In der Häuserschlucht

Die Flaggen neben den Propyläen flatterten kräftig.

Zuerst wärmlicher Wind, dann Nieselregen, nun Abend mit treibenden Wolken. Die bayerischen Wetterwechsel waren nicht für jeden leicht zu ertragen. Die Kiesel der Isarstrände schienen gleichsam im Schädel zu rasseln. Womöglich war München nicht noch größer geworden, weil manche sich nach klarer Luft, berechenbaren Jahreszeiten sehnten und wegen Kopfschmerz und Migräne wieder fortzogen.

Es waren nur noch wenige Meter.

Sie passierten eine unansehnliche, geschlossene Toreinfahrt.

Die beiden seitlichen Risalite der Villa lugten herüber.

Hinter den Fensterkreuzen spukte in den Johannisnächten die erdrosselte Schwiegermutter oder wohnte sonst wer. Vielleicht trat der Geist des Nachts auch in den verwilderten Garten hinaus und begoss mit einer Kanne ohne Wasser Kräuter und Sträucher. Ungeahnt. In der Nähe des Königsplatzes und von U-Bahn-Eingängen. Was wusste man? Womöglich versammelte sich der gesamte bayerische Königshof im Morgengrauen und ungesehen zwischen den Tempelbauten, und Damen in Krinoline, Adjutanten in Gala-Uniform, Kammerjungfern, Silberpagen, früh und spät verstorbene Prinzen und Prinzessinnen, gelegentlich Gäste aus der Wiener Hofburg tanzten in akkuraten Reihen eine Polonaise. Auch Sisi, die Münchnerin, mit der verheilten Stichwunde am Herzen? Die Lakaien standen mit Tabletts und leeren Gläsern für den Hofball parat.

Man meinte, es sei Gegenwart, aber vielleicht verhielt es sich ganz anders.

Der Eingang war ein steinernes Tor. Zwei kantige Laternen obenauf. Die Hausnummer existierte gleich zweimal. Auf einem Emailleschild, sodann in Form von zwei eisernen Zweien.

Johannes Brahms war auf das Grundstück geeilt. Richard Wagner nie. Der Hausherr mochte den umtriebigen Sachsen nicht und verabscheute seine Musik, die Klangwogen, die sein Gehör und sein Gemüt begruben, das fantastische Schwirren der Instrumente, den donnernden Ritt der Walküren, das unablässige Zusammenfließen und Auseinanderstreben der Töne – da, plötzlich ein Leitmotiv! alle in Habachtstellung! –, diese Orgie von Himmelsklang und Rumms und die Gurgeln der Sänger, die man vor Kraftaufwand beinahe glühen sah. Zu viel Rumor für jemanden, der im Sinne Goethes und dessen gesunden Menschenverstands den klaren, stillen Umriss des Golfs von Neapel genoss, kontemplierte, anbetete, o schönes Sorrent. Das Ideale musste man verkünden, das Entzückende, Duftige, das Maßvolle. Nach einem Tohuwabohu von Intrigen, vier Opernabende lang, rasenden Göttern in Felljoppen und mit geschwungener Lanze brannte Walhall nieder. Wem war damit gedient? Gewiss, im Kern mochte alles Chaos sein. Doch damit trat man nicht auf die Bühne. Das war wohlfeiler Untergangs-Deutschismus. Hier im Hause verkehrte man international und empfand auch so. Das mochte blässlicher wirken als Germaniens lodernde Götterburg – natürlich auch hinreißend in Musik gesetzt –, doch der Künstler musste aus dem Tragischen, aus dem Abgrund wieder dem Segensreichen zustreben. Deutschland, Europa, eine zivile Welt – wenn das kein heldenhaftes Ziel war? Brahms war auch Klassiker, die Wagnerianer hassten ihn, – und Brahms selbst hätte gerne Walzer komponiert, das leichte, beseligende Drehen und Wenden auf dem Parkett. In dieser Hinsicht verzagte der Symphoniker am Genie von Strauß.

