Wenden wir uns nun dem Krankheitsgeschehen im engeren Sinn zu. Auch hier kann ich nur einige Schlaglichter auf zentrale Probleme werfen: Diagnosestellung, klinische Krankheitszeichen, schwere und lebensbedrohliche Krankheitsverläufe, medizinische Behandlungsmethoden, Todesursachen und Immunität der Genesenen.1
Die Infektionskrankheit Covid-19 entwickelt keine typischen Krankheitszeichen und verläuft sogar häufig symptomlos. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel 5–6 (maximal 1–14) Tage. Schon ein bis zwei Tage vor dem Beginn der Erkrankung sind die Betroffenen ansteckend und bleiben es sechs bis sieben Tage lang. Wegen der uns schon bekannten Verwandtschaft der Erkrankung mit einer Influenza sind zur Abklärung gezielte Laboruntersuchungen erforderlich. Das Mittel der Wahl ist ein genetischer Test, der in den 1980er Jahren entwickelt wurde: die Polymerase-Kettenreaktion (PCR). Bei diesem Verfahren wird die RNA der Viruspartikel in DNA umgeschrieben und anschließend durch den Zusatz des Enzyms DNA-Polymerase angereichert. Als Testmaterial fungieren Abstriche aus Atemwegssekreten der Probanden. Sie werden aus dem Nasen-Rachenraum und/oder dem Sputum gewonnen. Im Rachenabstrich lassen sich die SARS-CoV-2 Viren bis zum vierten Infektionstag nach Infektionsbeginn nachweisen, aus dem Sputum bis zum achten Tag. Als Testsystem werden Wattestäbchen und ein standardisiertes Transportmedium verwendet. Die Dauer der PCR-Untersuchung beträgt vier bis fünf Stunden. Noch während der ersten Pandemiewelle wurden Verfahren entwickelt, die in den Labors einen Durchlauf von mehreren tausend Proben täglich ermöglichen. Die Tests waren jedoch mit einer gewissen Fehlerquote behaftet, die eine exakte Abklärung des Krankheitsgeschehens erschwerten.
Diese Situation wendete sich jedoch rasch zum Besseren.2 Die PCR-Tests wurden sehr sicher. Da vor allem in den Notaufnahmen und Intensivabteilungen der Kliniken das Bedürfnis nach rascheren Ergebnissen wuchs, wurde eine neue Generation von PCR-Schnelltests entwickelt, die die in mehreren Schritten ablaufende Polymerase-Reaktion erheblich vereinfachten, sodass die Abstriche direkt vor Ort ausgewertet werden konnten und die Ergebnisse innerhalb von zweieinhalb Stunden vorlagen. Es gab aber auch Nachteile: Das Verfahren war erheblich teurer und verlangte medizinische Vorkenntnisse.
Der entscheidende Durchbruch zu wesentlich billigeren, schnelleren und einfacheren Test-Settings gelang mehreren Pharmaunternehmen beim Übergang zur zweiten Welle. Sie entwickelten Schnelltests, bei denen nicht mehr das Erbgut, sondern funktionelle und strukturelle Proteinbestandteile des Virus nachgewiesen wurden. Auch sie reichern sich parallel zu den Viruspartikeln im Nasen-Rachenraum der Infizierten an und können in ihrem Gurgelwasser oder in Nasenabstrichen nachgewiesen werden. Dabei wirken die Virusproteine als Zielantigene, die nach ihrer Freisetzung in einer Lösung auf einen mit einem spezifischen Antikörper versehenen Teststreifen gebracht und an diesen gebunden werden. Diese Reaktion erzeugt auf dem Streifen ein optisches Signal und kann innerhalb von 15–30 Minuten abgelesen werden. Anfänglich war dieses Verfahren noch recht unsicher. Es wurde jedoch bis Oktober/November 2020 fortlaufend verbessert und weist seither akute Infektionen mit einer Sicherheit von 90 % nach. Die Bedeutung dieser Innovation für die medizinische Diagnostik von Covid-19 kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie vereinfachte und beschleunigte nicht nur die Abklärung individueller Erkrankungsfälle, sondern auch das Screening größerer und besonders gefährdeter Patientengruppen. Da parallel dazu auch Schnelltestverfahren zum Nachweis von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 aus einem Blutstropfen der Fingerbeere entwickelt wurden, kann seither auch rasch abgeklärt werden, welche Patienten Covid-19 schon hinter sich hatten. Dies erleichterte die sichere Abgrenzung der SARS-Cov-2-Infektion von Atemnotsyndromen anderer Ursache.
Wie man inzwischen weiß, erkranken 10–15 % aller Infizierten so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen.3 Die Zeit vom Auftreten der ersten Symptome bis zur Hospitalisierung dauert durchschnittlich 5–7 Tage, bei besonders schweren Verläufen wie dem Lungenversagen (ARDS – Acute Respiratory Distress Syndrome) kann sich die Zeitspanne auf 3–4 Tage verkürzen. Den bis jetzt vorliegenden Studien zufolge verbleiben die Patientinnen und Patienten eine bis zwei Wochen in stationärer Behandlung, im Fall einer erforderlich gewordenen Verlegung auf eine Intensivabteilung kann sie sich auf bis zu vier Wochen verlängern.4
Zur Feststellung des Schweregrads und einer optimalen Behandlungsstrategie sind gezielte diagnostische Maßnahmen erforderlich. Dazu gehören die laufende Messung der Sauerstoffsättigung (Oxygenierung) des Bluts, die blutchemische Abklärung der wichtigsten Entzündungsparameter und bei Verdacht auf Lungenentzündung oder beginnendes Lungenversagen eine Computertomographie des Brustkorbs (Thorax-CT). Aus der Synopse dieser drei unterschiedlichen Untersuchungsmethoden lassen sich hinreichende Anhaltspunkte für das weitere Vorgehen gewinnen. Bei den laborchemischen Kontrollen stehen die Entzündungs- und Gerinnungsparameter, das Blutbild und wichtige Indikatoren für den Funktionszustand der lebenswichtigen Organe im Vordergrund.5 Sie sind bei den an Pneumonie Erkrankten etwa eine Woche lang pathologisch verändert; im Fall einer Weiterentwicklung zum Lungenversagen verschlechtern sie sich weiter. Mindestens genauso wichtig sind die CT-Befunde. Zu Beginn der Lungenentzündung zeigen sich milchglasartige Trübungen in den unteren Lungenabschnitten in der Nähe des Rippenfells. Im Fall einer Verschlimmerung verdichten sie sich zu Infiltraten. Hinzu kommen weitere Eintrübungen beidseits und eine diffuse Verdichtung des Zwischengewebes (Interstitium). Von entscheidender Bedeutung für die Abschätzung der Schwere und der erforderlichen Behandlungsmaßnahmen ist drittens die laufende Kontrolle der Blutgaswerte, insbesondere des arteriellen bzw. kapillaren Sauerstoffpartialdrucks. Da es noch keine standardisierte kausale Therapie gibt, hängen von der Genauigkeit des Ausgleichs des durch die Pneumonie hervorgerufenen Sauerstoffmangels in Blut und Geweben die Überlebenschancen der Erkrankten ab.
