7.WIE KAM ES ZUM ›GROSSEN LOCKDOWN‹? EINE ZWISCHENBILANZ

Am Ende der Reise durch die Krisenzentren der Pandemiebekämpfung möchte ich eine erste Zwischenbilanz ziehen. Ich möchte die Frage aufwerfen, warum die spezifischen Eindämmungsversuche so rasch durch allgemeine Gegenmaßnahmen abgelöst wurden und in einen ›Großen Lockdown‹ mündeten. Die aktuelle Situation begünstigt einen solchen Versuch. Die Pandemie hat bislang drei Wellen und zwei Übergangsetappen durchlaufen. Auf diese Dynamik reagierten die Weltinstitutionen und Regierungen kaum umsichtiger als in den chaotischen ersten Monaten. An ihre Fehleinschätzungen, wenig durchdachten und häufig fatalen Entscheidungen werden sie sich nicht gern erinnern. Zwar wird inzwischen Kritik geübt und teilweise auch akzeptiert. Doch gleichzeitig wird der Eindruck erweckt, als hätte es angesichts des Tempos und des Ausmaßes der Pandemie keine Alternativen gegeben, sodass letztlich unvermeidliche Fehler gemacht worden seien. Auf diese Weise wird wieder alles zugedeckt. Bei vielen kritischen Beobachtern scheint diese Verteidigungsstrategie gut anzukommen.

Aus dieser Perspektive möchte ich im Folgenden die Frage erörtern: Warum wurden die spezifischem, das gesellschaftliche Leben kaum beeinträchtigenden Präventionskonzepte der Infektionshygiene und des Public Health missachtet und durch die grobschlächtigen Methoden des ›Großen Lockdowns‹ ersetzt? Erst nach der Klärung dieses Problems können wir die Auswirkungen des ›Großen Lockdowns‹ auf den Verlauf von Covid-19 untersuchen und seine gesamtgesellschaftlichen Folgen abschätzen.

Die spontanen Vorkehrungen der Bevölkerung

Um es vorweg zu betonen: Am effizientesten waren die Vorkehrungen, die die breite Mehrheit der Bevölkerung – die ›common people‹ – in mehreren Weltregionen ergriff, sobald sie die Nachrichten über die Ausbreitung des Virus erreicht hatten.1 Vor allem in Ost- und Südostasien war dieser Reflex stark ausgeprägt. Seit Jahrzehnten wird die Bevölkerung in den dortigen Megacities vom Smog geplagt und stärker als sonst wo von Epidemien heimgesucht. Es war für sie deshalb auch in dieser Situation selbstverständlich, ihre Vorräte an Hygieneartikeln aufzufrischen, vor dem Verlassen ihrer Wohnungen Gesichtsmasken anzulegen und die Händedesinfektion zu verstärken. Als hilfreich erwies sich auch die in der Alltagskultur verankerte Gewohnheit, im sozialen Umgang auf körperliche Distanz zu achten; das Händeschütteln etwa ist keineswegs nur in Epidemiezeiten verpönt. Und da die Berichte über die Ausbreitung eines neuartigen Coronavirus in ganz Ost- und Südostasien böse Erinnerungen an die SARS-Pandemie von 2002/2003 weckten, konnte es nicht verwundern, dass große Teile der ost- und südostasiatischen Bevölkerung noch einen Schritt weitergingen und ihre gesellschaftlichen Kontakte und Reisen extrem einschränkten.

