Die Villa

Wie es sich gehörte und doch rein zufällig, stiegen Professor Bradford und der Lebensgefährte zuerst die Treppe hinab. So konnten die Damen, falls sie ausrutschten und stürzten, von den Männern aufgefangen werden. Der Laptop, den beide abwechselnd schleppten, behinderte sie schon den gesamten Abend. Gingen Bradford und Deng gleich ins Hotel, oder machten sich die Erlanger zuerst noch ins einschlägige Nachtleben auf? Aus unerfindlichen Gründen setzte man ein gleichgeschlechtliches Leben mit sexuellem Hochbetrieb und unablässigen Eskapaden gleich. Aber vielleicht war niemand ruhebedürftiger als die beiden.

Immer noch seelisch derangiert folgte ihnen Ortrud Vandervelt. Sie dachte an Russland und den König Salomo. Ein Abgrund trennte sie jetzt vom konzentrierten Weiterschreiben am Entwurf von Stuckaturen der Stuckatur, worin sie auch ein offenes Abbild der gegenwärtigen Welt, ihrer Unübersichtlichkeit und Zerrissenheit, im Ganzen wie im Seelischen, gestalten wollte. Ein irrsinniges Unterfangen, das wusste sie. Doch auch ein Schriftstellerinnenleben war bemessen, und ein verwechselbares Vielerlei – ein Porträt der Großmutter, das Eintauchen in die Kindheit, Sprachlosigkeit zwischen Menschen, Nachwehen der deutschen Wiedervereinigung, eine Migrationsempörung – sollte nicht ihr Schaffen runden. Die Stuckaturen mussten kein Verkaufserfolg werden. Auch posthum konnte ein Künstler zu Ehren gelangen. Während des Schreibens durfte es keine Störungen geben, keine Ortstermine, nichts, das Leben musste langweilig und dünn dahinfließen, damit man sich dann in solcher Leere mit einem Becher Tee an den Schreibtisch setzen und nach einem geatmeten Om – bedachtsam ein Wort an das vorherige fügen könnte: Sie erwachte. Es war noch ein Zustand zwischen Traum und Badezimmer, für den es keinen Begriff gab, hier Ich, dort die Welt, die Macht und Ohnmacht beider noch ungeklärt. Furcht bestimmte allesDas Sterben ließ sich fürchten, der Tod nicht. Sie tappte barfuß vom Bett weg. O heiliger Ort der Wärme und des Nichts … Ihren heruntergerutschten Taschengurt zog Ortrud Vandervelt wieder über die Schulter. – Doch eine gute Zeit, in der man schreiben konnte. Ohne Literatur wäre die Welt bestenfalls halbwegs sortierter Staub. Und Autorinnen, Autoren mussten leiden, hatten Schweres zu erkennen. So wurde auch dieser lastvolle Abend vielleicht zu einem Gewinn, der sich jetzt noch nicht erkennen ließ. Stolz auf ihren Beruf, ihre Berufung hob Vandervelt den Kopf. Im Geröll, in der Sternenspreu der Menschheit, gehörte sie zu den leicht blinkenden Elementen, Wesen. Bereits ein Leser war ein Lohn, eine Genossin, die einer inneren Stimme lauschte, wissen wollte, Erkenntnis wollte. Noch war nichts, gar nichts verloren.

Die Stadträtin hinter ihr schnaufte auf den Stufen. Endlich ging auch der Antreiberin die Luft aus. Es war fraglich, ob dem so bleiben würde. Womöglich plante sie bereits eine Beratung mit dem Denkmalamt, einigen Architekten, Ingenieuren und Mitgliedern der Rathausfraktionen, vor allem dem Kämmerer.

In zehn Jahren mochten an diesem Ort tatsächlich Menschen in die Abendveranstaltungen strömen.

Ein Hund wuselte plötzlich zwischen ihren Beinen, kläffte spitz, stob wieder hinauf.

Mit heilem Fuß, Aircast und der Gehhilfe nahm Therese Flößer hörbar die Stufen der Holztreppe unter den Dichterporträts. Ein Ausgleiten der Bibliothekarin wäre das Schlimmste gewesen. Sie risse Stadtrat, Literatur und Experten mit in die Tiefe. Aber Flößer bewegte sich behutsam.

Von oben schauten die Mieter dem Entschwinden der Invasoren zu.

«Buona sera!»

Die Haustür stand noch offen. Kühl zog es von dort herein. Die Männerstimme kam aus diesem Abenddunkel.

Die Herabsteigenden hielten inne.

Die Mieter oben reckten ihre Köpfe.

Die Grünpflanzen grünten.

«Buona sera a tutti!»

Im Rahmen der Haustür erschien ein Herr, schon auf den ersten Blick äußerst gepflegt, groß, schlank, um die vierzig, in einem hellen, tadellosen, ja eleganten Anzug, dessen Stoff schimmerte.

«Posso presentami? Gian Galeazzo Grassi.» Er verbeugte sich kurz.

Neben ihm erschien eine Frau, noch ranker, noch eleganter in einem blauen Kostüm, mit brünettem Haar, das ihr, wie eben vom Coiffeur, bis auf die Schultern fiel, das Make-up perfekt.

