Invasion

«Hallo, junger Mann.»

«Wohnst du hier?»

«Sind deine Eltern da?»

Der Junge, der zwischen den Pfosten des geöffneten Gartentors stand und das Geschehen an der Straßenecke beobachtete, mochte elf, zwölf Jahre alt sein.

«Wir möchten sie gerne besuchen.»

«Deine Eltern wissen, dass wir kommen.»

«Ich darf niemanden hereinlassen.»

«Aber wir sind’s doch nur.»

«Wie heißt du denn?»

«Clemens.»

Der Junge sah auf einen Schlag fünf Fremde vor sich, die ihm nicht ganz geheuer waren. Mit Schwung versuchte er, die Bronzepforte zuzuwerfen. Die Stadträtin verhinderte es mit ihrem Fuß und stieß einen gedämpften Wehschrei aus. «Hab keine Angst», brachte sie unter Schmerzen heraus, «es geht auch um deine Zukunft.»

«Clemens, fürchte dich nicht.»

Verzweifelt, fast zum Erbarmen, stemmte der Junge sich noch gegen das Tor, keuchte, rief: «Hilfe!» und «Papa!», schließlich ließen seine Kräfte nach, er preschte davon, der Villa entgegen, «Papa! – Onkel Kilian!»

Ein unschöner Auftritt. Zögerlich traten die Heyseianer durch das Tor, setzten Fuß und Aircast auf anderer Leute Territorium. «Ich geh da nicht mit», revoltierte die Schriftstellerin, «das ist geschmacklos und Hausfriedensbruch.»

«Wieso geschmacklos?»

«Der Junge hat gebrüllt, wir haben die Ruhe nicht gestört.»

«Man gibt doch nicht zwei Minuten vor dem Ziel auf.»

Sie mussten sich im Dunkel orientieren. Links befand sich der Sandkasten, den sie vom Café aus gesehen hatten, rechts von der Zufahrt stand ein Auto. Müllcontainer. Gehwegplatten waren in etwas unregelmäßigem Abstand verlegt. Ein Durcheinander und Ineinander von Garten, Vorhof und Abstellplatz. Ein wildes Idyll. Blumenbeete, eine Hollywoodschaukel, Kisten des Weinkontors Álvares, ein Wasserschlauch und eine Schubkarre.

Harald Bradford hob andächtig die Arme. Hier hatte der Nobelpreisträger gelebt. Auf demselben Weg wie sie jetzt war einst Theodor Fontane dem Haus des Freundes zugestrebt. Unter dem Baum hatte vielleicht eine Bank gestanden, auf der sich der Hausherr mit seinem gelegentlichen Gast Henrik Ibsen, gleichfalls lange Zeit Wahlmünchner, unterhalten hatte …

«Wann ist die Premiere?»

«In sechs Wochen, in Kopenhagen.»

«Nora oder Ein Puppenheim, ich kann mir unter dem Titel nichts vorstellen.»

«Eine einfache Geschichte, Paul. Habe sie aus der Zeitung. Wie meistens. Es geht um Erpressung, einen Schuldschein, um eheliche Treue. Nora, die Frau eines Bankangestellten, hat eine Unterschrift gefälscht. Ihr Mann erfährt davon. Wenn der Betrug ans Licht kommt, sind seine Karriere und sein Ansehen vernichtet. Er beschimpft seine Frau: Keine Religion, keine Moral, kein Pflichtgefühl! – So passiert’s doch, Paul.»

«Ja, im gewöhnlichen Leben.»

«Schließlich merkt Nora, und das hatte ich dir schon einmal erzählt, dass ihr Mann sie gar nicht liebt, sondern nur ein braves, hübsches Püppchen für zu Hause und zum Vorzeigen haben will, mein Eichkätzchen, meine Singlerche nennt er sie. Sie hasst das. Sie wagt den unerhörten Schritt ins Neue, riskiert alles, sie verlässt ihn und die Kinder. Alles an den Weihnachtstagen, von denen es heißt, sie müssten behaglich sein. Am Schluss fragt Nora: Ich muss herauskriegen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich?»

«Es bleibt enorm, Henrik, was du aus Zeitungsmeldungen und Skandalgeschichten herausholst. Die Figuren bei dir kommen wie von der Straße und verschwinden wieder dorthin. Dazwischen geschieht die Katastrophe.»

«So seh ich’s, so ist’s. Der Alltag ist der Hexenkessel in den eigenen vier Wänden. Da zeigt sich, welche Sehnsüchte und welche Kräfte jemand hat. Jeder betrügt doch jeden und sich selbst obendrein.»

«Und das Gute und Stabile?»

«Ach, Paul.»

«Anna und ich werden uns die Münchner Aufführung anschauen.»

«Das hoff ich doch.»

«Du sprichst so klar und einfach wie deine Gestalten. Und sie sind trotzdem geheimnisvoll.»

«Weil sie Menschen sind.»

Bradford stolperte fast über den Gartenschlauch.

Er fragte sich, warum sein Mann vorauseilte. Sonst zog er sich lieber zurück, wenn es in Erlangen wieder einmal um den Autor ging, dessen unermesslich umfangreiche Korrespondenz längst noch nicht vollständig eingetippt, digitalisiert und zugänglich gemacht war. Wichtige Dokumente des Geisteslebens der Jahrhundertwende zwischen Biedermeier und Erstem Weltkrieg. Als die Wünsche und die Gegenwart besonders heftig und grausam aufeinandergeprallt waren, das Deutschland der Weimarer Klassik, der klassischen Ideale – Mäßigung, Entsagung, ästhetische Erziehung – und das der Industrie, der Beschleunigung von allem, der Rendite, dann das Deutschland der Schützengräben und des Giftgases. Was für ein Privileg Heyses, hochbetagt, von Ehren überhäuft, wenige Monate vor dem großen europäischen Massaker für immer die Augen geschlossen zu haben. Das unermessliche Leid und die tiefste Zerrüttung blieben ihm erspart.

«Henrik, wo bist du?»

«Doch hier, neben dir.»

«Betrug, Ehebruch, Erpressung, Einschüchterung, Befreiung, Selbstbetrug. Deine Stücke sprechen viele Menschen an.»

«Und du beherrschst noch jedes Versmaß.»

«Wie wahr bin ich?»

«Wir bemühen uns.»

«Wer wird bleiben?»

«Was, Paul, wird bleiben?»

«Wir sollten vor dem Tee, tea time, wie es jetzt heißt, noch ein paar Schritte gehen.»

«Gut.»

«Zum Kristallpalast?»

«Ein Wunderwerk.»

«Dort ist eine Orchideenausstellung.»

Bradford holte auf.

Vandervelt blieb immer weiter zurück.

Im Licht aus dem Inneren des lang gestreckten Hauses erschienen, fast nur als Umrisse, zwei Menschen.

«Was wollen Sie?», fragte ein Mann.

«Stürmen hier einfach herein! Der Junge ist völlig durcheinander», hörte man eine Frau. «Soll ich die Polizei holen?»

«Entschuldigen Sie», baten Therese Flößer und Herr Deng beinahe gleichzeitig, «entschuldigen Sie bitte.»

«Wir sind angemeldet. Herr Kienzlmayr muss uns angekündigt haben. – Wir wollen nicht stören. Im Gegenteil.» Auch die Stadträtin blickte entschuldigend, was im Zwielicht vor den Stufen wohl kaum jemand wahrnahm.

«Kienzlmayr?», hörte sie den Mann, «kenne ich nicht.»

«Von der Stadt. Ein Anfänger. Vermutlich ein Depp.»

«Von der Stadt lassen wir sowieso niemanden herein. Von den Banken auch nicht. Keinen Architekten und keinen Investor. Das ist ein Privatgrundstück, und auch als Mieter haben wir Rechte. Wir stehen jetzt unter Denkmalschutz. Ein langer Kampf.»

«Ich weiß. Ich bin informiert. – Wie schön Sie’s hier haben», Silberstein wandte sich im Abendvorhofgarten um, «hier können die Kinder sich austoben –»

«Eben.»

«Eine Mauer gegen den Lärm.»

«Genau.»

«Mitten in der Stadt ein Elysium. Unsaniert und gewiss noch erschwinglich. Nur zu beneiden. Wer hat so etwas?»

«Wir. Seit zwanzig Jahren.»

«Dazu der Nimbus des großen Schriftstellers, der die Anlage gestalten ließ und hier arbeitete und lebte. Das Haus einer Berühmtheit. Wir verehren ihn alle.»

«Die spinnt», sagte die Frau im Eingang.

«Na, lass sie doch, Ingrid. Wenn sie’s so meint. Wir wissen doch, wem wir Haus und Garten verdanken. Paul Heyse ist unser Glück.»

Bradford strahlte. Herrn Deng wurde fast übel. Sie waren auf Verrückte gestoßen.

Mittlerweile standen sich die Gruppen gegenüber und konnten einander unter der Türlaterne gut erkennen. Clemens musterte die Eindringlinge und wirkte jetzt keineswegs durcheinander, sondern neugierig. Etliche Kinder, Jugendliche drängten sich hinter ihm, also vielköpfige Familien. Vorne standen ein Mann in langer, heller Kutte, womöglich der Uhrmacher in einem Werkstattgewand, und ein anderer in üblicher Freizeitkleidung. Der Konditor? Die Frau neben dem Kuttenträger war rothaarig, die andere, halb hinter dem zweiten Mieter, war vermutlich aus dem Badezimmer zur Tür gestürzt gekommen. Sie hielt eine Haarbürste noch in der Hand.

«Es handelt sich nur um einen Ortstermin seitens der Stadt, zum dem wir meines Wissens ordentlich angemeldet worden sind, aber wir kamen nicht herein.»

«Kunststück. Wir verdunkeln. Bei Terminen.»

«Ich verstehe das», erklärte Bradford. «Wenn Sie dermaßen bedrängt werden! Wenn Sie vielleicht ausziehen sollen und hier alles zugebaut werden soll.»

«Lasst sie doch. Gehen wir», meinte Vandervelt.

Jetzt meldete sich die Politikerin Antonia Silberstein: «Schauen Sie, es handelt sich hier keinesfalls um ein rücksichtsloses Entmieten, das versichere ich Ihnen als Stadtbaurätin –»

«Sie?»

«Dazu wären wir gar nicht befugt. Beruhigt Sie das? Wir wollen das Erbe Paul Heyses schützen.»

«Das tun wir auch», sagte die Frau mit der Bürste, und Clemens nickte, «das stimmt, Mutti.»

«Professor Bradford ist der größte Heyse-Experte der Welt, und auch wir anderen begeistern uns für sein Werk, für all das Bemerkenswerte, das er hinterlassen hat. – Und es gönnt Ihnen jeder, dass Sie unter seinem Dach wohnen, seinen Garten nutzen können. – Wollen Sie uns nicht kurz hereinlassen? Nur, um einmal zu sehen, welchen Kulturschatz die Stadt birgt.»

«Sie mögen Heyse?», fragte der Mann in der Kutte.

«Mehr als das», rief Bradford, «ich verfasse die erste Biografie über ihn.»

«Die Stadt ist auf Ihrer Seite. Wir werden nicht dulden, dass Miethaie Ihr Idyll und dieses Areal zerstören. Nichts soll Ihnen zum Nachteil gereichen.»

Der gesamte Anlauf hatte lange gedauert und blieb verzwickt.

«Wenn das so ist. Schauen Sie sich kurz um. Aber die Kriegsschäden waren groß.» Die Bewohner der Luisenstraße 22, beide Paare und ihre Kinder, wichen zurück und gaben den Weg frei.

«Entschuldigen Sie. Wir sind alarmiert», sagte der Mann in Jeans und Baumwollhemd, «übrigens Seishuber.»

«Silberstein, Vandervelt, Frau Flößer hatte einen Unfall, die Bradford-Dengs.»

«Seit vier, fünf Jahren kämpfen wir, das ganze Viertel, gegen den Abriss und haben jetzt ein paar Erfolge erzielt. Vor Gericht. Wer hier wohnt, will nicht weg. Hier haben wir Freiheit und Ruhe, die Kinder hängen am Haus, alle. Treten Sie ein. Wir wissen, was wir dem vergessenen Dichter zu verdanken haben.»

«Und im Keller des Nordflügels habe ich gut Platz für die Werkstatt. Sie können alte Uhren, Pendülen und Chronometer nicht stapeln», erklärte der Uhrmacher. Die Kordel um seine Kutte war rot und hing locker.

Die Mieter wurden, wie es schien, zugänglicher. Beim Konditor spähte man intuitiv nach einer Spur Mehlstaub irgendwo, hatte Sahne, Torten, eine hohe Mütze und feines Gebäck im Kopf. Er trug Jeans, ein Baumwollhemd, wirkte wie frisch geduscht, und sein breiter Hosengürtel glänzte.

Im Pulk rückte man vor.

Vor einer Treppe im Flur wurde es eng, sehr beengt sogar. Die Archivarin zählte sieben Kinder, die ältesten waren vielleicht sechzehn. Wenn es einen Nordflügel gab, existierte auch ein Südflügel mit genügend Platz. Die Eindringlinge, Harald Bradford, hatten ihre Blicke durch ein weites Vestibül schweifen lassen wollen. Doch das war kaum möglich. Der Eingangsbereich vor den Stufen, die nach oben führten, hätte sich in einem beliebigen Wohnhaus befinden können. Die Bombenwirkung musste beträchtlich gewesen sein, und nach dem Krieg war offenbar schnell und sparsam wiederaufgebaut worden. Wo sich, alten Bildern zufolge, das Entree mit einer Statue des Betenden Knaben, schön griechisch, befunden hatte, schienen Zwischenwände eingezogen worden zu sein. Die Halle, die man sich mit luxuriöser Glasüberdachung vorstellen konnte: verschwunden. Diverse Schränke und Kommoden versperrten geradezu den Weg. Die Mieter hatten einen grünen Daumen, Farn, Gewächse aller Art prangten sattgrün in Töpfen allüberall. Doch wie aufmerksam und liebenswürdig: ein gerahmtes Porträt des greisen Schriftstellers schmückte eine weiße Wand.

«Sie verstehen. Unsere Wohnungen sind privat. Aber Sie können oben kurz Platz nehmen.»

«Wieso?», fragte eines der Mädchen. Ortrud Vandervelt war die Situation aufs Äußerste peinlich. Bei den Übrigen siegte die Wissbegier.

«Da hängt Annas Porträt.» Therese Flößer erkannte die dargestellte Schöne zwischen zwei Lichtöffnungen aus Glasbausteinen. Natürlich musste es eine Kopie des Lenbach-Gemäldes von Heyses Gemahlin sein, mit ihrem üppigen Haar und im duftigen Sommerkleid. Annas Blick zurück über die Schulter signalisierte vornehme Wachsamkeit.

Sechzehn Personen schoben sich die Stufen hoch. Erneut grüßte der frühere Hausherr von einer Fotoreproduktion. Diesmal sitzend und im Gespräch mit Adolf von Menzel, dessen Malerhände auf den Knien ruhten.

