Samstag

Ein Wüstenerlebnis

Wochenlang hat Jule auf den Sommer gewartet. In diesem Jahr war das so eine Sache mit dem Wetter: Erst war ein zaghafter Frühling zu spüren, dann war der April sehr launisch und vor allem windig, ungemütlich. Dann kam nach einer kurzen Sonnen-Zeit eine sechs Wochen andauernde Regenzeit über das Land. Der halbe Mai und der gesamte Juni total verregnet. Nicht kalt, aber nass. Und im Juli war das Wetter mäßig. Aber da war ja noch Schule.

Und dann die Freude: Am letzten Schultag schien die Sonne, es hatte 25 Grad und die Kinder waren selig, wollten mehr dieses schönen Wetters haben! Und nun ist schon die dritte Woche tolles Wetter, immer zwischen 28 und 32 Grad heiß, der Himmel blau, die Freibäder zum Bersten voll. Die Erwachsenen sind nicht mehr so begeistert, vielen ist zu warm und sie finden, es könnte mal abkühlen. Nicht so Jule. Sie fährt erst im September mit ihrer Familie in den Urlaub, weil ihre Eltern im August noch arbeiten müssen. Also liegt sie jeden Tag stundenlang im Halbschatten des Gartens und liest. Gerade hat Jule ein spannendes Wüstenabenteuer zu lesen begonnen. Es wird von einem jungen Mädchen erzählt, das in der Wüste lebt und mit seiner Familie – Nomaden – unterwegs ist, um Wasser und einen neuen Lagerplatz zu suchen. Sina heißt das Mädchen in der Geschichte. Sina ist das älteste Kind ihrer Eltern und muss, obwohl sie erst neun Jahre alt ist, schon eine Menge Verantwortung tragen, sie ist zum Beispiel für die Tiere – eine Herde Ziegen und ein Kamel – zuständig. Jeden Tag muss sie die Tiere zu einer Wasserstelle führen, damit sie trinken können. Die Tiere sind das Kapital der Familie und sehr wichtig, die Verantwortung ist riesig. Sina hat an diesem Tag Probleme eine Wasserstelle zu finden, die Tiere drängen in eine Richtung, als scheinen sie das Wasser zu wittern, zu spüren, wo es das lebendige Nass zu finden gibt. Und Sina ergibt sich, lässt sich von den Tieren führen. Die Zunge klebt ihr am Gaumen, die Augen flimmern, sie spürt kaum noch ihre Füße und Beine nach dem langen Marsch. Und kein Ende in Sicht, die Wüstensonne knallt unbarmherzig vom Himmel.

Jule hält inne – sie fühlt sich, als wäre sie Sina! Ohne dass sie es bemerkt hat, ist der Schatten des Apfelbaumes so weit gewandert, dass sie seit geraumer Zeit in der prallen Sonne liegt. Ihre Haut sieht rötlich aus, sie ist total erhitzt, die Gedanken flirren, der Kopf drückt, sie hat großen Durst. Sie kann Sinas Situation plötzlich sehr gut nachvollziehen. Nur einen Gedanken hat Jule: Schnell in den Schatten! Das ist gar nicht so leicht getan wie gedacht – als Jule versucht aufzustehen, wird ihr schwindelig, sie muss kurz inne halten. Dann wankt sie zur Terrasse, setzt sich in den Schatten und trinkt von dem Wasser, das dort in einem Krug bereit steht. Sehr erleichternd, wie das kühle Wasser durch ihre Kehle fließt, Jule genießt das Gefühl zum ersten Mal sehr bewusst. Es scheint, als würde jede Zelle ihres Körpers das Wasser aufsaugen wie eine vertrocknete Blume. Ein sehr intensives Gefühl ist das.

Gut, dass es nicht nur Sonne, sondern auch Schatten gibt.

151_jule%20unterm%20baum.tif