität aus und sind möglicherweise auch in der Lage, die menschliche Immunabwehr zu umgehen (P.1 in Brasilien). Inzwischen hat die WHO die Nomenklatur der besorgniserregenden Varianten (Variants of Concern) vereinfacht und an das altgriechische Alphabet angepasst (Alpha-, Beta-, Gamma- und Delta-Variante). Dabei erwies sich die in Indien identifizierte Delta-Variante als besonders ansteckend. Sie hat sich im Verlauf der dritten Pandemiewelle weltweit durchgesetzt.

Die wichtigsten Merkmale der Pandemie

Im Verlauf des Jahrs 2020 sind die wesentlichen Besonderheiten der SARS-CoV-2-Pandemie manifest geworden. Dabei handelt es sich um fünf strukturelle Aspekte, die aufeinander aufbauten, sich wechselseitig verstärkten oder auch abschwächten. Sie entwickelten eine Dynamik, bei der geringfügige Veränderungen der Ausgangssituation – etwa die weltweite Einführung von Gesichtsmasken oder das Auftreten neuer Virusvarianten – weitreichende Folgen für die weitere Entwicklung der Pandemie haben konnten. Auf diese Weise veränderte sich die Interaktion zwischen dem Mensch und den Erregern fortlaufend in kleinen oder größeren Sprüngen. Es kam zu einem Wettlauf zwischen den Virusmutanten und den seuchenhygienischen Gegenmaßnahmen, mit denen ich mich noch ausführlich auseinandersetzen werde.

Das erste wesentliche Charakteristikum ist das rasante Ausbreitungstempo der Pandemie. Ursache dafür ist die enorme Mobilität der Weltgesellschaft, die aufgrund ihrer engen sozialen (Tourismus), ökonomischen und wissenschaftlichen Verflechtungen nur sehr begrenzt eingeschränkt werden konnte. Dies zeigte sich schlagartig, sobald die neuen aggressiven Mutanten erkannt worden waren. Ihre Ausbreitung in alle Weltregionen konnte letztlich nur um einige Wochen verzögert werden.

Das zweite strukturierende Merkmal ist die unterschwellige Ausbreitung des Virus. Wenn mehr als die Hälfte der Infizierten keine relevanten Krankheitssymptome entwickelt, ist es unmöglich, das tatsächliche Ausmaß der Durchseuchung einer Gesellschaft zu erkennen. Zwar erlauben einige Indikatoren gewisse Rückschlüsse auf die Dunkelziffer – dazu noch weiter unten. Aber dies sind und bleiben immer nur Annäherungsgrößen. Im Oktober 2020 schätzten Experten der WHO die Durchseuchung der Weltgesellschaft mit SARS-CoV-2 auf 10 % gleich 780 Millionen Menschen, während zu diesem Zeitpunkt etwa 37 Millionen positiv Getestete bekannt waren. Ein Blick beispielsweise auf Afrika macht diese Diskrepanz verständlich: Bei einem Durchschnittsalter der Bevölkerung von 19,6 Jahren war von einer umfassenden ›stummen‹ Durchseuchung auszugehen, während sich die Krankenhauseinweisungen und Sterbefälle in Grenzen hielten.

Das dritte Charakteristikum der Pandemie ist ihre sprunghafte Beschleunigung durch soziale Kontakte. Trotz aller Warnungen und Verbote gingen bestimme Gesellschaftsgruppen immer wieder auf Tuchfühlung, um sich politisch zu artikulieren, religiöse Rituale zu zelebrieren oder sich in großen und kleinen Zusammenhängen zu vergnügen. Hinzu kamen die traditionellen Feiertage – säkulare wie religiöse –, die von den Familien und Freundeskreisen zur Wiederbegegnung genutzt werden. Bei allen diesen Gelegenheiten sind sich die Menschen besonders nahe, zudem während der kälteren Jahreszeit in geschlossenen Räumen. Derartige Phänomene der besonderen Nähe traten während des gesamten Pandemiejahrs auf. Anlässlich des Thanksgiving-Day und der Feiern zum Jahreswechsel war zu beobachten, wie sich die US-amerikanische Pandemiekatastrophe gegen Ende des Jahrs 2020 nochmals beschleunigte.

Das vierte Schlüsselmerkmal von Covid-19 ist die selektive Gefährdung der älteren Generationen und aller, die in ihrem gesundheitlichen Status ernsthaft beeinträchtigt sind. Sie erkranken oft schwer, müssen häufig stationär behandelt werden und fallen dem Virus am ehesten dann zum Opfer, wenn sie sich in geschlossenen Einrichtungen (Alten- und Pflegeheimen) befinden. Besonders kritisch wird es, wenn die Infizierten hochbetagt und zugleich chronisch erkrankt sind. Im Verlauf des Pandemiejahrs waren zunehmend auch Angehörige der mittleren Altersgruppen betroffen, soweit sie durch die typischen Zivilisationskrankheiten (Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen usw.) vorgeschädigt waren. Dabei handelte es sich überwiegend um Menschen aus den Unterschichten und ethnischen Minderheiten der Transatlantikregion.

Alle diese Charakteristika bündelten sich fünftens zu einem Auf und Ab des Pandemiegeschehens, das die ersten eineinhalb Jahre von Covid-19 geprägt hat. Aus der globalen Perspektive lassen sich dabei drei Hauptwellen unterscheiden, die durch Zwischenetappen überbrückt wurden. Diese Einteilung kann indessen nur zur groben Orientierung dienen, weil sich hinter ihr je nach Weltregion, Nationalstaat und Gebietseinheit sehr unterschiedliche Eigenentwicklungen verbergen. Schon bei einem Blick auf die sechs Weltregionen werden diese Abweichungen deutlich. Am ehesten entsprachen Afrika, Europa und der Orient dem globalen Gesamtbild. In den USA und Lateinamerika gingen die erste und zweite Welle weitgehend ineinander über, sodass sich vielen Beobachtern eher der Eindruck eines dreigipfligen Kontinuums aufdrängte. Die Gesellschaften Süd- und Südostasiens wiederum durchlebten einen eingipflingen Anstieg, der sich ab Ende September 2020 langsam abflachte. Eine Sonderstellung nahm schließlich die westliche Pazifikregion ein: Sie war vergleichsweise am wenigsten betroffen, wies aber vier deutlich unterscheidbare Ausbruchsetappen auf, deren Infektionszahlen und Sterbefälle im Januar 2021 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten.