Das Gewitter

Viel wohl hab’ ich, ach, allzu viel

Meines Innern der Welt gegeben.

Immer fühlt’ ich mein Saitenspiel

Mit dem Herzen zugleich erbeben.

Hätt’ ich’s klüger doch überlegt,

Leid und Freude für mich behalten!

Wer sein Herz in den Händen trägt,

Dient zum Spotte der Welt, der kalten.

Um die Grate des Monte Baldo schwebten Wolkentupfer.

Der Frühdunst über den Inseln löste sich auf.

Morgenfrisch und kaum mehr verschleiert begann die Weite des Wassers bläulich und smaragdgrün zu schimmern. Fast meinte man, die Glockentürme und blass das Rot der Schindeldächer von San Felice del Bonaco und von Salò zu erkennen. Scheinbar lautlos näherte sich das Postschiff von Norden, der Rauch zerfloss achtern, die Schaufelräder hinterließen zwei helle Schaumspuren. Habsburgs Doppeladler auf kaisergelbem Schlotband war noch ein undeutliches Gespinst. Am Ufer versammelten sich die Gepäckträger, zweirädrige Karren für Reisetaschen und Schrankkoffer standen bereit, Personal des Grand Hotels Fasano und des Savoy Palace harrte livriert auf angemeldete Gäste. Der König von Sachsen war nach einwöchigem Aufenthalt mit seiner Begleitung wieder abgereist. Dieser Tage aber sollten aus Wien oder Meran die Erzherzogin Maria Josepha mit ihrem Sohn Karl – nach Erzherzog Franz Ferdinand der zweite und noch blutjunge Thronanwärter Österreich-Ungarns – eintreffen. Zum Kuren? Oder zu einer Behandlung in der gerühmten Zahnklinik des Doktor Rohden? Das neue Casino würden eine Habsburgerin und der mögliche Erbe des Vielvölkerstaats kaum aufsuchen. Reisepässe benötigten sie wahrscheinlich nicht, wenn die kaiserlichen Hoheiten vom österreichischen Nordufer des Sees, von Reiff aus – das die Italiener Riva nannten –, die Schiffstour in den Nordzipfel des Königreichs Italien unternahmen. Und sie träfen wahrscheinlich auch nicht mit dem Postdampfer ein. Wie wunderbar übrigens, Österreicher zu sein, Bürger des K.-u.-k.-Reichs, von Lemberg in Galizien bis nach Südtirol, von Nordböhmen bis Sarajewo konnte man sich ungehindert fortbewegen, Mitbürger mit anderen Sprachen und Kulturen treffen. Österreich-Ungarn, ein Kontinent innerhalb des Kontinents und trotz der oft nur nachgeplapperten Meinung, ein altmodisches und unregierbares Staatsgebilde zu sein, natürlich unendlich viel moderner und effizienter als Russland, Spanien, als sämtliche Balkanländer und der südliche Nachbar Italien. In Österreich-Ungarn funktionierten Telefone. Woanders wurden Leitungen erst geplant. Leider und wohl zu aller Schaden vertrugen sich die Nationen der Kronländer des alten Kaisers in Schönbrunn immer weniger, wollten unabhängig und separat und offenbar auch beengter sein. Die Krise musste bewältigt werden.

Auf der Uferstraße fuhren Einspänner.

Ein Automobil verließ die Zufahrt der Villa Norsa.

Fischernetze trockneten am See. Die Boote lagen vertäut und schwankten kaum.

Ein Eselskarren rumpelte über das Pflaster. Der Bursche hockte auf den Melonen, die er transportierte.

Vor fünfzig Jahren war Gardone Riviera, wovon die Leute gelegentlich erzählten, noch ein Nest mit ein paar Handwerkern, Fischern und Pächtern gewesen, mit Kindern, die an die Spinnereien der Umgebung vermietet wurden. Arm, ohne Gassenbeleuchtung und im Winter oft mühsam erreichbar. Doch die uralte Ansiedlung lag im Paradies, am Gestade eines der schönsten Seen, umfasst von Bergen, an denen sich das Auge nicht sattsehen konnte. Früchte und Blumen schienen ab dem Frühjahr die Hänge zu überschwemmen. Um 1870 verliebte sich der Ingenieur Luigi Wimmer in den Ort und krempelte ihn mit den Einheimischen, die er für sich gewann, um. Eine Wasserleitung wurde verlegt, gegen das Sterben an Cholera und Typhus eine Hygiene-Verordnung erlassen, der Schiffsanleger gebaut, erste Gäste trafen ein. Wimmer wurde Bürgermeister und Hotelier. Der Baedeker machte den schon mediterranen Zauber Gardones international bekannt. Der Kurverein erhob die Kurtaxe und tagte im Kurcafé Kurgarten. Grand Hotel folgte auf Grand Hotel, und ein Zuzügler zog den nächsten nach sich. Oftmals aus Deutschland. Der Kunstsammler Günther erwarb die Liegenschaften des Conte Arrighi und brachte in der neuen Villa seine Skulpturen unter, für Notfälle stiftete der Industrietechniker Buschmann die Station zur Pflege bei plötzlichen Krankheitsfällen, der Journalist Piltz gründete das Regionalblatt Der Bote vom Gardasee, größten Effekt aber machte die Familie Langensiepen aus Magdeburg. Der Gießereibesitzer bewaffnete Teile der Zarenarmee und ließ sich nicht nur einen Palazzo errichten, sondern gleich noch einen eleganten Turm im Hafenwasser dazu, der zum Wahrzeichen wurde. In Gardone erging man sich auf der Promenade, speiste in Dorfner’s Restaurant, suchte die Internationale Apotheke auf, und nur selten berichtete der Bote von einem Duell oder einem Selbstmörder, der im Wasser vor dem Casino gefunden worden war.

