2.DIE GEGENMASSNAHMEN IN OST- UND SÜDOSTASIEN

Nirgends wurden die Aktivitäten der zentralen chinesischen Krisenstäbe so aufmerksam beobachtet wie in den Ländern der Nachbarregion. Das hatte nicht nur politische, sondern auch handfeste historische Gründe. Die SARS-Pandemie, die im Frühjahr 2002 von Südchina ausgegangen war, hatte vor allem die Nachbarländer heimgesucht, und deren Gesundheitsverwaltungen hatten seither umfassende Frühwarn- und Überwachungssysteme entwickelt, um gegen neuerliche Überraschungen aus dem Reich der Mitte gewappnet zu sein. Zu diesem Misstrauen hatte nicht zuletzt auch die Erkenntnis beigetragen, dass die Volksrepublik die natürlichen Überträgerreservoire der Coronaviren, den Handel und Verzehr exotischer Wildtiere, allen Absichtserklärungen zum Trotz nicht eingedämmt hatte.1

Das am stärksten gefährdete Nachbarland Festlandchinas war Taiwan.2 850.000 seiner Bürgerinnen und Bürger leben in der Volksrepublik, und über 400.000 sind dort berufstätig. Die verwandtschaftlichen Beziehungen und die Transportverbindungen sind entsprechend engmaschig. Somit hatten die Behörden in Taipeh seit ihren Erfahrungen mit der SARS-Pandemie gute Gründe, die Entwicklung in Wuhan und der Provinz Hubei genau zu beobachten. Sogar die E-Mail-Kommunikation der Ärzte über die Häufung atypischer Pneumonien in den Notfallzentren der Kliniken Wuhans lasen sie mit. Das taiwanesische Krankheitskontrollzentrum (CDC) begann schon am 31. Dezember 2019 mit der Aktivierung seiner Alarmpläne.

An erster Stelle stand zunächst die physische und seit langem vorbereitete elektronische Überwachung der unfreiwilligen Importeure des Virus. Seit dem 5. Januar 2020 wurden alle aus Wuhan und Hubei Einreisenden von Mitarbeitern des CDC vor dem Betreten des Flughafens klinisch begutachtet; dieses Verfahren wurde bald auf alle China-Rückkehrer ausgedehnt. Parallel dazu wurden die Datenbanken des Grenzschutzes, der Zollbehörden, des zentralen Haushaltsregisters, der nationalen Krankenversicherung und wahrscheinlich auch der Meldebehörden zu einem Big Data-System gebündelt, um Erkrankte wie Krankheitsverdächtige isolieren und ihre Kontaktpersonen in Quarantäne schicken zu können. Der Big Data-Pool war innerhalb weniger Tage hochgefahren. Er funktionierte geräuschlos und von der Bevölkerung unbemerkt. Akut Erkrankte wurden in eine neu eingerichtete Spezialklinik eingewiesen, die in Quarantäne Geschickten standen unter elektronischer Überwachung und wurden mit Lebensmitteln versorgt.

Am 20. Januar aktivierte die Regierung auf Betreiben ihres Vize-Premiers, eines Epidemiologen3, und des CDC das im Gefolge der SARS-Pandemie im Jahr 2004 gegründete National Health Command Center mitsamt seinen regionalen und kommunalen Ablegern und einigen Sonderabteilungen zur Epidemie- und Pathogenüberwachung sowie für medizinische Katastrophenfälle. Noch am selben Tag wurde ein Handlungskatalog in Kraft gesetzt, der 124 Maßnahmen umfasste: Grenzkontrollen zu Luft und See, das Big Data-Paket zur Identifikation und Überwachung der Erkrankungs- und Verdachtsfälle, elektronische Aufklärung möglicher Infektionsketten, Ressourcensicherung für die Zwecke der Infektionshygiene, mediale Kommunikationsstrategien usw. Die Umsetzung des Szenarios gelang den erfahrenen Akteuren des öffentlichen Gesundheitswesens reibungslos. Sie waren beispielsweise in der Lage, über 600.000 Einwohner, die möglicherweise Kontakt mit den Passgieren des Kreuzfahrtschiffs ›Diamond Princes‹ gehabt hatten, durch die Überwachung ihrer Mobiltelefone auszulesen und ihren Gesundheitszustand abzuklären.4

