VORWORT

Am Anfang allen Nachdenkens stehen Zweifel und Verunsicherung. Es beginnt oft mit ganz einfachen Fragen. Zum Beispiel, warum sich der Erfolg eines Unternehmens an seiner Finanzbilanz misst und nicht an der gesellschaftlichen Bedarfsdeckung. Verwechseln wir da nicht das Mittel mit dem Ziel? Auch die Nationen messen ihre Wohlfahrt am Umsatz von Gütern und Dienstleistungen. Nehmen wir das bekannte Beispiel vom abgeholzten Wald: Statt seiner wächst nun das Bruttoinlandsprodukt. Geht es uns davon wirklich besser? Im weltweiten Durchschnitt beanspruchen wir das Ökosystem bereits 1,5-mal so stark wie es seine Regenerationsfähigkeit erlauben würde. Wieso reden wir immer weiter von Wirtschaftswachstum? Und das Land, in dem wir leben, hat astronomische Schulden. Kann das auf Dauer gut gehen?

Wenn wir nun solchermaßen irritiert Rückbindung an unseren Verfassungsgrundsätzen suchen, so mehren sich die Zweifel noch. Wiederum Beispiele: Das deutsche Grundgesetz verpflichtet privates Eigentum dem Wohle der Allgemeinheit und sieht – wo dies nicht gewährleistet ist – dessen Vergesellschaftung vor (Artikel 14 und 15 GG). Gemäß Bayerischer Verfassung stehen Steigerungen des Bodenwertes nicht dem Eigentümer, sondern der Allgemeinheit zu (Artikel 161 BV). Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit muss der Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten dienen (Artikel 151 BV). Die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen Einzelner sowie die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht ist zu verhindern (Artikel 123, 156 BV). Auch nach Hessischer Verfassung darf wirtschaftliche Freiheit nicht zu monopolistischer Machtzusammenballung führen (Artikel 39 HV). Und Artikel 41 (1946 in Hessen per Volksentscheid beschlossen!) sieht für die Schlüsselindustrien eine generelle und sofortige Überführung in Gemeineigentum vor; ebenso sind Großbanken und Versicherungen unter staatliche Verwaltung zu stellen. – Das alles glaubt man ja beinahe kaum: Läuft denn die gesellschaftliche Praxis im Lande so, wie sie ursprünglich gedacht war?

Was wir täglich als „ganz normal“ vorfinden, steht nicht nur in bizarrem Kontrast zu unseren Verfassungszielen. Es hat auch vor den Grundwerten freiheitlich demokratischer Ordnung schwerlich Bestand. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Das sind die Ideale, zu denen wir uns bekennen. Aber wie frei sind die Millionen von prekär Beschäftigten und Arbeitslosen bei der Verwirklichung ihrer Lebensziele? Wie gleich sind wir in Wahrheit, wenn allein das oberste Hundertstel der Deutschen über ein Nettoprivatvermögen von unglaublichen dreitausendfünfhundert Milliarden Euro verfügt, während sich das Vermögen der Hälfte des Volkes zu null saldiert? Ist der Manager mit dem tausendfachen Einkommen des Gärtners wirklich noch dessen Bruder? Und wenn wir den Blick über Deutschland hinaus wenden: Wie gleich, frei und brüderlich sind unsere Beziehungen zu anderen Nationen?

Auch christliche Grundwerte lassen sich bei alledem nicht ausmachen, und so kritisiert Papst Franziskus das System des Kapitalismus in aller Deutlichkeit. Große Massen der Bevölkerung sehen sich ausgeschlossen, ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Und durch diese Ausschließung befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Sein Fazit: Die Probleme der Welt werden sich nicht lösen lassen, ohne die Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in den Blick zu nehmen – und das schließt ein, die strukturellen Ursachen der Fehlfunktionen der Weltwirtschaft zu beseitigen.

Die Befürworter des herrschenden Systems hingegen verweisen auf dessen immense Produktivität, welche Fortschritt und soziale Sicherheit ja erst ermöglicht – wie man an den entwickelten Industrienationen sieht. Folglich könne nur das freie Agieren der Märkte sowie weiteres Wirtschaftswachstum für die weltweite Verbreitung von Wohlstand sorgen. Aber stimmt denn das? Von 1960 bis 1995 hat sich das Bruttoweltprodukt verfünffacht und die Märkte wurden liberalisiert. Doch zur gleichen Zeit stieg das Pro-Kopf-Einkommen des reichsten Fünftels der Weltbevölkerung vom 30-Fachen auf das 82-Fache des ärmsten Fünftels! Und dieser Prozess zunehmender Ungleichverteilung schreitet fort: Nach Credit-Suisse-Daten hat sich mittlerweile ein Zwölftel der Menschheit 82 Prozent des weltweiten Gesamtvermögens angeeignet, während auf zwei Drittel der Weltbevölkerung knappe drei Prozent aller Reichtümer entfallen! Sieht so Wohlstand für alle aus?

