1.CHINA: VOM VERTUSCHEN ZUM AUTOKRATISCHEN DURCHGREIFEN

Am 22./23. Januar 2020 überprüfte die chinesische Führung ihren bisherigen Beschwichtigungskurs und entschloss sich zu einer radikalen Kehrtwende. Während der SARS-Krise des Jahrs 2003 hatte die Entscheidung zum offensiven Vorgehen drei Monate benötigt und war erst unter massivem ausländischem Druck zustande gekommen.1 Jetzt verkürzte sich die Zeitspanne bis zum Umschwenken auf etwa ein Drittel – einen knappen Monat. Dieser Zeitgewinn sollte sich jedoch bald als fragwürdig erweisen. Das 2002 entstandene SARS-CoV(-1)-Virus war nicht nur weniger ansteckend, die Infizierten entwickelten zudem deutliche Symptome und gaben ihre blinden Passagiere erst nach dem Ausbruch ihrer Erkrankung weiter. Im Gegensatz dazu war die neu aufgetretene Variante der Coronaviren hoch infektiös, löste aber nur bei etwa 20–25 % der Betroffenen behandlungsbedürftige Beschwerden aus. Infolgedessen war die Epidemie drei Wochen nach der Entstehung ihres ersten Infektionsherds schon weitaus stärker verbreitet als sieben Jahre zuvor in drei Monaten.

Diese Besonderheiten konnten die Experten jedoch erst einige Wochen später erklären. Gleichwohl waren sich die chinesische Führung und ihre wissenschaftlichen Berater am 22./23 Januar darüber im Klaren, dass sie ihr in den vergangenen Jahren aufgebautes Frühwarnsystem nicht mehr einfach aktivieren konnten, um der sich ausbreitenden Pandemie Herr zu werden. Die Versäumnisse der vergangenen Wochen setzten sie infolgedessen unter erheblichen Zugzwang. Über die Diskussionen, die während dieser Tage in Beijing geführt wurden, wissen wir noch nichts. Wir kennen nur ihr Ergebnis. Es lief darauf hinaus, alle Register gleichzeitig zu ziehen und das gesamte Instrumentarium der Seuchenbekämpfung in Stellung zu bringen.

Bei der Umsetzung dieser Grundsatzentscheidung übernahmen die Akteure der politischen Entscheidungszentren die Führung.2 Das ZK der Kommunistischen Partei gründete eine Zentrale Führungsgruppe zur Bekämpfung der Epidemie, ihr wurde vom Staatsrat ein Gemeinsamer Präventions- und Kontrollausschuss zugeordnet. Ausgehend von diesen beiden Leitungsgremien wurden zunächst in Wuhan und der Provinz Hubei sowie später in allen Provinzen nachgeordnete Koordinationsausschüsse gebildet.

Am 23. Januar folgten die Gegenmaßnahmen Schlag auf Schlag. Sie standen zunächst ganz unter dem Primat der Verhängung einer historisch beispiellosen Massenquarantäne. Um 2 Uhr morgens wurde die Abriegelung Wuhans ab 10 Uhr angekündigt; bis dahin flohen 300.000 Menschen aus der Provinzhauptstadt. Doch danach begann die Abriegelung zu greifen. Die U-Bahn, alle Bahnhöfe, Autobahnzugänge, Fährlinien und der Flughafen wurden geschlossen, ebenso alle öffentlichen Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken, Schulen und Hochschulen. Aus- und Einreisen waren nur noch mit Sondergenehmigung möglich. Die Einwohner durften ihre Wohnungen nur noch mit Passierschein zum Einkaufen von Lebensmitteln sowie zum Arzt- und Apothekenbesuch verlassen. Noch am selben Tag verhängte der Koordinationsausschuss der Provinz Hubei analoge Maßnahmen über die Nachbarstädte Wuhans sowie in den folgenden Tagen über weitere 15 Provinzstädte, sodass innerhalb kürzester Zeit knapp 60 Millionen Menschen mit der über sie hineingebrochenen Massenquarantäne konfrontiert waren.

In den folgenden Wochen wurde der ›Cordon Sanitaire‹ auf ein Dutzend weiterer Provinzhauptstädte und zahlreiche Bezirke ausgedehnt. Bis zur allmählichen Aufhebung dieser Restriktionen sollen mindestens 230 Millionen Chinesinnen und Chinesen mit diesen dramatischen Einschnitten in ihren Alltag und ihre Persönlichkeitsrechte konfrontiert gewesen sein.

Allen Beobachtern – aber wohl nur wenigen der von den Maßnahmen Betroffenen – war klar, dass es sich bei dieser völlig überraschend und weitgehend reibungslos durchgeführten Aktion nur um die Umsetzung eines seit langem erarbeiteten Katastrophenplans handeln konnte. Wegen seiner gigantischen Dimensionen erregte der ›China Lockdown‹ weltweit Aufsehen und beeinflusste die Gegenmaßnahmen in den späteren Epizentren nachhaltig. Trotzdem betrachteten ihn die zentralen Akteure in Beijing nur als eine Art Rahmenhandlung, die ein genauso massives epidemiologisches und gesundheitspolitisches Vorgehen erleichtern sollte.