Auch die Sicherung der für die Ausweitung der Infektionshygiene erforderlichen Ressourcen wurde energisch vorangetrieben. Sofort nach dem Inkrafttreten des Aktionskatalogs wurde die Produktion von Gesichtsmasken und Schutzkleidung hochgefahren, zusätzlich eröffneten mobilisierte Armee-Einheiten weitere Fertigungslinien. Die Hersteller von alkoholischen Getränken hatten ab sofort zwei Drittel ihrer Äthanol-Produktion an das Gesundheitswesen abzuzweigen, und der ausschließlich für die internationalen Lieferketten tätige größte Hersteller von Schutzhandschuhen hatte sich den nationalen Prioritäten unterzuordnen. Hinzu kam last but not least eine umfassende Hygienepropaganda, die unspezifische und mit hohen Folgekosten belastete administrative Eingriffe unnötig machte. Dagegen wurden die Einreisebestimmungen ständig verschärft, um neuerliche Importe aus den inzwischen in den anderen Weltregionen entstandenen Epizentren der Pandemie zu verhindern.

Aufgrund der ausgeklügelten und uneingeschränkten Handhabung der elektronischen Datensysteme war dieses Vorgehen erfolgreich. Taiwan war das einzige Land, dem es gelang, alle Infektionsketten aufzudecken. Nach Ende Februar 2020 wurden neun Monate lang keine neuen Infektionsfälle gemeldet. Dieser Erfolg musste jedoch um den Preis eines weltweit einmaligen Experiments erkauft werden, das seither Schule gemacht hat: der lückenlosen elektronischen Erfassung, Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung.

In den übrigen Ländern Ostasiens wurden ähnliche Maßnahmenkataloge aktiviert und umgesetzt. So unterschiedliche politische Regime wie Südkorea, Vietnam und Japan reagierten erstaunlich ähnlich. Schon in den ersten Januartagen aktivierten sie ihre Frühwarnsysteme. Als in ihren Ländern die ersten Covid-19-Importe bekannt wurden, bildeten sie nationale Krisenstäbe, werteten die Zentren für Infektionskontrolle auf und verabschiedeten in der letzten Januarwoche umfangreiche Aktionspläne. Reisebeschränkungen wurden erlassen und laufend an die internationale Entwicklung angepasst. In Südkorea und Vietnam wurden die Armeen mobilisiert und in den Aufbau der Infrastruktur der Pandemiebekämpfung einbezogen. Spezialkliniken zur Behandlung der infizierten Schwerkranken und Risikopatienten wurden eingerichtet. Die übrigen positiv getesteten Patientinnen und Patienten mussten sich in Armeeunterkünfte begeben, wo sie medizinisch betreut und verpflegt wurden. Kontaktpersonen und Krankheitsverdächtige kamen in häusliche Quarantäne und wurden elektronisch oder durch Gesundheitstrupps überwacht.

Parallel dazu sicherten sich die nationalen Koordinationszentren noch vor der ersten Bildung von Infektionsherden den Zugriff auf die Ressourcen der Infektionshygiene, nämlich die Produktion von Gesichtsmasken, Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln und sonstigem medizinischem Gerät. Dabei schreckten auch die japanischen Koordinationszentren nicht vor Produktionsanweisungen an Privatunternehmen und der Konfiskation von Vorräten zurück. Da die Epidemie im Gegensatz zu Taiwan im Februar und dann nochmals ab Mitte März zur Entstehung regionaler Schwerpunkte führte, erhielt die Entwicklung und Produktion sicherer Testsysteme oberste Priorität. Der massenhafte und erstaunlich frühe Einsatz der PCR-Tests ermöglichte es ihnen, die lokalen Cluster rasch zu identifizieren und ihre landesweiten Vernetzungen zu unterbrechen. Dabei wurden schon im Verlauf des Februar 2020 Produktionsziffern erreicht, die die Erzeugung in den Ländern der Transatlantikregion noch Monate später um ein Vielfaches übertrafen.