In Europa war die Situation komplizierter. Hier schütteln sich die Menschen zur Begrüßung die Hände. Verwandte sowie Freundinnen und Freunde umarmen sich, und die vorbeugende Bedeckung von Mund und Nase ist ein kultureller Fremdkörper. Gleichwohl sorgten die Menschen auch hier sofort vor, als die Infektionszahlen zu steigen begannen. Auch sie stockten ihre Vorräte an Desinfektionsmitteln und Artikeln der Basishygiene auf – solange sie noch käuflich waren. Zusätzlich beschränkte auch hier eine kaum wahrgenommene Mehrheit spontan ihre sozialen Kontakte, revidierte ihre Reisepläne, vertagte die Restaurantbesuche und begann Großveranstaltungen zu meiden. Zu diesem Verhalten mussten sie nicht durch behördliche Anordnungen gedrängt werden. Zweifellos hielt eine qualifizierte Minderheit – Karnevalsbesucher, Sportfans, Skiurlauber, religiös Bewegte und die international mobilen Mittel- und Oberschichten – nichts von derartigen Vorsichtsmaßnahmen. Aber die ›schweigende Mehrheit‹ zählte auch in diesem Fall. Ihr ist es zu verdanken, dass die Zahl der Neuinfektionen in den meisten europäischen Ländern schon einige Tage vor dem Inkrafttreten der staatlichen Maßnahmenbündel drastisch zurückging.2 Hätten die Instanzen des öffentlichen Gesundheitswesens diese Impulse aufgegriffen, durch Informationskampagnen verbreitert und durch die großzügige Bereitstellung aller erforderlichen Artikel der Infektionshygiene unterstützt, dann hätten sie wohl mehr erreicht als ihre Regierungen mit der Außerkraftsetzung der individuellen und gesellschaftlichen Grundrechte.

In den USA, Indien und den lateinamerikanischen Regionen waren die spontanen Selbstschutztendenzen der Bevölkerung weniger stark ausgeprägt. Vor allem die Mittel- und Oberschichten der US-amerikanischen Ost- und Westkürste reagierten vergleichbar und reproduzierten die europäischen Lernprozesse. Die breite Masse der Bevölkerung verhielt sich jedoch anders, zumal sie bei ihrer Ablehnung von Schutzvorkehrungen durch führende politische Repräsentanten unterstützt wurde. Für die ethnischen Minderheiten – Afroamerikaner, Spanisch-Amerikaner und Indigene – waren das Tragen von Gesichtsmasken und der Verzicht auf körperliche Nähe lange Zeit undenkbar.3 Es gab auch religiöse Gemeinschaften, die Initiativen zur Abwehr einer gottgewollten Plage ablehnten. Auch für die um ihr tägliches Minimaleinkommen kämpfenden Bewohnerinnen und Bewohner der Slum Cities der südlichen Hemisphäre waren intensivierte Hygienemaßnahmen und Mobilitätsbeschränkungen in der Regel kein Thema. Wer über kein fließendes Wasser verfügt und täglich einen neuen Job finden muss, um dem Hunger zu entgehen, hat andere Sorgen. Diese Faktoren waren meines Erachtens die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich die Pandemie in den beiden Amerikas und Südasien so lange halten konnte. Mittlerweile belegen zahlreiche empirische Studien, dass freiwillige Hygienemaßnahmen und selbstgewählte Kontaktbeschränkungen die Zirkulation des Erregers weitaus effizienter einschränkten als behördliche Anordnungen und Verbote.4

Das Versagen der epidemiologischen Sofortmaßnahmen

Der zweite Faktor, der wesentlich über die Erfolge und Misserfolge der Pandemiebekämpfung entschied, war von der Qualität und Effizienz der Eindämmung von Covid-19 in der Frühphase abhängig.5 Auf diesem Terrain wurden entscheidende Fehler gemacht (wenn man von den oben skizzierten Ausnahmen in Taiwan und einigen weiteren Nachbarländern Chinas absieht). Es war keineswegs Zufall, dass im Ursprungsland der Pandemie ein entwickeltes epidemiologisches Abwehrsystem existierte. Aber es wurde erst mit einer sechswöchigen Verspätung aktiviert, sodass sich die neu aufgetretenen blinden Passagiere aufgrund der dichten internationalen Flugverbindungen weltweit ausbreiten konnten; in Norditalien blieben sie anfänglich sogar unentdeckt. Infolgedessen hing die weitere Entwicklung von der Fähigkeit der zuerst involvierten epidemiologischen Teams ab, die Überträger zu identifizieren, den Übertragungsmodus zu erkennen und die Infektionsketten zu unterbrechen, bevor sie sich weiter verzweigten. Sie erzielten dabei teilweise bemerkenswerte Erfolge. Es gelang einigen Medizinern sogar schon Ende Januar 2020, das für das weitere Vorgehen entscheidende Phänomen zu verstehen: die Übertragung des Virus durch Infizierte, die keinerlei Krankheitssymptome aufwiesen. Das aber bedeutete, dass ein Vorgehen gewählt werden musste, durch das auch die symptomlosen Überträger erkannt werden konnten. Dies setzte sofortige, groß angelegte Umgebungsuntersuchungen voraus, die nur mithilfe von Massentests zu bewältigen waren. Diesen Befunden und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel widersetzte sich jedoch das wissenschaftliche Establishment und unterdrückte die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse.6 Damit konnte sich SARS-CoV-2 erst einmal unbehindert ausbreiten. Die einzige Notbremse, die noch verblieb, war die technologische Registrierung der Bewegungs- und Kontaktprofile seiner unfreiwilligen Träger durch das ›Contact Tracing‹, das in Ostasien mit der Erfassung der Gesundheits- und Personaldaten kombiniert und in den folgenden Monaten weltweit in abgeschwächter Form übernommen wurde. Aber auch diese Methoden führten nicht zum Erfolg. Die entscheidende Barriere, die die blinden Passagiere weltweit eindämmte, beruhte nach wie vor auf den bewährten Prozeduren der Infektionshygiene.