Komm herein, Johannes.

Und wie geht’s, Paul?

Endlich Ruhe, die Gören sind zu Bett.

Ich kenne niemanden, der so hingebungsvoll mit seinen Kindern spielt wie du.

Je nun, wenn ich mit Franz und Clara über den Boden krabbele, fühle ich mich selbst wieder jung.

Und keine dichtenden Krokodile in Sicht?

Poetenrunde ist dienstags. Wird lästig. Gereime, Witzeleien, eine Menge Neid untereinander. Auch die Zeitungen drucken nicht jeden. Der junge König ist fast nur noch in den Bergen und verbaut Unsummen. Kein Leser.

Und, eine Idee für eine Oper, Paul? Aber bitte keine weitere Undine, Melusine oder eine andere Wassermaid, die an den Menschen verzweifelt. Das Sujet ist durch.

Leg erst mal ab, Johannes. Hast noch Schnee auf dem Hut.

Ich kann alles, du weißt, Lieder, Chöre, Ouvertüren. Aber eine Oper? Die braucht ein besonderes Feuer. Es gibt schon so viele.

Wie Verse in der Dichtung. Wir stehen immer am Ende der Traditionen. Ich les dir mal was vor.

Gern bei einem Sherry, Paul.

Hab was Feines, via Bremen direkt aus Jerez.

Mehrere Namen auf dem Klingelschild.

Silberstein setzte ihre Brille auf und beugte sich vor: Etwas Unleserliches … Seishuber, Bartholomäe, Kontor.

«Bei wem hat der Idiot uns angemeldet?»

Die Erlanger rätselten, wer gemeint sein konnte.

«Ist doch egal, wenn keiner da ist», erklärte Therese Flößer.

«Das war’s dann wohl», sagte Vandervelt und rieb sich in ihrer dünnen Lederjacke die Arme warm.

Die Stadträtin klingelte. Zuerst bei Seishuber, auch beim Kontor. Mit der flachen Hand drückte sie alle Tasten. Es schien, als würde es hinter der massiven Metallpforte, auf dem Grundstück, im Gebäude auf einmal sogar noch stiller werden.

«Unheimlich.»

«Das ist das Knarren der Äste.»

«Sie waren nie hier?», wurde Bradford gefragt.

«Ich kenne ihn aus Büchern. Das Haus war vergessen. Ich habe daran kaum gedacht. Wie … kein Organist beim Spielen an die Stube von Johann Sebastian Bach denkt.»

Der Professor trat einen Schritt zurück. Er schaute die Mauer entlang, fixierte das Tor, sein Blick glitt über die Scheiben. Das graue Haar des Halbamerikaners schimmerte nun silbern. Er wirkte bewegt. Feuchte Augen, eine Träne? «Hier bin ich. Dort war er. Seit wie vielen Jahren sind wir verbunden? Das Werk eines Verschollenen. Ausgestoßenen. Mein halbes Leben. In Erlangen trug ich über ihn vor. In Ottawa, in Cambridge sprach ich über ihn. Mein Aufsatz Dichter ohne Publikum wurde gerade ins Französische übersetzt. Heyse, du weißt es.»

«Ich weiß es, ich musste die Novellen einscannen», sagte Deng.

«Gib her», reagierte sein Mann, «bitte.»

Plötzlich kam es der Berchtesgadenerin in den Sinn, dass beider gemeinsame Kinder Zabaione-Farbe haben müssten, durchaus attraktiv, aber so weit war die Medizin noch nicht. Deng Long zog einen Laptop aus seiner Umhängetasche und reichte ihn dem Gefährten. Der schaltete an. Schnell floss blaues Licht über sein Gesicht. Silberstein spähte von der Seite auf das Display. War man nicht bereits vertrauter miteinander? Sie gewahrte perfekte Ordnung:

P. H. Lyrik

P. H. Novellen

P. H. Frauenbefreiung

P. H. Romane

P. H. Italien. Gardasee. Haus

P. H. Tierschutz

P. H. Hass!

P. H. Geistesblitze

und mehr.