Nach dem aktuellen Wissensstand entwickeln in Deutschland und Mitteleuropa 5–6 % aller SARS-CoV-2-Infizierten eine Pneumonie, die in etwa einem Viertel der Fälle in einen Zustand der Hyperinfektion und damit des Lungenversagens fortschreitet. In beiden Fällen sind Atemnot und beschleunigte Atemtätigkeit die typischen Krankheitszeichen. Durch genau dosierte Sauerstoffgaben über Nasensonden, Gesicht-Nasenmasken und Sauerstoffhelme kann die Sauerstoffuntersättigung des Organismus in der Regel zureichend ausgeglichen werden. Auf dem Gebiet dieser nicht-invasiven Verfahren hat es in jüngster Zeit erhebliche Verbesserungen gegeben, insbesondere durch neuartige Aerosol-Anwendungen und High-Flow-Techniken.6 Verschlimmert sich die respiratorische Insuffizienz trotzdem, so müssen die Patientinnen und Patienten auf die Intensiveinrichtung verlegt, intubiert und maschinell beatmet werden. Im Fall eines sich zuspitzenden Lungenversagens ist auch der zeitweilige Anschluss der Schwerstkranken an eine extra-korporale Lungenmaschine denkbar.
Warum diese Zurückhaltung vor der Entscheidung zur ultima ratio? Die Erklärung ist einfach. Die physiologische Lungenatmung findet in einem Unterdrucksystem statt.7 Deshalb reagiert das menschliche Atemorgan sensibel auf Überdrucksituationen und eine zu massive Zufuhr von Sauerstoff. Infolgedessen können eine zu früh angesetzte Intubation und maschinelle Beatmung schädlich und manchmal sogar tödlich sein. Aus diesem Grund gehört die Behandlung der schwer an Covid-19 Erkrankten in die Hände der Lungenärzte, und auch auf den Intensivabteilungen sollten sie als Supervisoren agieren. Im Chaos der Überlastung der Krankenhäuser von Wuhan, Bergamo, Madrid, Strasbourg und New York City wurde gegen diese seit langem etablierte Grundregel verstoßen. Da die Ruhe zur genauen Fallbeobachtung und Beurteilung fehlte, wurde viel zu häufig intubiert und maschinell beatmet – zum gravierenden Nachteil für viele Schwerkranke. Durch engagierte, aber medizinisch unerfahrene Politiker und Journalisten wurde das ärztliche Fehlverhalten noch weiter gesteigert. Propagiert wurde: Je häufiger maschinell beatmet wird, desto besser – trotz der massiven Konsequenzen für die Patienten, die ja auch noch zusätzlich sediert werden müssen. Der weltweite Aufschrei über die in den Krisenzentren vermeintlich oder tatsächlich fehlenden Beatmungsmaschinen und Intensiveinheiten tat dann noch ein Übriges.
Nach der Überwindung der ersten klinischen Überlastungsphase trat jedoch Ernüchterung ein. Die involvierten Medizinerverbände zogen eine erste Zwischenbilanz und verfassten Leitlinien, um das weitere Vorgehen zu standardisieren und die Behandlungsmethoden zu verbessern.8 Dabei konnten sie von der inzwischen wesentlich beschleunigten virologischen und klinischen Diagnostik ausgehen und übersichtliche Richtlinien zur stationären Aufnahme und möglicherweise erforderlich werdenden intensivmedizinischen Behandlung Schwerkranker verabschieden. Diese konsolidierten Rahmenbedingungen ermöglichten eine wesentliche Verbesserung der Behandlungskonzepte. Die neuen Erkenntnisse über die optimale Bekämpfung der Sauerstoffuntersättigung wurden breit umgesetzt. Zur vorbeugenden Bekämpfung der häufig beobachteten Thrombosen und Lungenembolien kamen Blutverdünner zum Einsatz; damit war das gefährlichste Komplikationsrisiko wesentlich abgemildert. Zusätzlich erkannten die Kliniker, dass das Virus bei den schweren Krankheitsverläufen auch weitere Organe direkt oder indirekt schädigt. So kam es bei sauerstoffpflichtigen und insbesondere bei maschinell beatmeten Patienten in 6 % bzw. 27 % der Fälle zum akuten Nierenversagen, was eine Dialyse erforderlich machte. Auch das Herz und das Zentralnervensystem wurden durch die Sauerstoffuntersättigung erheblich geschädigt. Diese Komplikationen konnten durch den laufenden Einsatz organ- und entzündungsspezifischer Biomarker früh erkannt werden, bevor so bedrohliche Komplikationen wie Rhythmusstörungen, Kammerflimmern und akute Hirnschädigungen auftraten. Da weltweit viele Tausend Schwerkranke gleichzeitig klinisch behandelt werden mussten, vervollständigte sich der Überblick über das überraschend komplexe pathophysiologische Geschehen rasch. Dabei wurde immer deutlicher, dass es sich bei Covid-19 um eine Massenerkrankung handelt, bei der der Befall des Atemsystems zwar den zentralen Angriffspunkt des Erregers darstellt, dass dieser aber zumindest bei den hospitalpflichtigen Patienteninnen und Patienten auch andere lebenswichtige Organsysteme in Mitleidenschaft zieht.