Die Preisgabe der Risikogruppen

Nachdem die medizinische Fachwelt im Frühjahr 2020 bei ihrem ersten Feuerwehreinsatz gescheitert war, musste sie eine neue Verteidigungslinie aufbauen. Es kam jetzt vor allem darauf an, die inzwischen als besonders gefährdet erkannten Bevölkerungsgruppen gezielt zu schützen. Leider unterliefen den Akteuren der Krisenstäbe dabei gravierende Fehler. Seit Ende Januar war der internationalen Fachwelt dank der ersten chinesischen Veröffentlichungen bekannt, dass vor allem Menschen mit schweren Vorerkrankungen und im fortgeschrittenen Alter im Fall ihrer Infektion schwer erkrankten. Ein Teil dieser sozialen Gruppe lebte in geschlossenen Einrichtungen und befand sich überproportional häufig in klinischer Behandlung. Infolgedessen gehörte die Einführung besonderer Schutzmaßnahmen in diesen sensiblen geschlossenen Einrichtungen jetzt zur wichtigsten Agenda.

Es geschah jedoch nichts, um das Fiasko zu verhindern. In den Krankenhäusern dachte aufgrund des Ausmaßes der Einlieferungen niemand daran, die Infizierten von den anderen Schwerkranken abzutrennen, besondere hygienische Vorkehrungen zu treffen und großzügig zu testen.7 Und als dann das Umdenken einsetzte, waren die für die erweiterte Infektionshygiene benötigten Vorräte rasch erschöpft. In allen Epizentren wurden die Kliniken aufgrund ihrer Überlastung zu Drehpunkten der Infektionsausweitung und zu Orten des nosokomialen Sterbens: Zuerst in China, anschließend im Iran, in Europa und zuletzt in den beiden Amerika. Auch die im Krankenhauswesen Beschäftigten waren überproportional stark betroffen.

Selbstverständlich blieb diese Katastrophe nicht unbemerkt. Aber die Antwort der Medien und der zunehmend unter Druck gesetzten Gesundheitspolitiker beschränkte sich auf eine höchst selektive Wahrnehmung der Krisenlage. Sie meinten, ihr mit der einseitigen Ausweitung der Intensivabteilungen und Beatmungsmaschinen Einhalt gebieten zu können.

Noch schlimmer wirkte sich die Missachtung der Alten- und Behindertenpflege aus.8 Hier waren vor allem die gesundheitspolitischen Instanzen in der Transatlantikregion und in den hoch entwickelten Länder Ost- und Südostasiens gefordert, weil hier der Anteil älterer Menschen besonders hoch war. Aber auch hier versagten sie. Es wäre geboten gewesen, schon in der ersten Ausbreitungsphase der Pandemie die Infektionshygiene in den Alten- und Pflegeheimen einzuführen, das überwiegend prekäre und stark fluktuierende Personal massenhaft zu testen und die öffentliche Kontrolle auf den renditeorientierten privaten Pflegesektor auszudehnen. Nichts dergleichen geschah. Ein Umdenken setzte erst ein, als das Massensterben in den Alten- und Pflegeheimen seinen Höhepunkt überschritten hatte. In diesen Institutionen lebt derzeit etwa ein Prozent der Weltbevölkerung. Sein durchschnittlicher Anteil an den Todesopfern, die die Pandemie in der Transatlantikregion forderte, beläuft sich auf etwa 40 %. Er blieb jedoch in den Statistiken lange Zeit ausgeklammert.9 Von Land zu Land schwankte er erheblich, und zwar zwischen etwa 36 % in Deutschland, 39 % in Schweden, 52 % in Belgien und 89 % in Kanada. Selbst das in seiner Kritik sehr zurückhaltende Magazin ›The Economist‹ vermerkte, dass die Regierungen und Krisenstäbe in diesem Bereich der Pandemiebekämpfung auf unverantwortliche Weise versagt haben.10 Es bestehen gute Gründe zu der Annahme, dass bei einer rechtzeitigen Konzentration der Gegenmaßnahmen auf die besonders gefährdete Krankenhausversorgung und die Alten- und Pflegeheime viele Todesfälle hätten vermieden werden können.