Trotz aller Reize und Opulenz hatte der Dichter Rainer Maria Rilke den Aufenthalt im nicht weit entfernten Arco bevorzugt.

Friedrich Nietzsche und die Brüder Heinrich und Thomas Mann waren in Riva abgestiegen.

Der Garten der Villa Annina war ein Naturwunder, wie alles rundum. Zypressen, Pinien und Agaven säumten den Rasen und die Gehpfade. Die Zitronenbäume blühten und vermischten ihren Duft mit dem von Rosen und Jasmin. Wilder Goldregen floss die Fassade herab, wo unten in Tonkübeln Oleander seine weiße und rote Pracht entfaltete. Das Haus selbst schien geräumig zu sein, besaß Terrasse und Balkone, doch wirkte es durch einen Erker und einen schmalen Giebel, das Spitzdach, eher deutsch als italienisch.

Der alte Herr im Sommeranzug saß neben einem Tisch im Korbstuhl. Er begutachtete seine Zeichnung. Am liebsten und immer wieder skizzierte er die Olivenbäume. Es glich einer Meditation, die Konturen des wilden Wurzelwerks, Licht und Schatten auf den knorrigen Stämmen, den Ausdruck der Äste wahrzunehmen, wie von verschlungenen Armen, und aufs Papier zu bringen. Er legte den Block beiseite. Auch Landschaften und Menschen konnte er, ja, recht meisterhaft, festhalten, aquarellieren. Aber nicht hier, im Garten. Eigentlich war er Langschläfer. Doch das Frühjahrslicht lockte unwiderstehlich aus dem Bett und eine geradezu manische Neugier, die Farbe, die Weite, das Spiel des Sees zu betrachten, den Umriss des Felsmassivs vom Monte Baldo, der in wechselndem Grau und Widerschein über Wasser und Land herrschte.

Durch die Stämme der Pinien hindurch erkannte man erste Sportsegler. Eine einmalige Friedenszeit, welche die Menschen genossen, Fortschritt in allen Bereichen, immer schnellere Eisenbahnen, elektrisches Licht, biochemische Arzneien, der energische Kampf, nicht nur von couragierten Engländerinnen, für das Wahlrecht der Frauen, Kongresse zur Völkerverständigung, das mittlerweile internationale Rote Kreuz, Hochzeiten zwischen den Herrscherfamilien. Hoffentlich würden die Menschen im langen, regen Frieden nicht vergessen, was Krieg bedeutet. Der letzte große, gegen Frankreich, lag über vierzig Jahre zurück.

«Paul!», rief aus dem Haus eine Frauenstimme. «Wird Kröner zum Mittagessen bleiben?»

«Das weiß ich nicht.» Er sprach zwar über die Schulter nach hinten, aber so leise, dass ihn womöglich niemand verstand. «Kröner telegrafierte, dass er nach Mailand einen Abstecher mache, ein paar Tage bleibe und mich natürlich sehen wolle.»

«Was?», rief die Frau nun von der Terrasse.

«Kröner kommt die paar Schritte vom Savoy zu Fuß», rief er jetzt nach hinten, «und vielleicht lädt er uns zum Mittagessen ein.»

«Was soll ich der Köchin sagen?»

«Ein paar Ravioli mehr und Salat wird sie immer machen können.»

«Ravioli. Für Adolf von Kröner.»

«Genauso frisch geadelt wie ich, für besondere Verdienste am Volk und für die Kultur.»

Die Frau kam mit einem Teller in der Hand. Sie trug ein blassblaues Hauskleid mit weiten Ärmeln und einem Atlasband ums Dekolleté, auch ohne Korsett war die Hüfte schmal, der Saum ließ sommerlich die Knöchel frei. «Ein paar Oliven und Käse für zwischendurch», sagte sie. «Ja, soll er uns einladen. Er hat bestens an dir verdient.»

«Hat?» Paul Heyse blickte von unten seiner Frau ins Gesicht.

«Du willst mich missverstehen», reagierte sie. «Schreib den Roman fertig, und frischer Rubel wird rollen.»

Er nahm den Strohhut von einem Blätterstapel neben dem Zeichenblock und setzte ihn auf. Nach beinahe vierzig Jahren der Ehe, seiner zweiten nach dem Tod Margarethes, die ohne grundlegenden Streit, Trennungsabsichten verlaufen war – auch ein Wunder –, harmonierten der Mittsiebziger und die sechzigjährige Anna oft auch ohne Worte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, er umfasste ihre Finger. Beide sogen den Morgenzauber ein. Sie wussten, dass sie durch Fügungen, durch ihre Lebensläufe bevorzugt waren, um über den Gestaden des Gardasees die Winter- und Frühjahrsmonate verbringen zu können. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters erinnerte Anna noch sehr an das Porträt, das Franz von Lenbach von ihr gemalt hatte: der klare Blick über die Schulter dem Betrachter zugewandt, ebenmäßige Züge und eine Haarpracht, die sich über das Musselinkleid ergoß. Meisterwerke, die Dargestellte und ihr Bild. Nunmehr hätte Anna Heyse die attraktive Tante von Effi Briest sein können. Und sie konnte im Gemahl auch immer noch den hochgewachsenen, fast schlaksigen Mann mit dunkler Lockenmähne erkennen, in den sich nicht wenige ihrer Freundinnen und Besucherinnen verguckt hatten. Ob es nicht vielleicht doch zu Rendezvous in Schwabing gekommen war, wollte sie gar nicht wissen. Ihr eigenes Verhältnis mit einem Schreiner aus Nymphenburg hatte kaum ein Jahr gewährt, bis er nach Panama ausgewandert war. Tempi passati und doch nicht, die Phasen ihrer beider Leben überblendeten sich. Und sie waren als Paar, glückhaft, noch wach, taten ihre Arbeit, genossen das Dasein, interessierten sich für den Lauf der Welt, waren offenherzig auch als Gastgeber, wünschten das Gute. Sie nahm die Zeichnung von den Baumstämmen wahr, daneben den Blätterstapel mit seiner Handschrift und seinen Korrekturen. Ehedem hatte er weniger korrigiert, waren die Zeilen leichter geflossen.