Parallel zum Ausbau der klinischen Behandlungskonzepte wird auch die Entwicklung wirksamer Medikamente forciert. Hier ist der Erwartungsdruck enorm. Wenn es gelingt, durch die Verabreichung spezifischer pharmakologischer Substanzen die Ausbreitung des Virus im menschlichen Körper zu stoppen und seine organschädigenden Wirkungen zu verhindern, dann werden die fatalen Auswirkungen der Pandemie auf die besonders gefährdeten Gesellschaftsgruppen in kürzester Zeit der Vergangenheit angehören. Zudem locken saftige Renditen und eine enorme Steigerung des Ansehens der Pharmaindustrie. Bei den involvierten akademischen Institutionen, Regulierungsbehörden und in den Forschungslabors der Unternehmen verbreitete sich eine ausgesprochene Gründerstimmung. Sie wurde im April 2020 durch die von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde (Food and Drug Administration – FDA) verfügte Aufhebung der Haftpflicht bei der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen Covid-19 zusätzlich angeheizt. Allein in den USA wurden bis Juni 2020 1.200 klinische Studien zur Medikamentenerprobung auf den Weg gebracht, um alte und neu entwickelte Wirkstoffe an mehreren hunderttausend Versuchspersonen zu erproben. Zweifellos hatte sich die überwiegende Mehrzahl freiwillig gemeldet. Aber es fragt sich, ob dies auch bei den Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen immer der Fall war. Da die Zeit drängte und die Konkurrenz von Woche zu Woche zunahm, sind hier Grenzüberschreitungen nicht auszuschließen. Die historische Erfahrung lehrt uns, dass in gesundheitspolitischen Krisen vom Ausmaß der Coronapandemie der Erfolg mehr zählt als die Befolgung ethischer Normen und die Beachtung der Sicherheitsstandards.
In der ersten Etappe des chaotischen Wettlaufs lancierten die Pharmaunternehmen klinische Studien zu Präparaten, die sie seit langem im Sortiment hatten.9 Dabei präsentierten sie ihren klinischen Partnerinstitutionen alles, was sich in den Vorversuchen (Zellkulturen usw.) als wirksam gegen SARS-CoV-2 herausgestellt hatte. Dazu gehörten zunächst zwei Antimalariamittel der älteren Generation (Chloroquin und Hydroxy-Chloroquin), zu deren Erprobung 237.000 Personen aufgeboten wurden. Ein weiteres Großaufgebot von Probanden testete die antiviralen Medikamente Lopinavir und Ritonavir, die zur Bekämpfung der HIV-Infektion (AIDS) entwickelt worden waren. Hinzu kamen zahlreiche kleinere Studien, in denen auch die Exponenten ferner liegender Fachgebiete ihr Glück versuchten, darunter auch eine Untersuchung US-amerikanischer Psychiater über die antiviralen Nebeneffekte eines Antidepressivums.10 Alle diese Serien endeten mit einem Misserfolg, den einige Akteure erst nach heftigen Kontroversen zugaben. Keines der getesteten Medikamente setzte das Infektionsrisiko herab oder linderte die Krankheitssymptome.
Zeitweilig schien es jedoch eine wichtige Ausnahme zu geben, die Aufsehen erregte: das Präparat Remdesivir.11 Der in Kalifornien ansässige Hersteller Gilead Sciences hatte es einige Jahre zuvor gegen das Ebolavirus entwickelt, war aber nicht über das Primatenversuchsstadium hinausgekommen. Nun holte er die Substanz wieder aus den Kühlboxen und bot sie mehreren klinischen Kooperationspartnern zur Erprobung an. Dafür gab es plausible Gründe. Remdesivir ist ein Analogon des Nukleotidbausteins Adenosin und hemmt die RNA-Polymerase von RNA-Viren – und somit auch von SARS-CoV-2. Die ersten klinischen Studien waren denn auch erfolgversprechend. Ihren Ergebnissen zufolge beschleunigte das Präparat die Genesung Schwerkranker und verkürzte ihren Krankenhausaufenthalt um vier bis fünf Tage, wenn es den Patienten mindestens fünf Tage hintereinander injiziert wurde. Daraufhin erlangte der Hersteller ab Juni 2020 Notfallzulassungen in den USA, Japan und der Europäischen Union; zusätzlich sicherte sich die US-Administration eine vorrangige Belieferung. Der Erfolg schien somit gesichert, und die Unternehmensleitung von Gilead legte ihre Preisvorstellungen offen: Pro Ampulle sollten die US-Sozialkassen 390 US-Dollar und die Privatkrankenkassen 520 US-Dollar bezahlen.12 Begründet wurde diese horrende Forderung mit einer Gegenrechnung der durch die Anwendung eingesparten Krankenhauskosten – ein in der Pharmaindustrie seit einigen Jahrzehnten übliches Verfahren. Einschließlich der doppelten Erstdosis waren dies 2.340 bzw. 3.120 US-Dollar pro Einzelpatient. Einer fast gleichzeitig erschienenen Untersuchung über die Produktionskosten der einschlägigen antiviralen Medikamente zufolge belief sich der Gestehungspreis einer Ampulle Remdesivir auf 0,93 US-Dollar, was pro Behandlungsfall einen Gesamtaufwand von etwa 10 US-Dollar erforderlich machte.13 Gilead verpasste indessen den ganz großen Renditesprung. Folgestudien ließen Zweifel an der Wirksamkeit des Medikaments aufkommen: Die Sterblichkeit wurde nicht reduziert, und nur bei mittelschwer Erkrankten zeigte sich eine gewisse Wirkung. Die Hoffnung zerstob vollends, als die WHO im Oktober 2020 die Ergebnisse einer in einem weltweiten Klinikverbund durchgeführten Studie über die Wirksamkeit einiger Präparate zur Behandlung von Covid-19 vorlegte und dabei auch von der Remdesivir-Anwendung abriet.