Nicht nur extreme Ungleichheit ist der Preis des Systems, sondern eine ausgeplünderte und geschundene Ökosphäre ebenso. Jedes Jahr gehen uns Waldflächen so groß wie Portugal sowie Ackerland so groß wie die Schweiz verloren, und längst verbrauchen wir mehr Grundwasser als sich nachbildet. Im Gegenzug kommen jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Müll hinzu (Tendenz steigend). Geschätzte 100 Millionen Tonnen Plastikabfall schwimmen im Meer. 2012 wurden 1,6 Milliarden Handys verkauft und 40 Millionen Tonnen Elektronikschrott weggeworfen. Der Cadmium-Gehalt der Schokolade steigt, auch der Quecksilber-Gehalt von Fischen – usw. War es das wert? Und das Immer-Mehr der Güter und Dienstleistungen multipliziert sich noch zusätzlich mit dem Immer-Mehr der Menschen; bereits in zehn Jahren werden wir 8 Milliarden sein! Neben religiöser Fehlorientierung verhindern mangelnder Wohlstand und Bildung in den Entwicklungsländern den dringend nötigen Geburtenrückgang. Und hier nun beißt sich die Katze in den Schwanz, denn die Ungleichverteilung grenzt gerade diese Menschen zunehmend aus anstatt sie einzubeziehen. Kann denn das richtig sein?

Zweifel und Verunsicherung – irgendwie stimmt etwas nicht. Wir geraten immer weiter in soziale Schieflage und ökologische Bedrängnisse. Viele von uns sind deshalb lange schon nachdenklich geworden. Doch Zweifel und Verunsicherung sind nur ein Anfang. Jeder Versuch, sich partielle Änderungen am System vorzustellen, endet alsbald in einem Wirrwarr von Folgeproblemen und scheinbarer Unlösbarkeit. Wenn aus bloßer Nachdenklichkeit wirkliches Nachdenken erwachsen soll, ist Faktenwissen sowie das Durchschauen des Zusammenhangs nötig, in den sich all die Fakten einordnen. Dann lässt sich das herrschende System plötzlich von Grund auf verstehen. Warum sich die Krisen zuspitzen. Was es mit den Finanzmärkten auf sich hat. Wie die Folgen aussehen, die uns ganz direkt betreffen (und in einem Ausmaß, das man niemals erwarten würde!). Genau diese Fakten und ihren grundlegenden Zusammenhang möchten die ersten beiden Kapitel des Buches vermitteln.

Was am System müsste sich demnach ändern? Dieser Frage geht das dritte Kapitel nach. Dabei werden konkrete Reformen untersucht – von der deutschen Sozialen Marktwirtschaft bis hin zu aktuellen Bemühungen um Finanzmarktreformen. Auch ökologisch orientierte Reformansätze kommen in den Blick. Es stellt sich heraus, dass (wie auch immer geartete) Reformen den steten Zwang zu Wirtschaftswachstum im kapitalistischen System nicht überwinden können. Und dieser Zwang zu immer weiterem Wirtschaftswachstum lässt sich – gegen alle Effizienzhoffnung – nicht von immer weiterer Umweltbelastung entkoppeln. Es kann demnach im Kapitalismus keine Lösung der Ökokrise geben: Dies ist das ernüchternde Ergebnis des dritten Kapitels. Das kapitalistische System ist den vor uns stehenden Herausforderungen nicht gewachsen, wir werden uns umorientieren müssen.

Erst auf Grundlage dieses so unbehaglichen wie unausweichlichen Befundes skizziert das vierte Kapitel vorsichtig und beispielhaft die Umrisse einer zukunftsfähigen Ökonomie – allen Behauptungen der Alternativlosigkeit zum Trotz. Das geschieht unter strikter Abgrenzung von der Idee gewaltsamer Umsturzversuche oder der Diktatur politischer Apparate. Es geht vielmehr um eine Einladung, das angeblich Undenkbare einfach einmal zu denken und der Utopie gesellschaftlicher Neuorientierung „von unten“ Raum zu geben. Ach, bloß eine Utopie? Ja, eine Utopie! Man kann gesellschaftlichen Prozessen wohl kaum die Fähigkeit zur Entwicklung absprechen, und dabei aber war bisher jede neue Entwicklungsstufe bis zum Vorabend ihres Aufkommens nichts als eben Utopie. Ohne Utopie hat die Gesellschaft keine Orientierung, die über das Bestehende hinauszuführen vermag.

Doch nun der Reihe nach. Wagen wir gemeinsam einen analytischen Blick auf die aktuelle Situation. In dem Maße, wie wir die Gegenwart deutlicher sehen, wird die Zukunft Konturen annehmen.