Ortrud Vandervelt wurde es unheimlich. Neben dem Treppenabsatz zum dritten Mal das Konterfei des Schriftstellers. Als junger Mann in Öl. Der helle Hut mit breiter Krempe, höchst modisch, saß leicht schräg auf wallendem, schwarzen Lockenhaar. Ein Prachtpoet. Der Shootingstar aus Berlin. Ein Jüngling zum Träumen. Aus ebenmäßigem Gesicht erfassten die Augen den Betrachter und luden ihn ein, forderten ihn auf, wozu auch immer. Eine Seidenschleife schmückte den Hals.

Heyses schienen nie ausgezogen zu sein.

«Sie sehen», der Uhrmacher an der Spitze des Zugs wandte sich nach hinten, «hier wäre nicht einmal Platz für ein anständiges Museum. Aber wir tun unser Bestes. Sammeln auch viel über ihn.»

Die Archivarin merkte spürbar auf.

«Ach, mit hundertzwanzig Millionen ließe sich schon etwas machen. Dies ist ja nur der Zugangsbereich, dann erst beginnt der Komplex», murmelte Silberstein und griff nach dem Geländer. «Sie können völlig unbesorgt bleiben», sagte sie lauter. «Nur in Abstimmung mit dem Denkmalamt ließe sich hier etwas verändern. Und ich kenne die Herrn. Sie sind strenge Wächter.»

«Das beruhigt uns auch», erklärte die Frau des Konditors, die beim Frisieren gestört worden war. Ein paar Metallspangen steckten im Haar. Von wem welcher Nachwuchs stammte, interessierte jetzt nicht. Doch den Nasen und der Haarfarbe nach gehörten die Rotblonden zum Uhrmacherpaar. Der Vater selbst hatte so feine Finger, wie man es für das Reparieren einer Pendüle vermuten konnte. Buk der Konditor daheim auch für seine Familie? Oder hatte er nach der Arbeit das Schichten und Glasieren von Prinzregententorten satt? Man hätte gerne eine seiner Spezialitäten probiert.

«In ähnlichen oder ganz anders gearteten Fällen», führte die Baurätin knapp aus, «hat die Kommune immer geholfen. Sie wissen, leidige Straßenerweiterungen, der Bau der neuen S-Bahn-Strecke durch die Stadt. Wo Mieter weichen mussten, haben wir Ersatz gefunden.»

«Wie schön», sagte die Konditorin.

Die Kinder blickten skeptischer.

«Wir haben Kommunalwohnungen in Waldtrudering. Gedeckelte Kaltmiete. Freibad in der Nähe. Viel Grün drum herum. Passable Busverbindungen. Mancher gäbe viel, um nach Waldtrudering zu ziehen.»

«Wir nicht», stellte Clemens fest.

Die mehrarmige Deckenleuchte stammte aus den Sechziger-, wenn nicht Fünfzigerjahren und mochte bereits zum Liebhaberobjekt geworden sein.

Flößer rutschte fast aus.

Herr Deng hatte beim Schnellstart aus dem Café den Laptop seines Mannes gerettet und hielt ihn unter den Arm geklemmt. Die Kopfhörer hingen um seinen Hals, und er hatte die Musik ausgestellt. Der Rucksack der Bibliothekarin war auf seinem Rücken gut aufgehoben. Aus jeder Bewegung war zu schließen, dass der Hongkonger von allen Anwesenden offenbar der sportlichste war. In seinen Salons nutzte er gewiss selbst die Fitnessgeräte. Oder lag in Erlangen und in Coburg der Schwerpunkt auf Maniküre und Pediküre? «Im Lande Wei… da trägt Sven Kong den Hut von Schillerseide … im Maulbeergarten, gegürtelt mit den Perlenschnüren», flüsterte er und lachte.

Stufen knarrten.

Sie erreichten die Empore.

Das Stabparkett glänzte.

Zwischen den Wohnungen im oberen Stockwerk wurde es endlich etwas geräumiger.

«Hier haben Sie noch einen Blick von oben», meinte die Frau oder Gefährtin des Uhrmachers. Sie trug ein leichtes, geblümtes Kleid.

Auch von oben war nichts Spektakuläres zu sehen. Die Stiege, Pflanzen, Anna Heyse, Putzeimer und Schrubber in einer Ecke, hinter Glas ein Duplikat der Nobelpreisurkunde von 1910. Rosen vor der Silhouette Stockholms … åt Paul Heyse … såsom hyllningsgård åt den … af vårlsdberòmda noveller …

Weshalb sich auf der Balustrade ein Tisch mit Korbsitzen befand, blieb rätselhaft. Trafen sich die Mietparteien hier manchmal auf neutralem Terrain? Zum Kartenspielen? Eines der Mädchen verabschiedete sich von ihren Eltern: «Nach dem Kino geh ich mit Linda noch ins Max.»

«Das ist aber reizend», bemerkte Therese Flößer und trat auf drei Kleiderpuppen zu, «bezaubernd.» Eine Puppe stand nackt da. Auf zweien waren bodenlange, weiße Umhänge drapiert. Die Stickerei am hohen Kragen und um den Saum funkelte. Der Satinstoff fiel in üppigen Falten herab. Aus demselben Material bestanden zwei Turbane mit Agraffen, aus denen Pfauenfedern ragten.