Es gab aber auch eindeutige Fortschritte auf dem pharmakologischen Gebiet, die die Neuerungen in den klinischen Behandlungsmethoden wirksam ergänzten. Dazu gehörten vor allem die seit langem eingeführten Kortikosteroide Dexamethason und Hydrocortison. In einer in Großbritannien durchgeführten Studie erhielten mehr als 2.000 hospitalisierte Patienten Dexamethason zusätzlich zur Standardtherapie.14 Dabei reduzierte sich die Sterblichkeit bei allen Schweregraden. Am wirksamsten war der Immunmodulator bei Intensivpatienten, die beatmet werden mussten (29,3 % Todesfälle gegenüber 41,4 % bei der Kontrollgruppe). Dass die Kortikosteroide vor allem die Überlebenschancen der Schwerstkranken erheblich verbessern, bestätigten auch mehrere Folgestudien.
Ein weiterer Lichtblick kam schließlich aus einer ganz anderen Richtung, die eine längere Tradition hat: Die Behandlung Infizierter mit dem Blutplasma gerade Genesener und ihre Weiterentwicklung, die Applikation spezifischer Antikörper.15 Das Konzept und die Methode sind einfach: Im Plasma der Rekonvaleszenten sind die spezifischen Antikörper angereichert, die sie im Verlauf ihrer Erkrankung gegen das Virus gebildet haben; sie werden dem akut Erkrankten in der von ihren roten und weißen Blutkörperchen gereinigten Plasmaflüssigkeit infundiert, um die Zeit bis zur Bildung eigener Antikörper zu überbrücken. Dass dieses Verfahren auch bei Covid-19 insbesondere dann Erfolge zeitigt, wenn es im Frühstadium der Erkrankung angewandt wird, belegten mehrere im Winter 2020/21 abgeschlossene Studien. Es ist jedoch mit einigen Risiken behaftet. Die Plasma-Übertragung wirkt gerinnungsfördernd, und damit steigt das mit Covid-19 assoziierte Thrombose-Risiko. Deshalb lag es nahe, den spezifisch gegen SARS-CoV-2 gerichteten Antikörper gentechnisch herzustellen. Aus dem Plasma gerade Genesener wurden jene Antikörper isoliert, die diese gegen das Spike-Protein des Virus entwickelt hatten. Zusätzlich mussten die B-Zellen der lymphozytären Immunabwehr isoliert werden, die diesen Antikörper produzieren, um sein Gen in rekombinante Zellen einzubauen. War dies gelungen, so konnte der Antikörper in Zellkulturen in fast unbegrenzter Menge hergestellt werden.
Bis zur Jahreswende 2020/21 beherrschten weltweit zwei Dutzend Unternehmenslabore dieses Verfahren. Dabei übernahm ein Joint Venture-Projekt des US-Pharmakonzerns Eli Lilly mit der kanadischen Biotech-Gesellschaft AbCellera die Führung. Die klinischen Studien waren im November 2020 abgeschlossen und erwiesen sich bei moderat bis mittelschwer erkrankten Patienten als wirksam, soweit sie noch keine eigenen Antikörper produziert hatten. Es war somit möglich geworden, besonders gefährdete Patienten in erheblichem Umfang vor der Hospitalisierung zu bewahren, wenn ihnen das Präparat möglichst bald nach dem Auftreten der ersten Symptome infundiert wurde.
Menschen, die ihre Pneumonie nicht überleben, sterben an der Insuffizienz ihres Atemsystems (Respiratorische Insuffizienz); die von der Hyperinfektion ARDS Heimgesuchten gehen an einem Multiorganversagen zugrunde, das aufgrund weiterer Komplikationen – einer Lungenembolie oder einem akuten Nierenversagen – zur Sepsis geführt hat.16 Infolgedessen ist es keineswegs einfach, die wirkliche Todesursache dem Krankheitserreger SARS-CoV-2 zuzuordnen. Keines der oben skizzierten klinischen Diagnoseverfahren weist spezifische Eigenschaften auf. Die Parameter der Sauerstoffuntersättigung und die Laborbefunde unterscheiden sich nicht von anderen infektionsbedingten schweren Erkrankungen des Atemsystems. Im Bronchialsekret von bis zu 40 % aller schwerkranken Covid-19-Patienten wurden in mehreren Studien weitere atemwegspezifische Viren, aber auch Mykoplasmen und multiresistente Krankenhauskeime gefunden. Auch das Thorax-CT unterscheidet sich nicht von den Befunden, die während der zwei ersten Coronpandemien (SARS-Pandemie 2002/03, MERS-Pandemie 2012) und der schweren saisonalen Influenzapandemien der letzten Jahrzehnte erhoben wurden. Wie bei allen schwer verlaufenen Pneumonien und ARDS-Konstellationen berichten die Pathologen auch diesmal über beidseitig aufgetretene diffuse Schädigungen der Lungenbläschen (Alveolen) mit zellulären Exsudaten. Die Lungenzellen haben sich aus ihrem Gewebeverband gelöst und in hyaline Membranen umgeformt. Auch im Lungengewebe finden sich diffuse Exsudate, deformierte Lungenzellen und Ödeme. Hinzu kommen ausgedehnte infektiöse Reaktionen, in den entzündlichen Infiltraten finden sich zahlreiche für die Immunabwehr zuständige Lymphozyten. Alle diese Faktoren konvergieren zu einer Lungenfibrose, die sich bei den invasiv Beatmeten diffus ausbreitet und schließlich zum Tod führt. Zusätzlich werden sekundäre Komplikationen, insbesondere Thrombosen und Lungenembolien, beobachtet.
Beim Übergang zur zweiten Pandemiewelle richteten die Pathologen angesichts der neuerlich steigenden Sterbeziffern ihr Augenmerk verstärkt auf die Frage, inwieweit die Erreger noch weitere Organsysteme schädigten, insbesondere die Nieren, den Herzmuskel und das Zentralnervensystem.17 Dabei konnten sie bei den an akuter Niereninsuffizienz Verstorbenen gehäuft Viruspartikel im Nierengewebe nachweisen und diskutierten eine direkte Schädigung an den oberen Abschnitten des Tubulussystems. Darüber hinaus waren die bei den Schwerstkranken aufgetretenen Herzinfarkte eine indirekte Folge der Untersättigung des Herzmuskelgewebes mit Sauerstoff; in kleineren Untersuchungsserien wurden auch direkt virusbedingte Herzmuskelentzündungen beobachtet. Hinzu kam drittens der Nachweis akuter Hirnschädigungen, während die seltener beobachteten Hirnblutungen und Hirninfarkte mit dem schon seit längerem bekannten thromboembolischen Geschehen assoziiert waren.