Der ›Große Lockdown‹ – eine folgenreiche Panikreaktion?

Die als ›Lockdown‹ bezeichneten Maßnahmenbündel zum behördlichen Einfrieren des privaten, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens wären wahrscheinlich unnötig gewesen, wenn die spontanen Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung unterstützt worden wären, die epidemiologischen Frühwarnsysteme funktioniert hätten und die besonders gefährdeten Gesellschaftsgruppen rechtzeitig vor dem verheerenden Zugriff von SARS-CoV-2 geschützt worden wären. Im Fall China war dies eindeutig: Die politische Führung aktivierte ihre allgemeinen Katastrophenschutzpläne in dem Augenblick, als sie erkannte, dass ihre Taktik des Vertuschens und die Unterdrückung der ersten Schutzmaßnahmen die Auslösung einer weltweiten Pandemie zur Folge hatte. Nun trat sie die Flucht nach vorn an und zog alle Register. Sie kombinierte die Mobilmachung ihrer epidemiologischen, klinischen und digitalen Ressourcen mit radikalen Abschottungsmaßnahmen und Eingriffen in die individuellen Freiheitsrechte. Damit war sie im eigenen Land erfolgreich, nicht aber im globalen Maßstab. Eineinhalb Monate genügten, um die Versäumnisse der ersten sechs Wochen zu kompensieren und Covid-19 im Reich der Mitte unter Kontrolle zu bringen. Die globale Ausbreitung der blinden Passagiere ließ sich jedoch nicht mehr aufhalten, zumal in Norditalien fast zeitgleich ein weiterer Ausbreitungsschwerpunkt entstanden war.

Dieses drastische Vorgehen lud zur Nachahmung ein, wenn auch keineswegs überall und schon gar nicht mit der Präzision einer autokratisch regierenden Kaderpartei, die immerhin auch für die Eingeschlossenen sorgte. Die ost- und südostasiatischen Nachbarländer konzentrierten sich mehrheitlich auf die Aktivierung ihrer technologisch hochgerüsteten Frühwarn- und Isolierungssysteme und stellten die undifferenzierten Lockdown-Pakete in der Regel zurück.11 Einige Krisenstäbe der Transatlantikregion zögerten zunächst. Sie gerieten jedoch angesichts der ab Mitte März 2020 publizierten Worst-Case-Szenarien in die Defensive. Das weitere Geschehen wurde seither von Ländergruppen bestimmt, deren Regierungen das Bildungswesen stilllegten, das öffentliche und kulturelle Leben einfroren, weitreichende Ausgangsbeschränkungen verhängten und die als nicht systemrelevant deklarierten Gewerbebetriebe schlossen. Dieser pauschale Rundumschlag genoss zeitweilig die Weihen eines Allheilmittels. Die Fehler und Versäumnisse der vergangenen Wochen blieben undiskutiert. Niemand stellte in Rechnung, dass erhebliche Teile der Bevölkerung längst eigenständig vorgesorgt hatten. Und kein Krisenstab kam auf die Idee, die Anfangsfehler wettzumachen und dem Infektionsschutz in den Institutionen des Gesundheitswesens oberste Priorität zu geben. In diesen Bereichen versagten aber auch diejenigen Krisenmanager, die – so etwa in Schweden – flexiblere Konzepte verfolgten. Hinzu kamen die ideologisch aufgeladenen Verharmlosungsmanöver von Politikern à la Ajatollah Chamenei, Donald Trump, Jair Bolsonaro oder der lombardischen Regionalregierung. Falsche Frontbildungen entstanden. Die tatsächlichen Probleme einer effizienten und zugleich maßvollen Bekämpfung der Pandemie verschwanden aus der öffentlichen Wahrnehmung. Wer alternative, der tatsächlichen Dynamik der Pandemie angepasste und weniger folgenreiche Wege in die Diskussion brachte, wurde rasch ausgebremst.