«Hast du wieder in Buddenbrooks gelesen?», fragte sie vorsichtig, «das tut dir nicht gut. Das ist eine Familiengeschichte. So etwas planst du gar nicht.»

«Ach was, Thomas Mann», sagte er verhältnismäßig ruhig, «dekadent. Einer stirbt nach dem anderen. Das weiß man ohnehin, das muss man nicht so detailliert mitteilen. Diese Hingabe an den Pessimismus ist mir zuwider.»

«Aber sehr in Mode.»

«Dieser Autor hat keinen Tropfen Leidenschaft in seinen Adern. Alles hanseatisches Gespreize und ein Stil! Man fängt einen Satz an und weiß nicht, wo er aufhört, so viele Nebenregungen und Nebengedanken sind darin eingepfercht. Dieser junge Mann reißt eine ganze Generation in den Abgrund des Trübsinns. Aus Lebensunwillen. Außerdem hat er mich nie um ein Gespräch gebeten. Ungezogen.»

«Ich wollte dich nicht aufregen, Paul. Und was ist ein Dichterling – er wird nie vertont werden – gegen das Füllhorn deiner Fantasie? Du hast Hunderte von Liebesgeschichten geschrieben, und auch mit manchem leidenschaftlichen Mord die Leser in Atem gehalten. Und wie dein junger Ritter … wie heißt er noch?»

«Attilio Buonfigli.»

«Die Novelle bleibt mir fast die liebste.»

«Das ist schön, ich danke dir.»

«Das ist Italien. Das ist Kraft. Du schreibst Gemälde, wie Rubens sie malte.»

Der Sechsundsiebzigjährige war’s zufrieden. Er rieb sich mit den Handrücken die Augen, ächzte ein wenig.

«Du solltest die Brille aufsetzen. Sie ist keine Tischdekoration, Paul.»

«Ich weiß, aber noch geht’s ja halbwegs.»

Ihr noch immer dunkles Haar war leicht hochgesteckt, ein Kranz von Locken war auch in die Stirn frisiert. Sie nahm den Sonnenschirm, der über Nacht auf der Gartenbank liegen geblieben war, und spannte die Seide über sich und ihrem Mann auf.

«Der andere … Es geht mir nur um deine Augen, Paul …»

«Welcher andere?»

«Nun, der andere, der so viel von sich reden macht, hat eine Sekretärin, der er alles diktiert. Das schont die eigenen Augen.»

«Welche Sekretärin?»

«Also», sie ließ sich auf der Bankkante nieder, «dieser Gerhart Hauptmann diktiert seine Werke, wie man hört. Auch so kommen viele Dramen zustande, und es ist gesund. Er geht auf und ab, deklamiert wie ein Schauspieler, und sie schreibt mit.»

«Der Tag begann ruhig und schön, Anna!», er fixierte sie, «und jetzt kommst du mir mit einer Sekretärin und einem Schmutzfink. Was dieser Herr aus Schlesien diktiert, ist abscheulich und nichtig.»

«Ich meine ja nur. Wegen der Augen.»

«Schmuddelkram, Annina. Die Hälfte seines Bühnenpersonals säuft, die übrigen brabbeln unverständlichen Dialekt, alles findet in Küchen, Kellern und auf dem Dachboden statt. Es kann gar nicht ruppig genug sein, was er seiner Sekretärin diktiert. Und das Ganze schimpft sich Naturalismus, allein seine Titel – Die Weber, Bahnwärter Thiel, fehlen nur noch Die Ratten. Er meint, dem Volk aufs Maul zu schauen, ich lege dem Volk die Worte in den Mund, die es lernen sollte. Denn das ist Idealismus. Das Schöne muss triumphieren, Ideal und Harmonie, und nicht die Vertiefung ins Hässliche, egal, ob mit oder ohne Sekretärin.»

«Paul, wenn ich gewusst hätte.»

«Hättest du wissen können, mein Schatz. Jetzt werde ich erst recht ohne Brille schreiben. Ein Schöpfer schenkte mir viel Jugend. Und dich. Und die Kinder, die überlebt haben. Und die, die in meinem Herzen bewahrt bleiben. Ich bin das neunzehnte Jahrhundert.» Er schlug mit der Hand nur leicht auf den Tisch. «Ich habe schon für die Rechte von Schriftstellern gekämpft, als Herr Mann noch seine Schulkameraden anhimmelte und Herr Hauptmann, seltsame Namensverwandtschaft, noch nicht einmal geboren war. Das Ringen um ein Ideal, um Harmonie, Verständnis und ein wechselseitiges Geltenlassen. Um Moral und Edelmut.»

«Jetzt bilde ich mir ein», Anna Heyse drückte sanft das Knie ihres Mannes, «dass ich dich für heute ein wenig in Schwung gebracht habe. Unabsichtlich.»

Er blickte skeptisch, bot ihr eine Olive an – sie winkte ab – und griff selbst eine.