Aufgrund dieser erweiterten Fragestellungen der Autopsien veränderte sich das klinische Gesamtbild der SARS-CoV-2-Pandemie. Beim Abgleich der Sektionsbefunde mit den Krankenhausberichten bestätigte sich die schon im Frühjahr 2020 gewonnene Erkenntnis, dass die Verstorbenen zuvor alle an krankhaftem Übergewicht, Bluthochdruck, obstruktiven Lungenerkrankungen, Diabetes oder Herzkreislaufproblemen gelitten hatten, und zwar häufig gleich mehrfach. Bei genau diesen Risikogruppen war es dem Virus dann auch gelungen, sich ausgehend von den unteren Atemwegen in die Nieren, das Herz und das Zentralnervensystem abzusiedeln.
Diese Synopse macht deutlich, wie wichtig die pathologischen Untersuchungen für die weitere Abklärung des Krankheitsgeschehens, die Verbesserung der klinischen Behandlungsmethoden und die Feststellung der wirklichen Todesursache sind. Nur die Pathologen vermögen uns zu erklären, wer hauptursächlich an den Folgen von Covid-19 verstorben ist und welche Rolle die schweren Begleiterkrankungen als Mitverursacher gespielt haben. Diese Frage wird uns im nächsten Kapitel noch etwas genauer beschäftigen.
Zum Glück bleibt über vier Fünfteln der Infizierten die Hospitalisierung erspart. Sie überstehen die Pandemie entweder asymptomatisch oder mit milden bis mäßigen Krankheitserscheinungen. Etwa zehn Tage nach Infektionsbeginn können sie sich mehrheitlich der stetig anwachsenden Kohorte der Genesenen zurechnen, die eine zeitlich begrenzte Immunität erworben haben.18 Zeitweilig aufgetretene Befürchtungen, es könne nach einem gewissen Intervall zu einer Reaktivierung der Infektion kommen, haben sich als unbegründet erwiesen. Die bei den Betroffenen nachgewiesenen RNA-Fragmente waren nicht mehr in der Lage, intakte Viruspartikel zu erzeugen und erneut in die menschlichen Wirtszellen einzudringen.
Bei allen, die diese Erkrankung überstehen, kommt es zu einer Immunreaktion durch die Bildung spezifischer Antikörper. Diese Immunproteine können inzwischen gezielt nachgewiesen werden, da man erkannt hat, dass sie entweder gegen die S1- und S2-Domänen des Spike-Proteins oder gegen das N-Protein von SARS-CoV-2 gerichtet sind. Etwa zehn Tage nach Infektionsbeginn bilden sich Akut-Immunglobuline vom Typ IgM und IgA, das länger wirksame IgG folgt etwa vier Tage später. Inzwischen wird angenommen, dass diese erworbene Immunität wie bei den voraufgegangenen Coronaepidemien relativ stabil ist und ein bis zwei Jahre lang andauert. Inwieweit die seit der Übergangsetappe der Pandemie neu aufgetretenen Virusvarianten die Immunwirkung unterlaufen, war bis Ende Juli 2021 noch ungeklärt.
Zu Euphorie bestand ohnehin kein Anlass, denn eine Minderheit klagte auch nach dem Abklingen der Infektion über erhebliche Beschwerden. Die Teilnehmer italienischer, britischer und US-amerikanischer Folgestudien litten schon im Frühjahr 2021 an wiederkehrender Atemnot, Kurzluftigkeit, Herzbeschwerden und einem von den Medizinern als ›Fatigue-Syndrom‹ bezeichneten Symptomenkomplex aus Müdigkeit, Antriebsschwäche, schneller Erschöpfung und geringer Belastbarkeit; aber auch kognitive Störungen wie vermehrte Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen wurden beobachtet. Diese Erscheinungen wurden ausschließlich bei ehemals Hospitalisierten aller Schweregrade festgestellt. Da sie häufig auch nach anderen Virus- und Parasitenerkrankungen auftreten, wurden sie zunächst nicht besonders ernst genommen. Immerhin wurden sie unter dem Oberbegriff ›Post-Corona-Syndrom‹ zusammengefasst. Zusätzlich wurden die ersten Reha-Programme konzipiert, nachdem bei spezialisierten Nachuntersuchungen (Magnet-Resonanz-Tomographie – MRT usw.) morphologische Schäden an der Lunge, am Herz und am Nervensystem nachgewiesen worden waren. Es mangelte jedoch bis Frühjahr 2021 an Untersuchungen, die eine Abschätzung des Anteils der am ›Post-Corona-Syndrom‹ Leidenden an der Gesamtzahl der Überlebenden der SARS-CoV-2-Pandemie ermöglichen würden.
Es zeigte sich jedoch bald, dass sich die Kliniker bei der Abwägung der Folgeschäden zu stark auf die ehemals hospitalisierten Patientinnen und Patienten konzentriert hatten. Umfassende Verlaufsstudien bewiesen, dass die Krankheitszeichen des ›Fatigue-Syndroms‹ bei den Überlebenden aller Schweregrade auftreten.19 Sogar symptomlos Infizierte waren betroffen; bei ihnen wurde der Virusbefall erst nachträglich im Antikörpertest erkannt. In diesem Kontext erinnerten sich einige Neurologen an die Tatsache, dass ein erheblicher Prozentsatz der akut Erkrankten auch über Störungen des Geschmacks- und Geruchssinns berichtet hatte. Nun schloss sich der Kreis. Stärker als andere Erreger wirkt das respiratorische SARS-CoV-2 auf das Nervensystem ein. Der Begriff ›Neuro-Covid‹ begann die Runde zu machen. Umfangreiche Untersuchungen wurden gestartet, um den Wirkungsmechanismus zu verstehen. Solide Ergebnisse, die ein Gesamtbild ergeben könnten, liegen noch nicht vor. Gesichert scheint lediglich, dass das Virus über die Geschmacks- und Geruchsnerven des Nasen-Rachenraums in die Riechbahn vordringt und die Neuronen schädigt. Wie es dann weiter ins Zentralnervensystem gelangt, ist noch unklar. Zahlreiche Gehirnareale benutzen den gleichen Rezeptor (ACE2) wie die Lungenzellen. An ihnen kann das Virus andocken und sich vermehren, sobald es die Wanderung durch die Nervenbahnen absolviert hat. Neueste neuro-immunologische Studien verweisen darauf, dass die Immunabwehr des Nervensystems bei schwerkranken Corona-Patienten extrem überlastet ist und ihren Bauplan zu verlieren droht. Hier eröffnet sich für die Neurologie ein neues Forschungsfeld. Der Trost für die unter den Langzeitfolgen von ›Neuro Covid‹ Leidenden besteht darin, dass die Beschwerden in den meisten Fällen (über 90 %) nach zwei bis drei Monaten abklingen.