«Sie haben schön Fasching gefeiert?», freute sich die Bayerin, «oft ziehen sich die Leute nur noch Müllsäcke über und setzen sich eine Clownsnase auf.»

«Das ist fürs Sommerfest.» Die Bürste in der Hand der Frau des Konditors wirkte wie eine Waffe. Ihr Mann hatte dunkles, geschorenes Haar, der Schnitt war gewiss praktisch für die Backstube. Zur Kutte des älteren Uhrmachers passte sein grauer Haarkranz. Die Feinarbeit im Keller mit Lupe im Auge mochte einen Zug ins Mönchische haben.

«Ihre berühmten Sommerfeste. Ja, wir hörten schon davon.» Vor Antonia Silbersteins innerem Auge hatte sich die gesamte Enge und Schlichtheit des Nachkriegsaufbaus längst in etwas Weites, Großartiges und Einladendes verwandelt. Der Brunnen vor der Villa durfte ruhig figürlich werden, dann gelangte der Besucher in ein Marmor-Entree – exakt hier –, und die Konferenzräume und Stipendiatenapartments gruppierten sich rund um das Atrium. Bis nah an die Pinakotheken reichten die Bibliothek, ein Lesegarten … Wenn man das Projekt mit Schwung in Angriff nahm, würde das Land das aufsehenerregendste Ensemble für den geistigen Austausch bekommen, ein kulturelles Forum, das bald in aller Munde wäre. Die Post musste zu einer Heyse-Briefmarke animiert werden. Ein Treffpunkt mit einer Dauerstellung, mit Wechselausstellungen, mit der Bronzetafel der Initiatoren am Eingang, einem Posten im Kuratorium, Empfängen, nicht unangenehmen Dienstreisen zu Partnerinstitutionen, zum Le Botanique in Brüssel, dem Továrna in Prag, ja, zum Centre Pompidou und Londons Barbican Center …

Die Stadt hätte in ihre Zukunft investiert. – In Waldtrudering lebten Mieter auch kommod, in erholsamem Umland, und hatten keinen Ärger mit Altbausubstanz. Das Allgemeinwohl rangierte vor Einzelinteressen. Ewig konnte es hier nicht so marode bleiben.

«Das sind Mäntel für Die Weisheit Salomos», klärte der Konditor neben den Puppen auf, «ich kümmere mich um die Bewirtung.»

«Die ist bestimmt köstlich», meinte Flößer und strich mit der Hand vorsichtig über die aufwendige Stickerei.

«Wir haben einen großen Grill», sagte die Uhrmacherfrau. Zu Hause trug sie wahrscheinlich öfters oder immer Flip-Flops. Die Latschen wirkten gut gebraucht.

«Wir führen jedes Jahr ein Stück von Paul Heyse auf. Ich erledige die Näharbeiten.»

So schmal und leicht Ortrud Vandervelt auch war –, als sie mit ihrem ganzen Gewicht und Flimmern vor den Augen in einen Korbstuhl sank, ächzte das Geflecht und die Bambusbeine schienen sich zu spreizen. Frau Bartholomäe eilte, um Wasser zu holen.

«Die Sabinerinnen, Die Göttin der Vernunft und Die Pfälzer in Irland haben wir bereits gespielt. Auch die Nachbarn machen mit.» Der Konditor lehnte sich an die Wand. «Robert, der behinderte Kellner aus dem VON&ZU, hat in Hadrian den römischen Kaiser gegeben, empfindsam, nachdenklich. Stehende Ovationen.»

Harald Bradford suchte an der Balustrade Halt.

«Zuerst gibt es einen Umtrunk, Häppchen, Petits Fours, jeder bringt etwas mit oder spendet. Dann werden die Fackeln angezündet. Und wir spielen vor seinem Haus. Der Eingang mit der Laterne ist wunderbar für Auftritte und Abgänge geeignet.»

«Es gibt siebzig Dramen», brachte Bradford hervor.

«Sehen Sie, das reicht noch für unsere Enkel!» Auch der Uhrmacher blickte zufrieden: «Sie können ja mal vorbeikommen. Die Feste sind intim und gesellig. Nach dem Theater wird gegrillt und getanzt. Wir hatten auch schon ein Spanferkel. Ging weg wie nichts.»

«Das sind fünfaktige Schauspiele!», rief Bradford.

«Wir sind gut im Kürzen. Und er hat auch Einakter hinterlassen. Ehrenschulden, Unter Brüdern, ein Lustspiel.»

Vandervelt stöhnte.

«Haben Sie auch Colberg aufgeführt?»

«Noch nicht, das ist schwierig mit der französischen Armee und der Bürgerwehr. Den Kanonen. Außerdem ist uns Colberg ein bisschen zu nationalistisch. Das ist mit der Weisheit Salomos ganz anders.» Herr Seishuber, Spezialist für Konfiserie und überdies Büffetorganisator, pickte zwei der Kinder heraus. «Philipp, Leila, zeigt mal, was ihr könnt.»

