Wie einige Nachbarländer der Volksrepublik China waren die USA besonders früh über den Ausbruch von Covid-19 in Wuhan und der Provinz Hubei informiert.1 Das National Center for Medical Intelligence berichtete schon Ende November 2019 über die Ausbreitung eines neuartigen Virus. Ähnliche Hinweise fanden sich im Verlauf des Dezembers in diplomatischen Papieren und geheimdienstlichen Lageanalysen. Alle diese Nachrichten erreichten die politischen Entscheidungszentren Washingtons in der ersten Januarwoche, und der National Security Council informierte Präsident Donald Trump über eine möglicherweise bevorstehende Pandemie. Schneller als gedacht, schienen sich die düsteren Szenarien zu bestätigen, die nur wenige Monate zuvor in den spektakulären Livestreams der Großstiftungen und den verschwiegenen Pandemie-Übungen der US-Administration durchexerziert worden waren.2 Aber die USA waren ja bestens gerüstet – so schien es. Dem Ranking des britisch-amerikanischen ›Global Health Security Index‹ zufolge befanden sich die Vereinigten Staaten an der Spitze der am besten gerüsteten Staaten.
Die Warnungen verhallten denn auch nicht ungehört, zumal die Gesundheitsbehörden Seattles am 20. Januar über die erste bestätigte Infektion berichteten.3 Neun Tage danach ordnete Präsident Trump die Gründung einer ›White House Covid-19 Task Force‹ an, Gesundheitsminister Alex Azar übernahm die Leitung. Knapp einen Monat später löste ihn Vizepräsident Mike Pence ab und setzte die ehemalige Militärmedizinerin Deborah Birx als Koordinatorin ein. In den folgenden Wochen wurden weitere Mitglieder kooptiert, darunter die Minister mehrerer Schlüsselressorts, Sicherheitsberater sowie die Leiter zentraler Bundesbehörden. Auch die führenden Exponenten des öffentlichen Gesundheitswesens waren vertreten, sie stellten zusammen mit Azar und Birx neun der zuletzt 27 Mitglieder.4 Im Verlauf des März 2020 avancierte der Direktor des National Institute for Allergy and Infectious Diseases Anthony Fauci zu ihrem informellen Sprecher und zum ›Gesicht‹ der Task Force.
Auch die ersten Maßnahmen, die die Trump-Administration auf Anraten der Taskforce ergriff, erweckten zunächst den Eindruck eines gut durchdachten und entschlossenen Vorgehens. Schon am 30. Januar proklamierte Washington einen gesundheitspolitischen Ausnahmezustand (Public Health Emergency). Einen Tag später folgte ein Einreiseverbot aus Wuhan und der Provinz Hubei, und gleichzeitig bot das State Department der chinesischen Regierung materielle und professionelle Hilfe bei der Bekämpfung der sich ausbreitenden Pandemie an. Weitere Einreisebeschränkungen folgten und fanden erst im März mit dem Stopp der Flugverbindungen aus und nach Europa ihren spektakulären Abschluss.
Doch der Schein trog. Hinter den Fassaden des selbstbewussten und auf einen raschen Erfolg setzenden Auftretens häuften sich die Versäumnisse im infektionshygienischen Bereich der Pandemiebekämpfung. Das Problem bestand darin, dass die Gesundheitsbehörden trotz des hohen Entwicklungsstands der US-amerikanischen Labordiagnostik über keine ausreichenden Testkapazitäten verfügten. Zwar entwickelten zahlreiche Forschungsinstitute, Großkliniken und Privatunternehmen nach der Bekanntgabe des Virusgenoms gut geeignete PCR-Tests, aber die Food and Drug Administration (FDA) verbot ihre praktische Anwendung. Auch den Import eines in Deutschland entwickelten und von der WHO empfohlenen Testverfahrens lehnte sie ab. Dadurch sicherte sie den Centers for Desease Control and Prevention (CDC) ein Entwicklungsmonopol. In der letzten Januarwoche brachten die CDC ein eigenes Test-Set heraus. Als sich im Februar die Pandemie an der West- und Ostküste ausbreitete, konnten pro Tag jedoch nur bei bis zu 100 Personen Abstriche gemacht werden. Zudem stellte sich heraus, dass die Tests aufgrund von Fabrikationsfehlern höchst unsicher waren. Ende Februar hob die FDA deshalb das Produktionsmonopol auf und gab die konkurrierenden Verfahren der Forschungsinstitute und Kliniken frei. Aber nun war es zu spät. Zu lange mussten die Kliniker und Akteure der Gesundheitsämter die Tests auf Patientinnen und Patienten beschränken, die schwer erkrankt waren. Die Infektionsherde konnten sich infolgedessen unerkannt ausbreiten und in New York und New Jersey ihre ersten Schwerpunkte bilden. Erst jetzt wurden die Testkapazitäten hochgefahren.