Die Bläue wurde berauschend. Die Wärme gab den Zikaden ihren Einsatz. Einige Zitronen würde man noch ernten und sie mit in den Norden nehmen. Auch der Vorrat an Olivenöl war noch aufzustocken, in München war es nicht immer zu bekommen und auch als Gastgeschenk ein Trumpf: «Ah, euer Öl aus dem Süden.» «Direkt aus der Presse.» «Was genau bereitet man damit zu?» – «Salat.» Manche Freunde umschmeichelten sie, um eine Einladung an den See zu bekommen oder das Haus sogar im Sommer zu bewohnen. Doch in der Villa Annina sollte während der eigenen Aufenthalte Ruhe herrschen. Vor sieben Jahren, 1899, hatten sie das Anwesen unweit der Uferpromenade erworben. Dem Sohn Franz, der unvermittelt angereist war, dem haltlosen Trinker, hatten der Bardolino und die exquisiten italienischen Liköre nicht gut getan; er war aus seinem verschwitzten Bettzeug gerutscht und in die Osterien getorkelt. Ein Fall für ein Elendsdrama von Gerhart Hauptmann. Sie hatten für das Sorgenkind telegrafisch abermals eine Kur in einem speziellen Sanatorium organisiert, damals in Braunau im oberen Österreich. Sohn und Tochter des Magdeburger Erzgießers Langensiepen tranken auch, die Mutter war tablettensüchtig, sie konnten einem leidtun, auch der Vater und Industrielle; – aber was ging es einen an? Ihr Hausarzt Dr. Grassi hatte zu tun und kam auf seine Kosten. In ihrem Palazzo ein paar Hundert Meter entfernt verliefen sich die Schicksale, und bei Ortsfestivitäten, der Venezianischen Nacht, dem Fischerfest mit illuminierten Booten und Kapelle am Landungssteg spazierten die Langensiepens, Mehrfachmillionäre in Goldmark, Arm in Arm und in feinster Pariser Garderobe recht fidel und verschworen vorbei. Künstlerisch und mäzenatisch leisteten sie leider nichts. So würde ein Nachruhm ausbleiben, bis auf den Campanile am Ufer, den die Magdeburger der Gemeinde gestiftet hatten. Der grüßte allerdings bis weit über die Fluten. – Alles, jeder Schritt hier, jede Hysterie, jeder Liebeskummer, jeder Verlust unter Kristalllüstern und Orangenblüten konnte kaum geltend gemacht werden im Vergleich zum Darben von Hunderttausenden, eher Millionen, in den Hinterhöfen des Nordens, in den Arbeiterbaracken Turins, zum greifbaren Leid der Welt.

«Zio Paul!» Bei den Kapernbäumen zur Pforte hin raschelte es. Im hellen Kleidchen mit einer großen Schleife erschien der Morgenbesuch und trippelte zwischen Rosen und den Kräuterbeeten heran. Carlotta, die sechsjährige Tochter des Dottore Taddeo Grassi und seiner Frau Bianca. Dem Mädchen folgte schnüffelnd Martino, der altersschwache Schnauzer der einheimischen Arztfamilie.

«Kleiner Spaziergang, ihr beiden … Andate di nuovo in giro», fragte der Dichter, «voi due?»

Carlotta erreichte den Sitzplatz auf dem Rasen vor Martino. Das Mädchen reichte brav die Hand, dann beugte sich Heyse herab, um Martino kurz im Nacken zu kraulen. Carlotta schielte nach dem Teller, ohne Begeisterung.

«Vorrei un pezzetto di ciambella?», fragte Anna Heyse.

Das Nachbarskind nickte. «Hortensias Kuchen müsste fertig sein … Ma prima di pranzo non troppo.»

Carlotta stimmte zu.

«Allora venite, su», Anna Heyse stand auf. «Vediamo se la ciambella all’uvetta che ha preparata Hortensia è già pronta … Vorm Mittag aber nur ein Stück.»

Hinter der Hausherrin unter dem Sonnenschirm erklommen Carlotta und Martino die Stufen zur Terrasse und verschwanden Richtung Küche im Haus.

Paul Heyse lehnte sich zurück.

Dachte nichts.

Fand das wunderschön.

Und dachte dann leider daran, dass er nichts dachte. So geschah das nun einmal immer. Nach dem Gespräch mit Anna versuchte er, sich jetzt deutlicher daran zu erinnern, dass er vor gut einem halben Jahrhundert, im Revolutionsjahr 1848, als gegen die absurde Allgewalt des Königs gekämpft worden war, Schubkarren voller Steine zu den Barrikaden in Berlin geschoben hatte. Gut so. Eine richtige Tat für die Zukunft und für die Menschenwürde. Ins Feuergefecht gegen die Bataillone des Herrschers hatte er sich nicht gewagt. War stattdessen zu den Studien der Gesänge von Troubadouren zurückgekehrt, hatte in Rom Licht und ungezwungene Lebensart entdeckt, war an den Hof Maximilians von Bayern berufen worden, um den Monarchen und sein Land mit schöngeistigen Neuigkeiten zu versorgen. Ein großzügiger König, mit seinem fortwährenden, bedauernswerten Kopfweh … die tausend Gulden im Jahr lebenslang.

Nichts sollte dir den freien Blick beschränken

Denn wer die Wahrheit sucht, ist ihrer wert;

Heraufzuführen ihren lichten Morgen,

Die Blüte war’s all deiner Fürstensorgen.

Völlig vorbei. 1850. Doch Erinnerung. Der Wissbegierige ruhte im Sarkophag in einer Fürstengruft. Aber Geschichte bleibt der Humus für alles. Ohne Geschichte gibt es kein Wissen, um nichts, auch nicht über sich selbst. Wer ist man? Der, der man wurde. Aus dem allgemeinen Gemenge, den Brüchen, dem Kummer und Glück der Zeiten, ihren Erfahrungen, dem Erbe. Alsdann das Zerwürfnis mit dem Märchenkönig und Weltflüchtling, auch schon lange ertrunken oder ertränkt, tot im Starnberger See. Der strahlend schöne Wittelsbacher hatte es ihm nicht verziehen, dass er, der letzte Hofpoet, sich zu Kanzler Bismarck und zur Reichseinigung bekannt hatte, für einen großen staatlichen Fortschritt und gegen die Kleinstaaten. Bismarcks Werk lag nun in den Händen eines zackigen Idioten, Willem Zwo … mochten dessen Großmannssucht und der Kadavergehorsam, den er verlangte, kein Unheil heraufbeschwören. So viele lechzten in halbwegs ruhigen Zeiten, in denen alles verbessert werden konnte, nach Schicksalsschlägen, wie um sich selbst nicht mehr spüren, nicht mehr denken zu müssen, gehorchen zu dürfen. Diese Narren, massenhaft. Sich in Kolonien austoben, Schätze raffen, anstatt nach einem Tagwerk den Abendhimmel zu genießen, die Nachbarn zu einer freundlichen Runde einzuladen, für das Leben zu danken und demütig dessen Geschenke zu genießen, den Schwachen aufzuhelfen, Mensch mit Menschen zu sein. Legte solche Gedanken jemand dem Kaiser nahe, dem neuen, nicht dem stillen, alten, ziemlich zivilen in Wien?