Schon während der regionalen Ausbreitung von SARS-CoV-2 begann im Januar 2020 der Wettlauf um die Entwicklung neuer Impfstoffe. Bis Oktober 2020 beteiligten sich etwa 160 Pharma- und Biotech-Unternehmen, private Forschungszentren und Institute des öffentlichen Gesundheitswesens daran. Der Zeit- und Erfolgsdruck war enorm und wuchs angesichts der ungestümen Dynamik der Pandemie und der Überlastung der Hospitäler von Woche zu Woche.
Dabei waren die Ausgangsbedingungen nicht schlecht.20 Zwar waren die Impfstoffexperten beim Kampf gegen die Vorläufer des Virus – SARS-CoV-1 und MERS – nicht weit gekommen, wie wir schon wissen.21 Aber sie hatten aus diesen Rückschlägen gelernt. Da das Erbgut des Corona-Vorgängers SARS-CoV-1 zu 79 % mit dem neuen Erreger übereinstimmte und zudem den gleichen Rezeptor (ACE2) zum Andocken an der menschlichen Zelle benutzte, konnten sie direkt an ihre früheren Laborarbeiten anknüpfen und die dabei entwickelten Blaupausen für neue Verfahren und Herstellungstechnologien direkt anwenden. Bislang hatte die Entwicklung neuer Impfstoffe im günstigen Fall vier bis sieben Jahre gedauert: Auf die zeitraubende Forschungsphase folgten aufwendige Labor- und Tierversuche, und an sie schlossen sich drei aufeinander aufbauende klinische Studien an, bei denen die Wirksamkeit und Sicherheit der ›Kandidaten‹ nach genau festgelegten Protokoll- und Zielvorgaben (›Endpunkten‹) an Versuchspersonen getestet wurde. Am Ende machten immer nur wenige Vakzine das Rennen, und ihre mehrheitlich gescheiterten Konkurrenzprojekte mussten Verluste abschreiben und gerieten in Vergessenheit. Infolgedessen gehört die Entwicklung von Impfstoffen keineswegs zu den lukrativen Geschäftssparten der Biotech-Unternehmen und Pharmakonzerne, zumal sich auch die Preiskalkulation der schließlich eingeführten Massenimpfstoffe kaum rentabel gestalten lässt.
An dieser zurückhaltenden Beurteilung änderte auch die durch die Pandemie entstandene Notsituation nur wenig. Es war deshalb kein Wunder, dass die auf diesem Gebiet tätigen internationalen Großstiftungen und zahlreiche Regierungen den in Frage kommenden Unternehmen und den mit diesen verbundenen Forschungsnetzwerken massiv unter die Arme griffen. Sie wurden mit Subventionen, Sonderkrediten und weitreichenden Abnahmegarantien zur Teilnahme am Wettlauf stimuliert. Auch die Sicherheitsstandards wurden gelockert. Das Ziel war, die Zeitspanne bis zur Zulassung und Auslieferung der erfolgreichen Kandidaten auf eineinhalb bis zwei Jahre zu verkürzen. Unter dem Eindruck der zweiten Pandemiewelle wurde diese Zeitspanne nochmals auf 10 bis 14 Monate reduziert.
Im Verlauf des Frühjahrs 2020 meldeten zahlreiche Forschungsgruppen ihren Anspruch auf acht Plattformen an, auf deren Grundlage sie ihre Vakzine entwickeln wollten. Das Spektrum war weit gefächert. Es umfasste traditionsreiche, seit langem erprobte Verfahren mit modernisierter Herstellungstechnologie.22 Einige Projektgruppen betraten aber auch Neuland und stützten sich auf die Innovationen der Gentechnik und Gentherapie. Im Folgenden werde ich nur diejenigen konzeptionellen Ansätze skizzieren, deren Kandidaten die – allerdings extrem verkürzten – klinischen Studienphasen erfolgreich absolviert haben und bis März 2021 von den meisten Arzneimittelbehörden notfallmäßig zugelassen wurden.
Auf die seit langem erprobten Plattformen der Impfstoffherstellung griffen vor allem chinesische und indische Institute und Firmen zurück. Dazu gehören in erster Linie die inaktivierten Corona-Vakzine, die auch als Totimpfstoffe bezeichnet werden.23 Sie werden durch Formaldehyd unter Zusatz weiterer Chemikalien oder durch physikalische Methoden abgetötet und als Ganzpartikelimpfstoffe injiziert. Die Methode gilt als stabil und sicher, zudem kann die Stimulierung der Antikörperbildung durch die Zugabe von Adjuvanzien verstärkt werden; dafür werden in der Regel adsorbierende Aluminiumhydroxid-Gele benutzt. Nachteilig waren früher die für die Herstellung erforderlichen großen Virusmengen und die Notwendigkeit häufiger Auffrischimpfungen zur Aufrechterhaltung der Immunabwehr. Durch die neuen Bioreaktor- und Vero Cell-Technologien konnten die Antigenbindung der inaktivierten Viren und die Bildung hoher neutralisierender Antikörper-Titer wesentlich erhöht werden. Dabei waren vor allem Joint Ventures zwischen den drei folgenden Forschungsinstituten und Biotech-Unternehmen erfolgreich: das indische National Institute of Virology und das Familienunternehmen Bharat Biotech International in Hyderabad mit dem Kandidaten BBV 152 (Covaxin), der chinesische Impfstoffhersteller Sinovac (CoronaVac) und das Wuhan Institute of Biological Products des chinesischen Staatsunternehmens Sinopharm mit dem Kandidaten BBIBP-CorV.