Einen ähnlich gravierenden Fehler machten die dafür zuständigen Behörden bei den Reisebeschränkungen. Sie waren zwar rechtzeitig verfügt und bis hin zum Einreiseverbot aus Europa immer wieder bekräftigt worden. In der Praxis wurden sie jedoch ständig unterlaufen. Auch die in den Flughäfen eingerichteten Screeningverfahren versagten weitgehend.
Hinzu kam ein drittes Problem: der Mangel an Gesichtsmasken, Schutzkleidung, medizinischen Handschuhen und Desinfektionsmitteln. Wie in Europa existierten allen vorherigen Pandemieübungen zum Trotz keine Vorräte, die über den medizinischen Routinebetrieb hinausreichten. Als die Pandemie ausbrach, stellte sich heraus, dass sogar die gesetzlich vorgeschriebenen Notfallbestände nicht aufgefüllt worden waren. Das Personal der Notfallzentren konnte sich schon nach wenigen Tagen nicht mehr ausreichend schützen. Auch die dringend erforderliche Ausweitung der Hygienemaßnahmen auf die besonders gefährdeten Menschen in den Alten- und Pflegeheimen war nicht möglich. Erst als bei den Gouverneuren der besonders betroffenen Bundesstaaten ein wilder Wettlauf um den Import von Gesichtsmasken und Schutzhandschuhen einsetzte, erkannten die Washingtoner Krisenstäbe, dass die Effizienz der Pandemiebekämpfung nicht nur ein Problem ausreichend vorhandener Intensivbetten und Beatmungsmaschinen darstellte. Sie entzogen den CDC die Verfügungsgewalt über die Vorratslager und erteilten den dafür geeigneten Unternehmen unter Rückgriff auf ein militärisches Notstandsgesetz den Auftrag, ihre Produktionskapazitäten hochzufahren.5 Von nun an unterstand die Verteilung des Basismaterials der Infektionshygiene einer Sonderabteilung des Gesundheitsministeriums.6 Die extreme Mangelsituation besserte sich seither etwas, wurde jedoch erst im Januar 2021 behoben. Als sich die Pandemie im Juni so diffus ausbreitete, dass das gesamte Gesundheitswesen mit ihr konfrontiert war, verstärkte sich der Mangel erneut.7 Bis Mitte Juli infizierten sich in den USA über 80.000 Mediziner, Krankenschwestern und Pfleger mit SARS-CoV-2, und etwa 900 starben.
Auf diese Weise schlitterten die USA wie Europa in die Covid-19-Pandemie und verloren mit einer gewissen zeitlichen Versetzung sechs entscheidende Wochen, obwohl die Trump-Administration schon Ende Januar alle zuständigen administrativen Bereiche in einem zentralen Krisenstab gebündelt hatte. Aber gerade die Führungspersonen unterschätzten die Bedeutung der grundlegenden Eindämmungsmaßnahmen und der Infektionshygiene. Sie blieben jedoch keineswegs untätig. Wie in Europa ergriffen sie in der dritten Märzwoche die Flucht nach vorn. Unter dem Eindruck des Katastrophenszenarios des Imperial College8 erließ die Trump-Administration mehrere Aufrufe zur allgemeinen Kontakt- und Reisebeschränkung und empfahl die Schließung der Schulen sowie die Einschränkung aller Versammlungen über zehn Personen. Parallel dazu begann das Medical Corps der U.S. Army mit der Einrichtung stationärer Notfallzentren, und auch der Bereich der Alten- und Behindertenpflege sollte jetzt gezielt geschützt werden. Die White House Task Force und die ihr mit den entsprechenden Richtlinienentwürfen zuarbeitende Leitung der CDC hoffte, durch diese Maßnahmen die Pandemie innerhalb eines halben Monats entscheidend verlangsamen zu können.