Harald Bradford scrollte, öffnete eine Datei.

Schaute abermals zur Villa hin. Las.

«O Rom, der Städte Königin,

Wie schwebt auf deinen Hügeln jetzt

Mit Flügeln, die der Südwind netzt,

Melancholie so bang dahin!

Durch deine stillen Gassen weht

Die Asche toter Majestät.»

«Das passt», gestand Herr Deng zu, «hierher. Die Dichtung über Raffael. Ob nun Rom oder Villa.»

«Wo war die weltgepriesne Tat,

Die deine Schwelle nicht betrat,

Und wo ein Gräul so gottverflucht,

Der nicht Asyl bei dir gesucht.»

Die Frauen, Deng sahen die steinerne Schwelle.

«Die herrschgewalt’gen Geister all

Sahst du an deinem Throne knien;

Sie wussten: Wem du Macht verliehen,

Dess Nam’ umflog den Erdenball.

Heut eine Greisin tiefgebeugt,

Kahlhäuptig mit verdorrter Kraft,

Die nie mehr ein Lebend’ges gesäugt,

Verstummt, versteint für Leid und Lust

Von Kummerspur gefurcht die Wangen,

Drin längstvergessne Tränen hangen –

Die öden Gräber hütest du

In schlaflos reueloser Ruh.

Es trägt das Band um deine Scheitel

Das Königssprichwort: Alles eitel!

Dein Stab, der einer Welt gedräut,

Zur morschen Krücke ward er heut

Und gräbt nur Zeichen ohne Sinn

In Staub und Moder vor sich hin.

Wem jetzt dein Hauch die Seele streift,

Der wird ernüchtert und gereift.»

Eine Mutter mit ihrem Kind an der Hand blieb neben dem gerührt Vortragenden und beinahe inmitten der Gruppe stehen. «Das ist ein Gedicht, Lena. Horch mal. Das reimt sich alles und ist schön. Ganz seltene Wörter. Die funkeln.» Bradford, aber auch Antonia Silberstein kämpften nun fast mit den Tränen.

«Doch manchmal, wenn zur Frühlingsnacht

Im Strom sich kühlt der Sterne Pracht,

Wenn rings des Nachttau’s weiche Wellen

Der Greisin hagren Leib umschwellen

Wacht in den Augen, einst so kühn,

Noch auf ein mattes Freudenglühn.

Bekränzt mit Veilchen immerjung

Lehnt neben ihr Erinnerung

Und singt und sagt dem stumpfen Ohr

Ein Lied verschollner Tage vor.»

«Ist das Lied schon aus?», fragte das Mädchen.

Bradford streichelte ihm über den Kopf, obwohl man so etwas nicht tun durfte.

«Nein», sagte die Stadtbaurätin, «denn es ist Frühlingsnacht. Wir werden wieder singen.»

Die Mutter musste das Kind von den fünfen fortziehen.

«Ich», Ortrud Vandervelt räusperte sich höchst dezent, «ich will natürlich keine Spielverderberin sein. Aber es holpert ein bisschen in diesen eindrucksvollen Versen … knien und verliehen … man sagt nicht kni-en. Ein Hauch unsauberer Reim.»

«Exzellentes Gespür», bestätigte Bradford, «eben selbst Schriftstellerin. – Doch Heyse fügt natürlich absichtlich und unter der Hand Rhythmusirritationen und Reimverschiebungen ein. Damit Monotonie vermieden wird, das Ohr nicht schlummert. Sonst hätte er verlieh’n geschrieben. Sie haben diese Kunst perfekt bemerkt.»

«Ganz sicher? Kein Versehen?», fragte Flößer.