Ortrud Vandervelt hielt die Augen geschlossen und umklammerte das Glas. Bradford fasste Deng am Arm, «die spielen Heyse … niemand spielt mehr Heyse. Im Fackelschein. Long, das ist ein Weltwunder.» Der Gesichtsausdruck des Asiaten war schwer zu enträtseln.

Herr Seishuber klatschte in die Hände: «Salomo empfängt die Königin von Saba. Werden beide ein Paar? Heyse spielt die Frage, die Geschehnisse und einiges durch.»

Auf der Empore trat Philipp, ein Rotschopf mit ein paar Pickeln, auf Leila zu, die sich, offenbar in der Hitze Jerusalems, mit der Hand Luft zufächelte. Und Salomo breitete die Arme aus:

«So heiß’ ich dich willkommen, Königin,

In meinem Haus. Was immer deinen Augen

Darin gefällt, sei dein.»

Leila, die Königin von Saba, verneigte sich.

«Herr, du bist gütig. An der Fremden übst du

Geduld und Nachsicht. Ein heitren Gast

Erhofftest du; ein ernster nahte dir.

Doch da du weise bist, wirst du verstehn,

Was mich verschattet.»

«Rede! Deine Stimme

Klingt schwesterlich vertraut zu meinem Ohr,

Als hätten wir von Kindesbeinen an

Zwiesprach gepflogen.»

Leila hob majestätisch ihren Kopf.

«Zu einem Weisen zog ich.

In dem gepries’nen Richter Israels,

Dem Herzenskünd’ger, hofft ich den zu finden,

Der mir die bangen Rätsel lösen könnte:

Wozu wir leben? Ob es Stillung gibt

Für unsrer Seele Durst? Ob eine Rast

Im ew’gen Wechsel dieser Erdendinge?

Und tausend Fragen mehr. Wer aber trat mir

Am Tor der Stadt entgegen? Nicht ein Greis,

Dem der Erfahrung Schnee das Herz gekühlt,

Der Pflug des Denkens tief die Stirne furchte:

Ein Fürst im Flor der Jahre, dem das Auge

Gleich einer Kriegesfackel glüht, ein Held

In königlichem Prunk. Statt weiser Worte

Gesang und Harfenspiel – und er fragt,

Ob ich enttäuscht am Ziel der weiten Fahrt,

Bereue, dass ich je sie unternommen?»

Die Eltern und die Geschwister applaudierten. Bradford begann entgeistert zu klatschen. «Ich habe es bisher nur gelesen.» «Ihn zu spielen, macht mehr Spaß, als ihn einzuscannen», stellte Herr Deng fest, «nur Singen lockert noch mehr.»

«Nun ja, Sie haben’s mitbekommen. Die Königin von Saba rechnet mit einem greisen Weisen, aber sie findet einen jungen Weisen vor. Warum das so schlimm ist, weiß ich nicht recht.»

«Sie zickt», urteilte der Uhrmacher.

«Kilian, du begreifst die Beweggründe und die Finten der Frauen nicht.»

«Stimmt, Marianne, verzeih.»

Die Bartholomäes lachten.

Vandervelt fasste sich an die Stirn.

«Die Königin misstraut jungen und baut auf gereifte Männer», fuhr Frau Seishuber fort, «warum, lässt sich nur vermuten. Prägung, Fügung? Darüber hat niemand Macht. Nach dieser Abfuhr verliebt sich Salomo in die schöne Sulamith. Kennt man aus der Bibel. Aber bei Heyse wird es plastisch. Ein wunderbares Stück. Es wird ein Erfolg. Philipp.»

«Schlank wie die Lilie bist du, Sulamith,

Komm zum Zypressenhügel.

Du bist so lieblich, dass mir alles lieb,

Was dir gefällt. Und wenn wir droben sind,

Sollst du mir auch die Rose pflücken, die

Dort oben blüht.»

«Weiß der Junge schon, was er da spricht? Die Rose pflücken», erkundigte sich die Stadträtin.

Der Bursche nickte. «Im weißen Mantel und mit Turban wird es noch schöner.»

«Na, sauber», entfuhr es Flößer. «Wenigstens nicht die neue Prüderie und Verklemmtheit. Ran an den Speck, wie’s früher war.»

«Nach weiteren Turbulenzen kommt manches ins Lot, Salomo wird gepriesen, und jeder zieht seiner Wege.»

«Wie im Leben.»

Nach zweimaligem Klingelton unterdrückte Ortrud Vandervelt in ihrem Korbgeflecht einen weiteren Anruf ihrer Tochter. Die Mutter war zu schwach, völlig am Boden, überrollt, um sich abermals um die stumpfsinnige Mayonnaise in Edinburgh zu kümmern. Vermutlich hatte Tamara das Öl nicht gleichmäßig ins Eigelb geträufelt und verrührt. Sollte sich das verzogene Gör doch bei ihren paar Hundert Followern, Friends und sonst wem erkundigen oder sich eine Tube aus dem Supermarkt holen.

Wie unter altvertrauten Fachleuten wandte sich Professor Bradford an den Uhrmacher: «Wagen Sie sich bei Ihren Festen und Inszenierungen auch an die Geschichte um Ludwig und Juliane Hochstetten, um beider Freund Dr. Eckart heran?»