Einige Bundesstaaten und Großstadtverwaltungen gingen bei ihren Versuchen zur Eindämmung der Pandemie erheblich weiter. Ab dem 19. März erließen die Gouverneure bzw. Bürgermeister von Kalifornien, Seattle, San Francisco, New York City und Chicago drastische Ausgangsbeschränkungen. Viele Unternehmen schickten ihre Angestellten ins Homeoffice, allen voran die in der Bay Area San Franciscos angesiedelten IT-Giganten Apple, Facebook und Google. Gleichzeitig bemühten sich einige Gouverneure frühzeitig um die Beschaffung von medizinischem Schutzmaterial und Testkapazitäten. Darüber hinaus stockten sie das Personal ihrer Gesundheitsämter mit zehntausenden ›Contact Tracers‹ auf, um die Isolierungs- und Quarantänevorkehrungen zu verbessern. In einigen Fällen – insbesondere in Seattle und San Francisco sowie im gesamten Bundesstaat Kalifornien – flachte sich die Kurve der Neuinfektionen bis Ende April deutlich ab, und auch die Sterbefälle blieben in engen Grenzen. Dass dies in New York City nicht gelang, war neben den infektionshygienischen Defiziten vor allem strukturellen Faktoren geschuldet: der großen Bevölkerungsdichte, der herausragenden Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs (5,5 Millionen Menschen nutzen die Subway täglich) und der Existenz großer afro-amerikanischer und spanisch-amerikanischer Communities, die nur partiell in die gesundheitspolitischen Vorkehrungen integriert waren.
Anfang Juni 2020 verstärkte sich die Pandemie im Anschluss an ihre vorübergehende Abschwächung erheblich.9 Nun verloren die zentralen Krisenstäbe und die bundesstaatlichen Gesundheitsbehörden die Kontrolle über ihre weitere Entwicklung. Die Ursachen für ihr Scheitern waren vielfältig, und es mangelt nicht an Schuldzuweisungen. Seit Ende Apri, Anfang Mai drängten die Trump-Administration und die Gouverneure einiger Bundesstaaten im Süden und Westen im Wissen um die sich kumulierenden Folgeschäden auf eine rasche Aufhebung der Kontaktbeschränkungen. Dies war angesichts der epidemiologischen Stabilisierung nachvollziehbar, aber es geschah überstürzt und ohne Berücksichtigung der inzwischen erworbenen Kenntnisse über die Eigenschaften des Erregers und seine Ausbreitungswege. Es war zweifellos falsch, den Kirchengemeinden uneingeschränkt grünes Licht zu geben, die Bars, Nachtclubs und Restaurants wieder zu öffnen und die Massenveranstaltungen der Freizeitkultur wieder hochzufahren. Die damit verbundenen Risiken waren den Akteuren des öffentlichen Gesundheitswesens bekannt, aber die Versuche der CDC, wenigstens die wichtigsten Risikofaktoren auszuschalten, wurden zurückgewiesen. Zudem mangelte es nach wie vor an den elementaren Ressourcen der Prävention und Infektionshygiene, um die im Ergebnis der Lockerungsmaßnahmen zu erwartenden neuen Infektionsherde eindämmen zu können.
In der öffentlichen Wahrnehmung spielten diese Aspekte jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen beherrschten Berichte über die Macht- und Positionskämpfe innerhalb der White House Task Force und die in der Tat abstrusen Äußerungen eines maßlos überforderten Präsidenten eine herausragende Rolle. Zweifellos steckt hinter dieser personalisierenden Verarbeitung des Scheiterns des US-amerikanischen Pandemiemanagements auch ein Stück Wahrheit. Es ist zutreffend, dass die Trump-Administration alle Akteure und Behörden, die ihren Wunschträumen vom raschen Ende der Pandemie widersprachen, nach und nach kaltstellte: Zuerst die Centers for Disease Control and Prevention und ihren wenig befähigten Leiter Robert R. Redfield, und anschließend den renommierten und nüchtern abwägenden Epidemiologen Anthony Fauci, den Trump zunächst selbst zum ›Gesicht‹ der Pandemiebekämpfung gekürt hatte.