Indessen sahen sich auch die Koordinationszentren Südkoreas, Vietnams und Japans veranlasst, die größeren Cluster zeitweilig von der Außenwelt abzusperren. Die vietnamesische Regierung verhängte sogar für die Zeit vom 1. bis 15. April einen landesweiten Lockdown. Auch im Großraum Tokyo und in einigen japanischen Provinzen wurde das öffentliche Leben zeitweilig eingeschränkt, jedoch weniger drastisch als in China und Vietnam.

In Südostasien waren die Gegenmaßnahmen weniger systematisch durchdacht, und zwar auch in solchen Ländern, die wie Singapur die Big Data-Option Taiwans und Südkoreas favorisierten. Die Gründe sind leicht erkennbar. Viele Subregionen Südostasiens sind keine Flächenstaaten, sondern – wie etwa Indonesien oder die Philippinen – Archipele mit zahlreichen Inselgruppen. Auch die wirtschaftliche Entwicklung und das Ausmaß der nationalstaatlichen Integration der Gesellschaften sind nicht vergleichbar. Die Einkommensunterschiede und Lebensstile gehen mit ethnischen, kulturellen und religiösen Disparitäten einher. Bei derartigen Konstellationen haben es die Erfassungs- und Überwachungssysteme der Big Data-Technologien schwer. Zudem sind große Gesellschaftsgruppen aus den Gesundheits- und sozialen Sicherungssystemen der Nationalstaaten ausgegrenzt und für die Handlungskataloge und Kommunikationskonzepte der epidemiologischen Krisenstäbe schwer erreichbar.

Es gab aber auch ernsthafte Initiativen zur Eindämmung der Pandemie, die teilweise erfolgreich verliefen.5 In allen Ländern wurden die Flugverbindungen nach Wuhan bzw. China früh gekappt, anschließend folgten laufend aktualisierte Reisebeschränkungen gegenüber den neu entstandenen Epizentren. Zusätzlich aktualisierten die Gesundheitsbehörden mit Hilfe der Regional- und Länderbüros der WHO ihre Frühwarnsysteme und richteten separate Behandlungskapazitäten ein.

Es gelang den Gesundheitsbehörden jedoch nicht überall, wie in Ostasien die ersten größeren Infektionsherde vollständig einzudämmen und die davon ausgegangenen Infektionsketten zu unterbrechen. In dieser Situation verstärkten die Krisenstäbe ihre Bemühungen um den Ausbau der Testkapazitäten. Dabei erzielten sie teilweise erstaunliche Erfolge. Vor dem Übergreifen der Pandemie hatten die betroffenen Länder über höchstens ein medizinisches Zentrum (meistens die zentrale Forschungsklinik für Tropenkrankheiten) verfügt, das die gentechnischen Testverfahren beherrschte. Diese Lücke wurde innerhalb weniger Wochen geschlossen. Beispielsweise gelang es dem philippinischen Gesundheitsministerium, bis Mitte April 47 Laboratorien einem Zertifizierungsverfahren zu unterziehen und erhebliche Testkapazitäten aufzubauen. Mit ihrer Hilfe und durch gezielte lokale Absperrmaßnahmen konnte die diffuse Ausbreitung der Epidemie zunächst unterbunden werden.

Die neuen Technologien des ›Contact Tracing‹ spielten dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht nur Singapur, dessen Gesundheitsbehörden sich auch sonst stark am Vorgehen Taiwans und Südkoreas orientierten. Das bewahrte die Epidemiologen des Stadtstaats jedoch nicht vor gravierenden Rückschlägen. Erst nach dem Ausbruch eines großen Infektionsherds bei den ausländischen Wanderarbeitern wurden deren Massenunterkünfte in die seuchenhygienischen Vorbeuge-, Behandlungs- und Überwachungsmaßnahmen einbezogen.