«La Signora de Luca, la mia assistente e anche la mia interprete, Signora de Luca kanne Deutsch, ich nur wenig.»

«Buona sera», wünschte auch die Dolmetscherin.

«C’è anche la signora Silberstein?»

Mit einem Blick bat Herr Grassi seine Begleiterin um Hilfe.

Sie nickte und wunderte sich, wie auch er, offenbar nur mäßig über die Schar auf der Treppe.

«Wir wollten uns das Grundstück ansehen», sagte die Frau, «für einen Eindruck.» Sie übersetzte für Herrn Grassi ins Italienische und fuhr fort: «Und wir wollten natürlich Signora Silberstein sprechen.»

«Mich?», fragte die Angesprochene zurück.

«Ja.»

«Si», betonte Herr Grassi noch einmal.

«Im Rathaus teilte uns ein Signor Kinnz… meierl mit, dass Sie hier wären.»

«Meglio ancora. Perfetto. Che fortuna!», begeisterte sich der Italiener. – Gian. Obendrein Galeazzo? Wohlklingender konnte man kaum heißen.

«Signor Grassi dirige l’ufficio del turismo, leitet das Tourismusbüro der Kommune von Gardone Riviera», erklärte die Signora. «Sein Urgroßvater war sogar Nachbar von Paul Heyse.»

«Si, Paolo Heyse, il grande poeta, molto famoso. Poeta per metà italiano che canta le lodi del nostro lago di Garda. Jeder am Gardasee kennt Paolo Heyse.»

«Paul Heyse war fast ein italienischer Dichter, meint Signor Grassi. Das Licht, der Glanz –»

«La dolcezza!»

«Die Süße, die Leidenschaft seiner Dichtung sind italienisch, mediterran. Unser Tourismusbüro wird ihre neue Website mit seinen Versen eröffnen.»

«Come il lago posa ridente!

Neanch’ un’onda vedi fluttuare.

Di sfaccettati cristalli appare

l’acqua di smeraldi rilucdente»,

sang Signor Grassi fast. Es mochte auch die Melodik der Sprache sein.

Die Assistentin und Dolmetscherin strich ihr Haar zurück. «Und Paul Heyse, vielleicht der bedeutendste Bewohner von Gardone Riviera, der Nobelpreisträger, wird zu wenig geehrt.»

«Troppo poco. Dobbiamo liberarlo dall’oblio.» Signor Grassi wirkte entschieden.

«Die Kommune von Gardone Riviera hat sich entschlossen, das zu ändern.» Signora de Luca trug High Heels. «Und deshalb wollen wir mit der Kommune von Monaco di Baviera, von München verhandeln, Signora Silberstein.»

Die Miene der Stadträtin war nicht zu entschlüsseln. Aber vermutlich verbarg sie eine Mischung aus Perplexität und Ratlosigkeit.

«Alles Nähere und sämtliche Details», de Luca lächelte, «sollen und müssen natürlich noch genau und in Ruhe besprochen werden.»

Grassi bejahte.

«Es ist eine ganz große Sache und beinahe auch ein Politikum.»

Weder Antonia Silberstein noch sonst jemand begriff.

«Gardone Riviera wird die Villa von Paul Heyse, dieses wundervolle Gebäude mit Garten, Grottenrondell und dem Pavillon am See, zu einem Centro culturale di Paul Heyse machen. Schon nachdem er fortgezogen war, war es für eine Weile ein Erholungsheim für deutsche Schriftsteller.»

«Was?», entfuhr es Silberstein.

«Alle Welt kann dort wieder zu Gast sein, im Museum, mit Konferenzen. Ein Treffpunkt für viele und für Touristen.»

«Si, suprattutto per i turisti tedeschi.» Obwohl er offenbar kaum Deutsch sprach, verstand Signor Grassi einiges.

«Das Ganze ist teuer. Aber es dient der Kultur und der Völkerverständigung, am herrlichen Gardasee. Wir möchten auch unser Casino mit seinem Saal einbeziehen. Festspiele. Wie Salzburg. Publikum wird herbeiströmen.»

Gian Galeazzo Grassi, mit dunklem, exakt gescheiteltem Haar und offenbar einem künstlichen Glanz darüber, ein schöner Mann, strahlte glücklich erfüllt und lauschte seiner ebenso vollendeten Begleiterin.

«Das Centro Paul Heyse wird in zwei, drei Jahren eröffnet werden. Aber wir wollen gerne verhandeln. Er ist auch ein deutscher, ein europäischer Schriftsteller. Die Kommune, scusi, die Gemeinde von Gardone Riviera stellt das Gebäude und das Grundstück zur Verfügung.»

Signor Grassi lächelte verbindlich.

«Laufende – wie sagt man korrekt? – Betriebskosten sind eine eigene Sache. Unsere Frage geht dahin, ob und in welchem Umfang die Gemeinde von München sich am Centro, am Zentrum beteiligen will? Wir hätten ein paar Vorschläge.»

«Si. Benissimo.»