Die Tupfer um den Monte Baldo hatten sich kräftig vermehrt und schlossen sich nach und nach zur Wolkendecke. Von Osten her, von Venetien, schob sich schiefergraues Gewölk vor. Die Massierung verhieß für den Ortskundigen und vielleicht schon für den Nachmittag nichts Heiteres. Venedig schickte die Gewitter.

«Jemand da?» Ein Mann schaute sich an der Gartenpforte um. Auch ohne Antwort öffnete er sie und betrat das Grundstück. Sein Blick erfasste die Villa Annina, die Blumenstauden in Töpfen und Amphoren, den Baumbestand auf dem zum See hin abschüssigen Terrain. Er schwang den dünnen Gehstock und ließ den Eindruck auf sich wirken. Der Herr war nicht groß, eher untersetzt. Er mochte die Sechzig überschritten haben. Seine Kleidung hätte für einen hochalpinen Kurort besser gepasst als für den mondänen Platz am See. Zur leinernen Trachtenjacke trug er Knickerbocker aus Cord und dunkle Straßenschuhe. Dem Sohn eines württembergischen Armeeverwalters mochten äußerliche Gepflogenheiten nicht geläufig sein, oder sie waren für ihn gleichgültig. Adolf von Kröner, seit zwei Jahren in den persönlichen Adelsstand erhoben, war auch mit gestreiften Strümpfen unter dem Kniebund eine beeindruckende Persönlichkeit, ein Schwergewicht des kulturellen Lebens. Der Mann, der sich den Rohrstock über den Arme hängte und an einer Rose schnupperte, hatte ursprünglich Opernsänger werden wollen. In Paris hatte er sich bei besten Pädagogen den Anforderungen des Belcanto hingegeben, bis ihm das Geld ausgegangen war. Das Schauspielstudium in Weimar erwies sich als erschwinglicher, doch das Deklamieren allbekannter Verse von Schiller, der heroische Griff an den Degenknauf hatten den jungen Mann nicht erfüllt. Auch aus Geldnot hatte Adolf Kröner in München eine Buchhändlerlehre begonnen. Er war in den Literatenkreis der Krokodile geraten, und Begeisterung für neue Dichtung hatte ihn erfasst. Dafür wollte er wirken und ihr eine Bühne verschaffen, bei der er selbst der Direktor wäre. In jeder Hinsicht sehr gewagt und enthusiastisch. Nach einigen Anläufen gründete er in Stuttgart die A. Kröner Verlagsanstalt. Der risikofreudige Unternehmer besaß ein gutes Händchen, was die Auswahl seiner Bücher, deren Druck und Erscheinungsbild betraf. Das schöngeistige Publikum kaufte, und von nun an gab es kein Halten mehr. Er erwarb die Schwäbische Volkszeitung für den steten Geldfluss. In einem günstigen Moment kam Die Gartenlaube, das in alle Richtungen informative, illustrierte Magazin des deutschsprachigen Raums, in seinen Besitz. Die vielfältigen Berichte von Kriegsschauplätzen, aus Armenvierteln Hamburgs oder Bombays, von Fürstenhochzeiten, die Fortsetzungsromane der Eugenie Marlitt, Gedichte und Novellen von Eduard Mörike, Theodor Storm, Friedrich Spielhagen und natürlich Paul Heyse redigierte er selbst, falls es etwas daran zu korrigieren gab. 1889 kam es zum endgültigen, verlegerischen Durchbruch, der allerdings nicht über Nacht geschah, sondern immer wieder alle Kräfte brauchte. Der Mann, der durchs Gartentor der Villa in Gardone Riviera getreten war, hatte einen der ältesten und größten Verlage Deutschlands übernommen, die J. G. Cotta’sche Buchhandlung. Literatur, und damit der Geist der Zeit, die Rechtfertigung einer Gesellschaft, gingen nun endgültig nicht mehr an ihm vorbei. Er, Kröner, konnte Meinungen fördern, bestimmen, geistige Glanzlichter über das Land streuen und war eine kleinere, ätherische, aber wirksame Regierung neben den Regierungen. Und der kulturelle Wert einer Nation blieb wahrscheinlich entscheidender als ein weiterer Ministerwechsel von Kaisers Gnaden. Vierzig Bände mit Goethes Werken glichen einer kulturellen Verfassung. Otto von Bismarcks Memoiren waren auch ein sprachliches Feuerwerk. Mit der Bibliothek der Weltliteratur konnte jedermann seinen Horizont erweitern. Es war nur zu selbstverständlich, dass Adolf Kröner zum ersten Präsidenten des neu gegründeten Börsenvereins des deutschen Buchhandels gewählt wurde, der die Interessen des Verlagslebens bündelte und vertrat.

Das Gartentor fiel leise zu.

Und das war eine der grundlegenden Neuerungen gewesen. Ehedem hatte jeder Buchhändler den Verkaufspreis von Büchern selbst festsetzen können. Ein Chaos für alle. Autoren, Verleger schwebten im Dunkel, was Einnahmen und Verluste anging. Schwierige, aber gute Werke wurden verschleudert, Felix Dahns Verkaufsrenner Ein Kampf um Rom kostete um die Ecke noch mehr als nebenan. Manchester-Kapitalismus pur. Adolf von Kröner hatte die Buchpreisbindung ins Leben gerufen, der Markt hatte sich beruhigt, das literarische Leben war solider geworden. Palmolive-Seife kostete in jeder Drogerie auch immer 22 Pfennige.