Lange ließ sich der ›Große Lockdown‹ freilich nicht durchhalten. Nach eineinhalb bis zwei Monaten folgten im Mai 2020 die unterschiedlichsten ›Lockerungsmaßnahmen‹, um die Folgeschäden zu begrenzen. Dies geschah häufig auch dann, wenn die Zahlen der täglich registrierten Infizierten und Sterbefälle weiter anstiegen. Der pauschale Lockdown wurde durch Maßnahmen ergänzt, die auf das Schutzbedürfnis der Durchschnittsbevölkerung setzten, so etwa die Einführung der Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken. Hinzu kamen die ersten gezielten Präventionsmaßnahmen: die Einrichtung von Spezialkliniken, Richtlinien zum Schutz der Alten- und Pflegeheime und Massentests zur Eingrenzung neu auftretender Infektionsherde. Gleichwohl blieben diese Lernprozesse beschränkt. Die Pandemiebekämpfung blieb weiter Chefsache der Regierungen und ihrer Beraterstäbe. Eine Kurskorrektur fand nicht statt, die Alternativkonzepte ihrer Kritiker aus dem Bereich des Public Health blieben genauso unberücksichtigt wie die Appelle einiger Medizinwissenschaftler, die vor den fatalen Folgen undifferenzierter Bekämpfungsmethoden warnten.12

Der ›Große Lockdown‹ war auch zu keinem Zeitpunkt alternativlos – einschließlich der zahlreichen Abwandlungen, die er im Pandemiejahr durchmachte. Es handelte sich um den Höhepunkt einer Entwicklung, die von Fehlentscheidungen und Panikreaktionen gekennzeichnet war. Am Anfang stand das Versagen der epidemiologischen Frühwarnsysteme. Als sich die Pandemie daraufhin ausbreitete, setzte die Mehrheit der Weltbevölkerung auf Schutzmaßnahmen, die jedoch angesichts der fehlenden öffentlichen Vorkehrungen rasch an ihre Grenzen stießen. An dieser Schnittstelle gerieten die politischen Entscheidungszentren erstmals in Panik, weil sie erkannten, dass sie über keine spezifischen Ressourcen zur Pandemiebekämpfung verfügten und die Bevölkerung nicht unterstützen konnten. Ihre Kopflosigkeit wuchs, sobald sie zusätzlich bemerkten, dass sie sogar die besonders gefährdeten sozialen Gruppen nicht zu schützen vermochten. Statt aus diesen Tatbeständen die Konsequenzen zu ziehen und die gesundheitspolitischen Defizite so schnell wie möglich zu beheben, entschieden sie sich zur Flucht nach vorn und verhängten umfassende Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen.

Bei dieser Flucht nach vorn könnte die Überreaktion der chinesischen Führung eine wichtige Rolle gespielt haben. Parallel dazu präsentierten die Biomathematiker ihre Worst-Case-Szenarien und verstärkten die Panik, zumal auch sie sich mit ihren Handlungsempfehlungen offen oder implizit auf das chinesische Vorbild beriefen. Nur noch die umfassende Einschränkung des privaten, öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens versprach den Akteuren Erfolg. Dabei blieben die dringend gebotenen Präventions- und Schutzkonzepte des Public Health und der medizinischen Wissenschaft zunächst unberücksichtigt. Partielle Korrekturen waren erst zu beobachten, seit die Krisenstäbe mit der zweiten Pandemiewelle konfrontiert waren.

Soweit zur Genesis des ›Großen Lockdowns‹. Eine ganz andere Frage ist, inwieweit er Erfolg hatte und die Dynamik der Pandemie abbremste. Dies soll im nächsten Kapitel untersucht werden.