«Aber nein!», rief Bartholomäe laut durchs Treppenhaus, «das kommt kaum infrage. Allzu heikel.»

«Dachte ich mir», antwortete Bradford fast ebenso vehement.

Ratlos blickten Kinder und die Eindringlinge die beiden Herren an. Um wen und um was ging es?

«Die schwerste Pflicht ist ein zu brisantes Drama.» Der Uhrmacher strich sich nachdenklich über Haarkranz und glänzende Kopfhaut. «Wenn auch von größter und bleibender Bedeutung, das wurde mir sofort klar.»

«Richtig», sagte Bradford, «so etwas wie Die schwerste Pflicht hat es nie zuvor für die Bühne gegeben. Die schwerste Pflicht wurde meines Wissen bisher nie aufgeführt. Gerade das könnte Sie in diesem Haus doch reizen, die Welturaufführung.»

«Nein, nein», wehrte Bartholomäe ab. Er band die Kordel um seine Kutte fester. «Salomos Weisheit ist passender für das Gartenfest. Sinnlich. Orientalisch. Gewiss, Schwerste Pflicht bietet sich für unser Laientheater auch an. Es ist ja nur ein Einakter … Mit vier Personen leicht zu besetzen. Vielleicht sollten wir es mal im Winter probieren. An einem Kaminabend, zu Allerheiligen.»

«Ich würde sofort kommen», lud sich Bradford selbst ein.

«Herrgott noch mal. Welche schwerste Pflicht denn?», forderte die Stadträtin Auskunft.

«Nun», begann Bradford erstmals zögerlich. «Er –»

«Wer?»

«Wer schon? Er hat das erste Stück über Sterbehilfe geschrieben.»

Vandervelt schloss die Augen. Flößer stand lauschend zwischen den Kindern, die eben noch Salomo und die Königin von Saba gewesen waren.

«In Die schwerste Pflicht», sprach Bradford in die kleine Runde auf der Flurempore, «leidet Ludwig Hochstetten, ein Beamter im Frühruhestand, zunehmend unter Wutausbrüchen und Wahnvorstellungen. Zu einem normalen Leben mit seiner Frau Juliane ist Hochstetten nicht mehr fähig. Alle ahnen, welche Krankheit den Bedauernswerten heimsucht: der in seiner Familie erbliche Wahnsinn. Der Freund und Arzt Dr. Eckart soll helfen. Juliane Hochstetten beschwört ihn, den Ehemann zu behandeln, ihn vielleicht in ein geeignetes Sanatorium, in eine Heilanstalt einzuweisen, bis zu einer Besserung oder Genesung.»

«Genau», sagte Herr Bartholomäe. Er fasste seine Frau liebevoll um die Hüfte.

«Der Kranke selbst vertraut dem Arztfreund an, dass es keine Heilung gebe, dass die Zustände schlimmer würden, dass er in seinem Wahn sogar zum Mörder werden könne. Er bittet den Arzt, fleht ihn an, ihm umgehend das Sterben zu ermöglichen. Ein grausiger Einakter. Revolutionär, fatal. Dr. Eckart leistet schweren Herzens Sterbehilfe. Bedrückt offenbart er Juliane, was nun geschehen ist. Die Erschütterte tröstet den problematischen Helfer ungefähr mit diesen Worten: Ich danke Ihnen, mein Freund, in seinem und meinem Namen. Nein, ziehen Sie Ihre Hand nicht zurück, sie ist keine Mörderhand: eine ehrliche, treue, tapfere Freundeshand, deren Druck auch mich in dieser bitterschweren Stunde stärkt. Aber nun geb’ ich sie wieder frei. Nun müssen wir scheiden – für immer!»

In der Villa herrschte Stille.

Frau Seishuber hatte die Arme vor der Brust verschränkt, Frau Bartholomäe schüttelte den Kopf. «Das wird auch an Allerheiligen nicht gespielt», erklärte die Mutter und zog ihren Sohn Philipp an sich.

«Ein Stück über Euthanasie.» Ortrud Vandervelt nickte mit geschlossenen Augen.

«Ein heißes Eisen», sagte irgendwer.

«Zu heiß», bestätigte der jüngere Mieter, er strich Clemens über den Schopf.

«Nehmen wir’s zeitgeschichtlich, ganz behutsam», Bradford räusperte sich, «damals, um 1880, auch hier im Haus, lag das Thema Erbkrankheiten, und wie man damit umgehen solle, in der Luft. Auch Alkoholismus, von dem gerade ärmere Bevölkerungsschichten betroffen waren. Der enge Freund Theodor Storm schrieb seine Novelle Ein Bekenntnis, in der gleichfalls ein Arzt Sterbehilfe leistet. Um seine Tat – den Mord? – zu sühnen, flieht er nach Afrika, wo er Kranken medizinischen Beistand leistet. Heyse verfasste sein Trauerspiel. Es endet leider leichtfertig.»

«Wieder einmal: leicht fertig», murmelte Ortrud Vandervelt.

«Wer wusste damals schon», fuhr Bradford fort, «dass sich aus zaghaft diskutierter Sterbehilfe bald Programme zur Tötung missliebiger Menschen, dass sich daraus Massenmord entwickeln könnte und würde?»