Es war schwüler geworden.

Die Luft schien auf den Magnolienblüten und dem Geäst der Bäume zu lasten.

«Paul! Anna?»

Unterhalb der Terrasse umarmten sich die alten Freunde. Heyse gab acht, dass seine Zigarre den Weggefährten nicht anbrannte.

«Du bleibst länger?»

«Bin nur auf dem Rückweg von Mailand. Ging um Abwicklung von Lizenzen, Kooperationen.»

«Wird alles immer bürokratischer.»

Die Herrn begaben sich zu den wie dahingestreut wirkenden Gartenmöbeln. Kröner nickte anerkennend zum Haus hinauf, gewahrte den Uferpavillon, der zum Anwesen gehörte, er blickte auf den See hinaus, wo der Postdampfer wieder ablegte.

«Du bleibst zum Essen?»

«Gerne.»

«Eine Erfrischung?»

«Habe gerad gefrühstückt. Exzellent, das Savoy. Ja, hier lässt es sich aushalten. Anna geht es gut?»

«Sie wird gleich kommen.»

Beide nicht mehr jung, ließen sie sich mit einem Schnaufer im Korbgestühl nieder.

«Wie lange wird es noch gutgehen?», fragte sich Heyse eher selbst. «Die Abneigung gegen Deutsche wächst. Gestern erst im L’Eco del Baldo ein Artikel gegen die, wie es heißt, Germanisierung des Gardasees. Kann mittlerweile passieren, dass der Postbote nicht mehr grüßt.»

«Überall dasselbe. Abgrenzungen. Ausgrenzungen. Alle verkriechen sich gerne wie in Steinzeithöhlen.» Kröners schweifender Blick hielt inne, blieb auf dem Tisch haften. «Das freut mich ja nun besonders. Du malst. Und du schreibst.»

«Wann nicht?»

Der Verleger lächelte. «Auch in Mailand alle hochaktiv. Bahnbrechend, wie sie sagen.»

«So?»

Anna Heyse erschien nicht allein. In einigem Abstand folgten ihr auf kurzen Beinen Carlotta und der greise Martino, humpelnd neben dem Mädchen. Die Hausherrin begrüßte den Gast. Er revanchierte sich, ungewöhnliche Freizeitkleidung hin oder her, mit einem Handkuss. Man tauschte sich aus. Sie entschuldigte sich. «Ich muss noch etwas übers Menü grübeln. Ich werde euch Kaffee bringen lassen.» Sie klopfte ihrem Mann die Asche vom Revers, lachte, und die Dreierschar entschwand wieder zum Haus hinüber, Carlotta mit einem Kuchenbrocken in der Hand.

Der Verleger in Kröner regte sich. Der Herr über ein Druckimperium – nur Samuel Fischer in Berlin machte ihm ernsthaft Konkurrenz – war Tag und Nacht, und zwar vollständig, Motor seines Unternehmens. Es schien, als könnte er durch den beschriebenen Blätterstapel schauen. Die Agaven wurden nachrangig.

«Ein neuer Roman? Dein –», er zählte im Geiste kurz nach, «dein sechster. Kinder der Welt erschien noch bei Hertz. Dann Im Paradiese, ein Husarenstreich. Dann Der Roman der Stiftsdame, wenn ich nicht irre, Merlin … Und nun?»

«Gegen den Strom.» Heyse rauchte ein wenig unruhig. Es war klar, dass nicht nur der vertraute Mensch sich erkundigte, sondern auch der Herr der Vorauszahlungen und des Verkaufs. Der rauchte behaglich. «Gegen den Strom warst du schon immer, Paul, jedenfalls dann und wann. Gerade in den Romanen.» – Heyse wies auf die Oliven und den Käse. – «Tolle Sache in den Kindern der Welt. Machst einfach einen Sozialisten zur Hauptfigur. Und, ja, wie dann der Schrei, das Röcheln Christianes das Zimmer erfüllten, während ihr Vergewaltiger noch etwas vom Boden aufklaubt, dann schattenhaft entschwindet. Zu neuen Verbrechen? So etwas durfte man nicht berichten, das schlug ein wie eine Bombe.»

«Die Anfeindungen, das habe ich bitter bezahlt.»

«Entschuldige, wenn ich nur platte Ausdrücke habe. Die zwanzig Auflagen hätte auch ich gerne an den Mann gebracht. Dies Vergnügen hatte der gute Hertz mit seiner Besserschen Buchhandlung. Nun denn. Nach sechshundert Seiten werden deine Kinder der Welt ruhig, umgänglich und versöhnen sich.»

«Mir war danach.»

«Nun ja, später warst du stolz auf Begegnungen mit Bismarck, unserem Sozialistenfresser. Kann man ja nachvollziehen. Der Glanz. Da wird mancher schwach.»

«Feindschaft liegt mir selten. Goethe traf Napoleon.»

«Übrigens, Paul», Adolf von Kröner beugte sich leicht vor, «ein so üppiges, bewegendes Werk, ich meine, alles zusammen … Ich habe meine Fühler überall. Auch in Stockholm. Gut, dass wir uns mal unter vier Augen sehen. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, ein, zwei Jahre, dass dir der Preis zuerkannt wird, als erstem Deutschen für literarische Werke. Das stellen wir dann ganz groß heraus.»

Paul Heyse wirkte geschmeichelt, aber nicht verlegen.

Das Hausmädchen, das sein weißes Häubchen offenbar rasch und ein wenig schief festgesteckt hatte, servierte Wasser und den Kaffee. Er duftete köstlicher als jeder andere nördlich der Alpen.