Diese Feststellungen verleiten leicht zu der Annahme, dass ein kompetentes und gut abgestimmtes gesundheitspolitisches Krisenmanagement trotz der katastrophalen Versäumnisse in der Ausbreitungsphase in der Lage gewesen wäre, die Pandemiewelle wie in Europa einzudämmen. Schon ein oberflächlicher Vergleich macht jedoch deutlich, dass die US-amerikanischen Krisenstäbe mit weitaus gravierenderen strukturellen und kurzfristig nicht lösbaren Problemen konfrontiert waren als ihre europäischen Partnerinstitutionen. Das US-amerikanische Gesundheitswesen ist erstens weitaus stärker als das europäische renditeorientiert. Es operiert infolgedessen immer am Rand der Kapazitätsgrenze und tendiert dazu, öffentlich-gesundheitspolitische Krisenbevorratungen ›einzuschmelzen‹. Zweitens gibt es in den USA keine funktionsfähige Krankenversicherung. Zwar hat der im Jahr 2010 verabschiedete ›Affordable Care Act‹ (›Obamacare‹) die bisherige medizinische Minimalsicherung der Alten (Medicare) und Armen (Medicaid) ansatzweise auf die unteren Mittelschichten ausgeweitet. Dieser Prozess wurde jedoch nach der konservativen Wende von 2017 gestoppt, wobei auch einige spätere Akteure der White House Covid-19 Task Force eine wichtige Rolle spielten. Das hatte jetzt zur Folge, dass Millionen unversicherte Infizierte erst dann medizinische Hilfe in Anspruch nahmen, wenn sie ernsthaft erkrankt waren. Aus diesen strukturellen Defiziten resultiert drittens das Phänomen, dass es um den Gesundheitszustand der US-amerikanischen Unterklassen und unteren Mittelschichten schlecht bestellt ist, und dies bezieht sich insbesondere auf die afro-amerikanischen und spanisch-amerikanischen Gesellschaftsgruppen. 11 % der US-Bevölkerung leiden an Diabetes, in Europa sind es 5–6 %. Mehr als die Hälfte der US-Bürgerinnen und -Bürger ist übergewichtig (in Europa etwa ein Viertel). Auch bei den übrigen Risikofaktoren der Pandemie – Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Immunschwäche usw. – verhält es sich ähnlich. Infolgedessen ist die Altersverteilung der Covid-19-Mortalität bei den Afro-Amerikanern und Spanisch-Amerikanern deutlich zu Lasten der jüngeren Jahrgänge (ab 45 Jahre aufwärts) verschoben.10 Derart gravierende strukturelle Mängel vermag auch der effizienteste Krisenstab nicht innerhalb einiger Monate zu überwinden.
Bis Mitte Juli spitzte sich die Coronakrise in den USA weiter zu. Die Kritik an der Trump-Administration, an der Taskforce des Weißen Hauses und an den Gouverneuren der Südstaaten verschärfte sich. Zahlreiche Experten forderten, aus den Fehlern der vergangenen Monate die Konsequenzen zu ziehen und eine neue Strategie zu entwickeln, die sich endlich durch eine Balance zwischen Risikoanalyse und Eindämmungsmaßnahmen auszeichnete.11 Einige Gouverneure versuchten nach dieser Maxime zu handeln und verlorenes Terrain wettzumachen.12 In diesem Kontext meldeten sich auch die allseits geschmähten und marginalisierten Fachleute der CDC wieder zu Wort. Sie legten eine neue Studie vor, in der sie über die Ergebnisse erster repräsentativer Immunitätstest berichteten.13 Danach hatten sich inzwischen 20 Millionen US-Amerikaner, 6 % der Gesamtbevölkerung, mit SARS-CoV-2 infiziert. Zugleich erkrankten immer häufiger auch jüngere Menschen schwer, und in den Südstaaten waren die klinischen Reservekapazitäten erschöpft. Nur wenn jetzt entschieden gehandelt, die Versäumnisse der ersten sechs Wochen endlich überwunden und neue Massentestverfahren angewandt würden, könnte eine weniger riskante Variante der Lockerungsmaßnahmen ins Auge gefasst werden.14 Jetzt befand sich die Trump-Administration an einer Wegscheide. Sie stand vor der Alternative, radikal umzusteuern und erfahrenen Epidemiologen und Public-Health-Experten die Initiative zu überlassen – oder die Informationen über die sich unkontrolliert ausbreitende Pandemie zu manipulieren. Dass sie die letztere Variante zumindest ins Auge fasste, zeigte ihre Mitte Juli 2020 getroffene Entscheidung, die CDC aus der täglichen Berichterstattung der Krankenhäuser auszuschließen und die Informationen nur noch in eine neu eingerichtete Datenbank des Gesundheitsministeriums einzuspeisen. Auf diese Weise sicherte sie sich ein Informationsmonopol über die Zahl der Neuinfektionen, Genesenen und Verstorbenen, aber auch über die Behandlungsreserven und medizinischen Vorräte. Offiziell wurde der Schritt damit begründet, die Ausstattung und Belieferung der Hospitäler optimieren zu wollen.15 Es könnte aber auch der erste Schritt zur Manipulation der Öffentlichkeit und zur Abtrennung der medizinisch-epidemiologischen Forschung von ihren entscheidenden Informationsgrundlagen gewesen sein. Diese Befürchtungen erwiesen sich jedoch bald als haltlos. Die Dokumentation des Pandemiegeschehens wurde nicht eingeschränkt.