Innerhalb weniger Tage mobilisierte das Chinesische Zentrum für Infektionskontrolle (CCDC) 1.800 epidemiologische Suchtrupps mit einer Personalstärke von je fünf Mitgliedern und schickte sie nach Wuhan. Dort gingen sie von Wohnblock zu Wohnblock, um Erkrankte aufzuspüren und deren Kontaktpersonen ausfindig zu machen. Diese Prozedur wiederholte sich in den folgenden Tagen und Wochen in den besonders betroffenen Nachbarstädten und Provinzen. Zusätzlich delegierten die Provinzregierungen 40.000 Beschäftigte des Gesundheitswesens, darunter über 6.000 Ärztinnen und Ärzte, nach Wuhan. Dort wurden ab dem 23. Januar zwei riesige Notfallkliniken (›fever clinics‹) aus dem Boden gestampft und in den folgenden Wochen durch vierzehn weitere klinische Notfallzentren in Messehallen und Stadien ergänzt.

So sahen sich die in Wuhan und den übrigen Epidemiezentren Eingeschlossenen innerhalb weniger Tage mit dem Aufmarsch seuchenpolizeilicher Suchtrupps konfrontiert, wie es sie in dieser Massierung noch nie gegeben hatte. Sie wurden gezwungen, mehrmals täglich Fieber zu messen, die Ergebnisse zu dokumentieren und den epidemiologischen Teams vorzuweisen. Beim Verdacht auf das Vorliegen einer Infektion wurden sie in die ›fever clinics‹ mitgenommen und dort bis zur Klärung der Diagnose isoliert. Die übrigen Familienangehörigen wurden unter häusliche Quarantäne gestellt.

Ab Mitte Februar löste eine elektronische Variante die epidemiologischen Sondertrupps ab. Alle Chinesinnen und Chinesen wurden verpflichtet, auf ihre Mobiltelefone eine ›Contact Tracing App‹ zu laden, in die sie in regelmäßigen Abständen ihre gesundheitlichen Daten einspeisen mussten. Ihre Provider gaben sie an die Gesundheitsbehörden weiter, wo sie mit den Informationen aus dem benachbarten Umfeld abgeglichen wurden. Die Auswertungsergebnisse wurden den Betroffenen dann laufend mitgeteilt, wobei sie in drei Kategorien (Rot = sofortige Isolierung, Gelb = Quarantäneverpflichtung und Grün = freier Ausgang) eingeteilt wurden. Bei allfälligen Kontrollen sowie vor dem Betreten von Einkaufszentren, Märkten und anderen öffentlichen Einrichtungen mussten sie immer ihre aktuelle Evaluierung vorweisen. So löste die digitale Lepra-Klapper das obligatorisch gewordene Infrarot-Fieberthermometer ab. Der Haken war nur, dass ein erheblicher Prozentsatz aller Neuinfizierten keinerlei Symptome entwickelte und infolgedessen auch jetzt unerkannt blieb.

Die Pandemie klang bis Mitte März ab und schwelte zunächst nur endemisch weiter. Die Abriegelung der Städte und Provinzen wurde schrittweise aufgehoben, zuletzt im Ausgangspunkt Wuhan am 9. April. Das Transportwesen wurde wieder hochgefahren, auch die Fabriken nahmen die Produktion wieder auf. Nur die digitale Infektionsüberwachung blieb uneingeschränkt bestehen. Sie wurde in wachsendem Ausmaß durch massenhafte Testserien ergänzt.

Gleichwohl kam die Entwarnung zu früh. Nach der begrenzten Wiedereröffnung der internationalen Fluglinien bildeten sich in Nordchina erneut einige Infektionsherde, die nun auch dort – so etwa in der Metropole Harbin – mit kompletten Abriegelungen beantwortet wurden. Zusätzlich verhängten die zentralen Führungsstäbe umfassende Reisebeschränkungen, die sich aufgrund der weltweiten Ausbreitung der Infektion mehr und mehr zu einem faktischen Einreiseverbot nach China ausweiteten.

Im Juni 2020 entschieden sich die chinesische Führung und ihre Experten zu einem grundsätzlichen Kurswechsel.3 Von nun ab räumten sie einer ausgewogenen Balance zwischen den Gegenmaßnahmen und den durch sie hervorgerufenen wirtschaftlichen Folgeschäden Priorität ein. Diese Entwicklung hatte sich erstmalig Mitte Mai abgezeichnet, als in Wuhan einige neue Infektionsfälle registriert wurden. Die epidemiologischen Untersuchungsteams beherrschten inzwischen ihr Handwerk, und auch die digitale Lepra-Klapper war technisch ausgereift. Die einzige Lücke bestand noch bei den symptomlosen Überträgern des Virus. Da sie nur durch massenhafte Testserien erkannt werden konnten, entschied sich die chinesische Führung, die gesamte Stadtbevölkerung Wuhans testen zu lassen. In der Zeit vom 14. Mai bis 1. Juni unterzogen sich alle Einwohner dieser Prozedur – kostenlos und angeblich freiwillig. Dafür gab die Regierung 900 Millionen Yuan (umgerechnet 126 Millionen US-Dollar) aus. Als einen Monat später in Beijing ebenfalls ein neuer Infektionsherd lokalisiert wurde, ließ die Stadtverwaltung lediglich den Cluster (den Zentralmarkt und die benachbarten Quartiere) absperren und setzte ansonsten auf Massentestungen, zu denen wie in Wuhan alle in der Hauptstadt lebenden 21 Millionen Menschen verpflichtet wurden.