«Wer ist denn gegen den Strom?» Kröners Wissbegierde war nichts Neues und durchaus verständlich.

«Nichts. Niemand», wehrte der Dichter ab. «Man sollte nichts zu früh preisgeben.»

Der Großverleger brauchte nur einen Moment zu warten. Er bemühte sich nicht mehr, sich in die empfindlichen Seelen seiner Autoren hineinzuversetzen, die ihre geheimnisreichen Projekte, die stets die Welt verändern sollten, für sich behalten wollten, dann jedoch zumindest Andeutungen verlauten ließen. Offenbar erstickten Schriftsteller sonst.

«Sechs Männer, Adolf –»

«Ja?»

«– sind von der Welt angewidert. Ein Maler, der trotz der Zensur seine nackten Gestalten nicht übermalen will. Dazu ein getaufter Jude, der allem Glauben entsagt und auch seinen Sohn vom Religionsunterricht abmeldet. Das Kind wird darauf schikaniert und gelyncht. Ein Politiker, der das Gezänk von Parteien nicht erträgt …»

«Die Kompromisssuche? Unabdingbar. Hätte er sonst Politiker werden sollen?»

«Ein Hauptmann, der sich einem Duell verweigert, weswegen sich auch die Geliebte von ihm trennt. Und ein Arzt, den auch etwas quält. Sie ziehen sich gemeinsam in ein verlassenes Kloster zurück und leben wie ein Orden für sich.»

Der Lotse des deutschen Buchhandels hob den Kopf und blickte ins Firmament.

«Die Baronin von Rittberg reist zum Kloster. Ihr gelingt es, vorgelassen zu werden. Sie möchte den Hauptmann mit seiner reuigen Geliebten versöhnen.»

Kröner wedelte auffordernd mit den Händen. Der Ehering blinkte. «Darf man mal etwas hören?»

Zögerlich, aber dann doch, zog Heyse das unterste Blatt hervor. «Der Anfang –: Am Nachmittag eines heiteren Apriltages fuhr der alte, gelbangestrichene Omnibus des Gasthofs Zum Blauen Engel von dem Stationshäuschen der Lokalbahn nach der kleinen Stadt Windheim, die in einer weitgedehnten Tiefebene seit Menschengedenken weltentrückt sich eines idyllischen Daseins erfreute. Ein breiter Chausseedamm, über dem Moor und Heideland etwas erhöht, mit Pappeln und Ebereschen eingesäumt, verband das Bahnhöfchen mit der Stadt, die etwa zehn Minuten entfernt lag. In dem Omnibus, der schläfrig auf der gutgehaltenen Fahrstraße hinschwankte, saßen nur zwei Reisende, eine schöne, noch jugendliche Dame in einfachem Reiseanzug vom elegantesten Zuschnitt und ein junger Mann, in dem ein kundiger Beobachter sofort den Handlungsreisenden erkannt haben würde, auch wenn er nicht auf dem Sitz neben sich ein mit Wachstuch überzogenes Musterköfferchen stehen gehabt hätte.»

Er legte das Blatt auf den Tisch.

Die Zikaden zirpten. Auf irgendeinem Grundstück wurde ein Teppich geklopft. Der Dichter wartete.

«Das ist die Anschaulichkeit Heyses. Man sieht alles vor Augen. Die schwungvolle Psychologie. Der Handlungsreisende wird die Dame ins Gespräch ziehen.»

«Ohne Erfolg.»

«Und sogar ein Omnibus kommt vor. Jetzt, im Jahre 1906, verlierst du die Elemente der Moderne nicht aus dem Blick.»

«Ich weiß.» Der altgediente Schriftsteller nahm den Unterton wahr. «Es gibt nun auch Untergrundbahnen, Aeroplane, die Boote für Unterseefahrten, in den Laboratorien brodelt die Zukunft. Niemand, auch du nicht, kann auf dem Laufenden bleiben, was die Welt und das Leben umkrempelt. Wir sind alle machtlos gegen den Fortschritt, sein Volumen, und was die Erfindungen mit uns anstellen. Muss man sich für seine Ohnmacht entschuldigen? Nein. Ein Mensch bleibt ganz Mensch bis zum Schluss. Und bei mir sitzt die Baronin nun im Omnibus.»

«Ja, ja», beruhigte Kröner. «Muss es eine Baronin sein, Paul? Es gibt so viele andere Leute.»

«Adel meint bei ihr auch inneren Adel. Dazu darf man doch wohl stehen.»

«Selbstredend.»

«Kann sein, dass ich selbst zur Weltabkehr ins Kloster sollte.»

«Ja, gegen den Strom. Warum sollte man den Roman nicht als eine Verweigerung, Teil des Weltbetriebs zu sein, deuten und unter die Leute bringen?»

«Die Baronin wird im Kloster überrascht und freundlichst empfangen. Es gelingt ihr nicht, den Hauptmann wieder seiner früheren Geliebten, ihrer Freundin, zuzuführen.»

«Eine höchst private Geschichte, in der Tiefebene möchte man sagen. Trotz allem auch idyllisch. – Du hättest den neuen Bahnhof in Mailand sehen sollen. Enorm, wie eine Kathedrale. Von Idylle zwischen den Lokomotiven, im Gedränge, in dem Radau keine Spur mehr. Was für ein Kommen und Gehen. Tempo, Tempo, Geschrei und Hasten. Alles überschlägt sich. Faszinierend.»

«Bleib länger, Adolf. Ein paar Tage Ruhe werden dir guttun.» Beide nahmen das Eindunkeln am östlichen Horizont wahr.

Hufschlag von der Uferstraße beschleunigte sich. Einige Pferde vor ihren Wagen schienen angetrieben zu werden und schneller zu traben.

«Ein Hochwasser wird die Wende bringen.»