Parallel zu den Totimpfstoffen reaktivierten die Vakzine-Projektgruppen eine zweite Plattform, die ebenfalls schon seit längerem erprobt war: die Gruppe der Proteinimpfstoffe.24 Dabei werden spezifische Eiweißbestandteile des Erregers als Antigene zur Erzeugung einer neutralisierenden Immunantwort injiziert. Bei SARS-CoV-2 lag es nahe, auf die rezeptorbindende Domäne S1 des Spike-Proteins zurückzugreifen. Diese Protein-Untereinheit kann in Zellkulturen angezüchtet oder synthetisch im DNA-Verfahren rekombiniert werden. Das Vorgehen ist vergleichsweise einfach, die Provokation der Immunantwort fällt jedoch relativ schwach aus. Dieses Dilemma wurde in zwei Fällen überwunden. Das US-Unternehmen Novavax entwickelte gemeinsam mit der Biotech-Firma Emergent BioSolutions das Vakzin NVX-CoV2373, in dem das synthetisch produzierte Antigen mithilfe eines Matrix-Adjuvans verstärkt wird. Eine überraschende Lösung fanden hingegen kubanische Wissenschaftler. Sie kultivierten die S1-Domäne des Erregers auf herkömmliche Weise und verbanden sie mit dem seit langem bekannten Totimpfstoff zur Verhinderung des Wundstarrkrampfs, dem Tetanus-Toxoid. Auf diese Weise nutzten sie die starke immunaktivierende Wirkung der entgifteten Wundstarrkrampftoxine als Proteinträger, um die schwächere antigene Wirkung des Corona-Subproteins zu potenzieren. Das Ergebnis dieser als ›Soberana 02‹ bezeichneten Entwicklung wurde von mehreren Experten positiv beurteilt.
Weitaus größere Aufmerksamkeit haben indessen einige Impfstoffe gefunden, bei denen nicht mehr die Eiweißpartikel selbst, sondern die für ihre Kopie in der menschlichen Zelle erforderlichen Genabschnitte injiziert werden.25 Sie führen in den infizierten Zellen eine starke Expression des als Antigen wirkenden Virus-Proteins herbei und stimulieren eine nachhaltige Immunantwort. Dieses Verfahren wurde in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der gentechnischen Krebstherapie entwickelt und gilt heute als sicher und etabliert. Um die in Frage kommenden Genabschnitte direkt an die menschlichen Zellen heranbringen zu können, brauchen die in Frage kommenden Gensequenzen jedoch einen Träger, eine so genannte Genfähre. Dafür eignen sich am besten harmlose Adenoviren, in die diese Genabschnitte eingebaut werden. Allerdings haben die viralen Vektoren einen Haken: Sie provozieren nach der Injektion des Impfstoffs selbst eine Immunantwort und können deshalb die angestrebte Antikörperbildung gegen SARS-Cov-2 abschwächen. Von der Lösung dieses Problems hing die Wirksamkeit der auf dieser Plattform entwickelten Vakzine ab, die wie die traditionellen Kandidaten zweimal – in drei- bis sechswöchigen Abständen – injiziert werden müssen. Die erste Erfolg versprechende Lösung gelang einem Joint Venture der Firma CanSino Biologics Inc. mit dem Beijing Institute of Biotechnology. Die Forscher klonten das Spike-Protein in voller Länge und bauten es in ein abgeschwächtes Adenovirus (Ad5) ein, das seit längerem in der Krebstherapie erprobt ist. Offensichtlich konnte der Kandidat (Ad5-nCoV) die unerwünschte immunisierende Nebenwirkung des Vektors erfolgreich ausschalten. Einen anderen Weg schlugen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Moskauer Gamaleja-Instituts ein. Um die den angestrebten Effekt störende Vektor-Immunität zu unterlaufen, griffen sie auf zwei unterschiedliche rekombinante Adenoviren zurück, in die sie das Spike-Protein einbauten: den Typ 26 für die erste und den Typ 5 für die zweite Impfung mit dem Präparat Gam-COVID-Vac, das unter dem Namen ›Sputnik V‹ bekannt wurde. Projekte zur Herstellung viraler Vektorimpfstoffe gab es auch in der westlichen Hemisphäre. Aufmerksamkeit erregte dabei das vom US-Medizinkonzern Johnson & Johnson präsentierte Vakzin (JNJ-78436735), das ebenfalls mit dem Adenovirus Typ 26 arbeitet. Es unterscheidet sich jedoch dadurch von allen anderen Kandidaten dieser Plattform, dass der virale Vektor seine Replikationsfähigkeit verliert, sobald er das Spike-Protein freigesetzt hat. Das größte Aufsehen erregte schließlich ein Team der University of Oxford, das gemeinsam mit dem britisch-schwedischen Unternehmen AstraZeneca den Impfstoff AZD1222 entwickelte. Als Vektor benutzte es ein modifiziertes, bei den Schimpansen vorkommendes Adenovirus, das bei beiden Impfdosen eingesetzt wird.
In aller Munde sind schließlich die RNA-Impfstoffe.26 Hier haben die Gentechniker auf die viralen Vektoren verzichtet. Stattdessen dringt die synthetisch erzeugte Boten-RNA (mRNA) direkt zur Codierung des Spike-Proteins des Erregers in die menschlichen Zellen ein; zur Erleichterung der Aufnahme ist sie von einer nanotechnisch bearbeiteten Lipid-Kapsel umgeben. Sobald die mRNA in die Immunzellen der Lymphknoten gelangt, präsentiert sie dort die Gensequenz für das Spike-Protein und provoziert eine starke und spezifische Antikörperreaktion der B-Zellen, die gleichzeitig in den Gedächtniszellen (T-Zellen) des Immunsystems gespeichert wird. Dieses neuartige Verfahren wurde erstmalig von einem Team des deutsch-US-amerikanischen BioNTech-Pfizer-Konsortiums entwickelt und erprobt (BNT162b2). Auch der in Cambridge, Massachusetts, ansässige Biotech-Hersteller Moderna präsentierte einige Wochen später einen Kandidaten dieser Plattform (mRNA Vaccine), der an den gleichen gentechnischen Verfahren orientiert ist.