«Man spielt nicht mit dem Leben.» Der Satz von Frau Bartholomäe stand unverrückbar und mächtig im Raum. «Niemals.»

«Ein Einakter … ein Denkanstoß», sann Antonia Silberstein am Geländer der Empore. «Was der Autor am Schreibtisch bejahte, können wir verneinen. – Sollte es irgendwann einmal zu einer großen Konferenz über ihn kommen, vielleicht sogar in einem geeigneten Zentrum, das seinem Werk und seinem Wirken gewidmet ist», sie taxierte wieder die nachträglichen Zwischenwände im Gebäude, «dann können von Gästen aus aller Welt, Studierenden, dem Publikum viele Schwerpunkte diskutiert werden. Heyse und der Tod – Heyse und die Liebe – Heyse und Italien – Vergessene Genies – Heyse und die Glanzzeit Münchens … Romantik digital … H. reloaded. HEY Heyse, ein interaktives Programm für die Jüngeren. Klappern gehört nun einmal zum Handwerk … Ja, eine ganze Palette von Gedanken und Gefühlen kann sich entfalten. Und jedermann wird unendlich bereichert.»

«Eine Palette entfaltet sich nicht. Sie ist einfach da», hörte man Vandervelt. «Starr. Meistens mit Farbe darauf.»

«Ich bin nicht die Wortkünstlerin. Und selbstverständlich muss der Münchner Literaturpreis nach ihm benannt werden.»

«Schon wieder ein Mann», vernahm man erneut.

«Nun denn, also Paul- und Anna-Heyse-Literaturpreis.»

«Es gibt für ihn nicht einmal eine Plakette am Haus», stellte Herr Bartholomäe fest. «Und sehr gut so. Sonst kämen noch mehr Leute hereingeschneit und trampelten durch die Beete.»

«Was wollen Sie eigentlich alle heute hier?», fragte die Konditorsfrau. «Das Abendbrot steht auf dem Tisch. Ich muss noch arbeiten. Und bald geht’s zu Bett.»

War jetzt der Moment, um den Mietern reinen Wein einzuschenken? Ein paar Monate lang könnten sie hier noch ungestört wohnen. Dann kämen die Architekten – vielleicht auch schon früher. Die scheußliche Mauer würde abgerissen, der Garten vorläufig planiert, das Grundstück nach hinten erweitert, die heiße Bauphase würde beginnen. Entkernung der Villa, Anrücken der Bagger und Kräne, Erdaushub für Keller und Untergeschoss, Fundamente für das Atrium, für die Stipendiatenwohnungen. Tiefgarage. Hochziehen der Wände für die Bibliothek, den Konferenzsaal, – die Lola-Montez-Bar. Solarenergie vom Dach, Mooswände zum Luftfiltern. In drei, vier Jahren könnte in Anwesenheit des Bundespräsidenten die Einweihung des Heyse-Zentrums stattfinden. Die Münchner Symphoniker würden Brahms’ Akademische Festouvertüre spielen. Sänger, der Chor der Staatsoper würden vertonte Verse des Nobelpreisträgers darbieten –

Gesegnet sei, durch den die Welt entstund;

Wie trefflich schuf er sie nach allen Seiten!

Er schuf das Meer mit endlos tiefem Grund,

Er schuf die Schiffe, die hinüber gleiten,

Er schuf das Paradies mit ew’gem Licht,

Er schuf die Schönheit und dein Angesicht.

Nach den Feierlichkeiten würde das Kulturzentrum seinen Betrieb aufnehmen.

Der Brunnen rauschte.

Nach ursprünglichem Mobiliar musste geforscht werden. Sein Schreibtisch. Es existierten Fotos von einigen Innenräumen. Die Halle mit ihrem Marmorboden, der Knabenbronze. Die Wandreliefs mussten rekonstruiert werden.

Ausstellungen. Mittwochs ermäßigter Eintritt.

Besucher von fern und nah. Schulklassen, die zuvor eine, zwei seiner Novellen durchgenommen und diskutiert hatten, L’Arrabbiata, Erkenne dich selbst, und nun das Heim des Verfassers aufsuchten.

Im Atrium das Tagescafé Sorrent.

Ein veganes Büffet.

Gewiss konnte man den Konditor dazu anregen, eine Heyse-Torte zu kreieren. Oder wurde sie, angesichts der Hingabe an den Urgeist dieses Hauses, längst bei den Gartenfesten serviert?

Der Süden wäre um ein Glanzlicht reicher.

«Was schauen Sie uns denn so mitleidig an?», erkundigte sich Frau Seishuber. Die Zehen in den Flip-Flops waren pastellfarben lackiert. «Wir hätten jetzt gern unsere Ruhe.»

Freundlich, aber deutlich wies sie der städtischen Kommission, oder was auch immer der Haufen darstellte, den Weg nach unten.

«Sie werden von uns hören.» Antonia Silberstein lächelte bemüht.

«Besser nicht», sagte Herr Deng. Auch er war bei fremden, netten Menschen, die sogar Theater spielten, noch niemals dermaßen ungebeten eingedrungen und wieder hinauskomplimentiert worden.