Kröner wusste im Moment nicht, worauf sich sein Autor bezog. Er wünschte ihm Ingenium, gemeinsamen Erfolg, auch oder gerade im hohen Alter. Doch das wurde nicht leichter.

«Über die Tiefebene und das Städtchen Windheim bricht eine Sturmflut herein.»

«Ich würde neuerdings immer von den, verzeih, Paul, Verniedlichungsformen mit -chen abraten. Die Leser um die Petroleumlampen oder unterm Gaslicht konnten vom Zierlichen und Zarten nicht genug bekommen. Nun schalten sie elektrisches Licht an, und alles ist härter.»

«Umso wichtiger, die ideale Wendung am Schluss. Nach Jahren des Rückzugs verlassen die sechs Eremiten ihre Klosterburg und greifen tatkräftig ein, um das Städtchen, die Stadt zu retten. Und so wird alles gut.»

«Ja, das wird sich verkaufen, mit dem Namen Heyse. Wenn dann noch zum Abschluss …»

«Bitte?»

«Zur Krönung der Preis kommt. Schreib sorglos weiter, Paul. Ich stehe zu dir.»

«Und was geschrieben ist, ist immer eine Welt, an der anschließend niemand mehr rütteln kann. Es mag dastehen, was will. Schreien mögen einige, wie immer. Los werden sie mich nicht.»

Adolf von Kröner erhob sich, trat auf den Autor zu und fasste ihn mit freundschaftlicher Kraft an den Schultern: «Lass uns nur machen. – Habe übrigens kürzlich den Heinrich Mann und Rilke als Autoren abgelehnt. Ich kann sie nicht einschätzen. Und Hermann Hesse ist woanders untergeschlüpft. Könnte dich freuen, ihr seid ja alle auch Konkurrenten.»

Heyse hob abwehrend die Hände.

«Weißt du, was sie jetzt in Mailand treiben?» Kröner nahm wieder Platz und spürte Appetit auf ein kleines Gabelfrühstück, ein bisschen Ragout oder Pastete, aber dergleichen war in der Villa Annina wohl kaum der Usus.

«Sie nennen sich Futuristen.»

Heyse hob die Brauen.

«Sie wollen demnächst mit einem Programm, einem Manifest ans Licht treten, ein gewisser Marinetti voran. Mir wurde so etwas wie ein Entwurf zugesteckt.» Kröner zog ein verknittertes, wenn auch gefaltetes Blatt aus der Tasche seiner Trachtenjoppe, «ich dachte, das musst du mal hören:

Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.

Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.»

Kröner holte Luft. «Zu den Waffen!»

Heyse wandte schockiert den Kopf ab.

«Besingen werden wir die vielstimmige Flut der Revolutionen, die Fabriken, die mit ihren Rauchfäden an den Wolken hängen, die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen.

Museen sind öffentliche Schlafsäle. Reißt sie nieder.

Es lebe die Schönheit der Geschwindigkeit.

Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein aufheulendes Auto ist schöner als die Nike von Samothrake.

Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!»

Keine Sturmflut war’s, die den See heimsuchte. Doch eines der heftigsten Unwetter seit Jahren. Unter den Wolken, die am Nachmittag fast eine violette Farbe annahmen, breitete sich eine Schwüle aus, die alle Regungen bei Mensch und Tier erlahmen ließ. Nach zwei Flaschen Wein bei seinen Gastgebern zog sich Adolf von Kröner rechtschaffen müde in sein Bett im Savoy Palace zurück. Der Schlummer war kurz. Blitze zuckten über dem Monte Baldo, Donner hallte vom Bergmassiv wider, der österreichische Postdampfer steuerte außerplanmäßig in die Mole von Salò, bald blitzte es näher, am gegenüberliegenden Ufer über Garda, Sirmione wurde grell beleuchtet, im Grauvioletten donnerte es Schlag auf Schlag, Menschen hielten den Atem an, letzte Gäste flüchteten von den Gassen und der Promenade, Damen drückten sich mit ihrem verängstigten Hund auf dem Schoß in einen Sessel, möglichst weit von den Hotelfenstern entfernt. Regentropfen sprenkelten über das Pflaster und die Dächer. Es prasselte auf Pflanzenkübel, Palmen und Rebhänge, knallte binnen Kurzem gegen die Scheiben, auf Marmorbrüstungen, auf Schindeln und Kupferdächer, Hagelkörner hatten die Größe von Tennisbällen. Die Terrasse des Kurcafés wurde eine Wüstenei von Stühlen und Tischen im Nass. Wer am Vorhang auf den See schaute, sah ihn fast nicht mehr, hinter den an Tauen schlingernden und hüpfenden Booten verlor sich die Weite wie im Nebel, Blitze spalteten den Dunst, dort draußen gäbe es nur noch den Tod, der Campanile am Ufer wurde zur Fata Morgana in der Flut von oben und dem Dampf des Wassers. Es war, als löste sich Gardone von den Hängen, zerliefe in den Lago, verschwände von der Erde. Der Blitz schlug ins Leere, wo in wenigen Jahren der furiose und faschistische Dichter d’Annunzio sein Palastareal Vittoriale oberhalb der Villa Annina errichten lassen würde, wie um das Anwesen des Früheren und Fremden zu übertrumpfen, der Donner rollte gegen Abend aus, und ahnen konnte keine Seele, dass zum Ende eines zweiten Weltkriegs ein Sohn Mussolinis, Vittorio und seine Familie, letzte Zuflucht in den Räumen finden würden, in denen Kröner mit seinem Autor und dessen Gattin mittags mit ihren Gläsern angestoßen hatten.

Gardone Riviera war zerstoben, wie nie gewesen.

Der Postdampfer konnte erst am nächsten Tag seine Fahrt wiederaufnehmen. Der See schien ungetrübt. Wolkentupfer umgaben den Monte Baldo.