Die klinische Prüfung der hier vorgestellten elf Kandidaten wurde häufig recht nachlässig gehandhabt.27 Die Phasen I und II wurden mehrfach verkürzt oder zusammengelegt. Auch eine bedenkliche Einengung der Zielvorgaben (›Endpunkte‹) war in den Protokollen zu beobachten. In den meisten Fällen begnügten sich die Akteure der klinischen Erprobung mit der Frage, inwieweit und wie stark die Kandidaten bei den mittleren Generationen der Bevölkerung das Auftreten milder oder moderater Krankheitssymptome verringerten. Die besonders gefährdeten älteren Menschen und chronisch Kranken wurden dagegen vernachlässigt, sodass die Frage nach der Verhinderung schwerer Erkrankungen und der Verringerung der Sterblichkeit weitgehend ausgeklammert blieb. Erst eine energische Intervention von prominenter Seite führte hier zu einigen nachholenden Korrekturen.28 Bis weit in die zweite Welle dominierte in den Protokollen der Kandidaten die Statistik der leichten und moderaten Fälle, über die die Probanden zudem häufig unüberprüft selbst berichteten. Dabei bildeten sich drei unterschiedlich erfolgreiche Gruppen oberhalb der Minimalstandards für eine Zulassung heraus. Die Vektorimpfstoffe ergaben eine Wirksamkeit von durchschnittlich 65–75 %, die Protein-Vakzine und Totimpfstoffe rangierten mit 70–80 % in der Mitte, und am besten schnitten die mRNA-Impfstoffe mit 94–95 % ab. Sie galten auch im Ergebnis der klinischen Ergänzungsprotokolle als besonders chancenreich für die Älteren und chronisch Kranken.
Erstaunlich war auch der Trend zu vorzeitigen Notfallzulassungen. Hier fungierten die chinesischen und russischen Kandidaten als Vorreiter: Sie wurden schon im Spätsommer 2020 zur Impfung spezifischer Gesellschaftsgruppen (beispielsweise Auslandsreisende) freigegeben – zu einem Zeitpunkt, als die entscheidenden Studien der Phase III mit ihrer besonders großen Probandengruppen (30.000–70.000) noch lange nicht begonnen hatten. Dieses Phänomen blieb jedoch keineswegs auf China und die Russische Föderation begrenzt. Die Phase III-Studien der mRNA-Vakzine sollten beispielsweise beim BioNTech-Pfizer-Kandidaten bis Mai 2021 dauern, und für das Konkurrenzpräparat von Moderna waren sie sogar bis Oktober 2022 angesetzt. Ähnlich lange Verläufe waren auch für den Vektor-Kandidaten von AstraZeneca (August 2021) und die Entwicklungen der übrigen Plattformen vorgesehen. Sie erhielten in den meisten Fällen bis zur Jahreswende 2020/21 Notfallzulassungen. Das hatte zur Folge, dass die noch ausstehenden Ergebnisse der Phase III in Massenexperimenten vorweggenommen wurden, an denen in allen Weltregionen Millionen von Menschen beteiligt waren. Nur in einigen Ländern mit hoch entwickeltem Gesundheitswesen wurden diese riskanten Massenversuche wenigstens wissenschaftlich begleitet und überwacht. Wenn man von einigen schweren Zwischenfällen – insbesondere allergischen Schocks und Thrombosen – absieht, sind sie in der Regel glimpflich verlaufen und vor allem in Großbritannien als großer Erfolg verbucht worden.29
Gleichwohl waren – und sind – die Nebenwirkungen und Risiken beträchtlich.30 Bei allen Kandidaten litten 20–35 % der Versuchspersonen an lokalen Reaktionen der Injektionsstellen, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Gliederschmerzen und Müdigkeit; bei einem kleinen Prozentsatz kam es auch zu ernsthafteren Komplikationen. Zusätzliche Probleme verursachte der Vektorimpfstoff von AstraZeneca: Neben heftigen allergischen Reaktionen wurden auch Thrombosen beobachtet. Bis zum Frühjahr 2021 wurde die Applikation dieses Impfstoffs in mehreren Ländern gestoppt. Möglicherweise lag der Fehler daran, dass die Oxford-Gruppe kein in der Gentherapie bewährtes und zusätzlich abgeschwächtes Adenovirus (Typ 5 oder Typ 26) als Vektor ausgewählt hatte, sondern einen bei den Schimpansen endemischen Typ.31
Darüber hinaus waren bis Frühjahr 2021 zahlreiche weitere Fragen zur Wirkungsweise der bislang erfolgreichsten Kandidaten offengeblieben. Es fehlte vor allem eine vergleichende Übersicht über diejenigen Vakzine, die Hospitalisierungen und Todesfälle besonders effizient verhindern. Ungeklärt blieb auch, in welchen Fällen die Immunisierten nicht mehr ansteckend sind, und wie lange die erworbene Immunität anhält. Schließlich tauchte im Winter 2020/21 ein weiteres gravierendes Problem auf: Welche Vakzine sind auch gegen die neu aufgetretenen Virusvarianten wirksam, und wie schnell können die als besonders erfolgreich geltenden Präparate an sie angepasst werden? Ein erstes Alarmzeichen kam im Januar 2021 aus Südafrika, denn gegen die dort neu aufgetretene Variante war der Vektorimpfstoff von AstraZeneca nicht mehr wirksam.32 Es spricht vieles dafür, dass Covid-19 nach seiner Eindämmung endemisch wird. Dann werden die immer wieder neu auftretenden Varianten von SARS-CoV-2 wie bei der Influenza eine ständige Modifikation der Vakzine und entsprechende Nachimpfungen erforderlich machen.