Samstag

Nikolaus

Heute ist der 6. Dezember. Anna weiß genau, was das für ein Tag ist: Es ist der Nikolaustag! Und weil sich Anna so auf den Nikolaus freut, ist an diesem Tag von Anfang an alles anders:

Normalerweise steht Anna morgens nicht gleich auf, sondern bleibt noch ein bisschen im Bett liegen und blättert in einem Buch. Aber heute ist sie schon lange wach, bevor der Wecker ihrer Eltern klingelt. Sie schlüpft aus dem Bett und schleicht auf ihren dicken Wollsocken durch die dunkle Wohnung – ob der Nikolaus wohl schon da war und etwas gebracht hat?

Im Wohnzimmer stehen ihre Winterstiefel, die sie am Vortag sauber geputzt und aufgestellt hat. Und tatsächlich: Beide Stiefel sind bis oben hin gefüllt mit Nüssen, Mandarinen und Äpfeln und in einem der beiden Stiefel steckt obendrein ein riesengroßer Schokonikolaus, der in glänzendes Papier gewickelt ist. Anna macht einen kleinen Freudenschrei. Nach dem Frühstück, packt sie die vielen Nikolausgaben auf einen großen Teller, schließlich braucht sie die Winterstiefel, um in die Schule zu gehen, denn draußen ist es schon recht kalt.

Anna geht in die erste Klasse. Auf dem Weg zur Schule erzählt sie ihrer Freundin Julia von ihrem Nikolausgeschenk. Julia hat noch nichts bekommen. Zu ihr und ihren beiden Geschwistern kommt der Nikolaus am Abend. Das haben ihre Eltern gesagt. Julia freut sich schon.

In der Schule bekommen alle Kinder von ihrer Lehrerin einen roten Apfel und Nüsse. Im Morgenkreis erzählt die Lehrerin vom heiligen Nikolaus: Er hat vor langer, langer Zeit in der heutigen Türkei gelebt und anderen Menschen, denen es nicht so gut ging, immer geholfen. Einmal hat er einem armen Mann drei goldene Äpfel geschenkt, damit dieser seine drei Töchter gut verheiraten konnte. Damals konnten nur reiche Mädchen gute Ehemänner bekommen. Anna staunt nicht schlecht. Sie ist froh, dass ihre Eltern nicht arm sind.

In der Pause sagt Jan, eine Junge aus Annas Klasse, dass es den Nikolaus gar nicht gibt. Er behauptet, die Erwachsenen würden den Kindern Geschenke machen. Und die Nikoläuse, die auf dem Adventmarkt unterwegs sind, seien nur verkleidete Männer und Frauen. Anna ist sich aber sicher, dass es den Nikolaus gibt. Schließlich hat sich ihre Lehrerin die Geschichten nicht nur ausgedacht! Julia sagt nicht viel, sie ist sich nicht sicher, was sie glauben soll.

Auf dem Heimweg sind Julia und Anna sehr schweigensam. Anna denkt darüber nach, was Jan gesagt hat. Gibt es nun den Nikolaus oder nicht?

Beim Mittagessen erzählt Anna von der Nikolausfeier in der Schule. Und dann fragt sie ihre Mutter: »Der Jan hat gesagt, es gibt keinen Nikolaus. Er hat gesagt, dass die Geschenke von den Erwachsenen kommen und nicht vom Nikolaus. Aber die Frau Lehrerin hat uns eine Nikolausgeschichte erzählt. Und was die Frau Lehrerin sagt, muss doch stimmen, oder?«

Annas Mutter hört ihrer Tochter aufmerksam zu. Dann sieht sie ihr fest in die Augen und meint: »Die Legenden vom heiligen Nikolaus hat sich die Frau Lehrerin nicht einfach so ausgedacht, die gibt es wirklich. Die haben schon meine Lehrerinnen in der Schule erzählt. Sie stehen sogar in verschiedenen Büchern.« Anna löffelt ihre Suppe und denkt nach. Ihre Gedanken sind etwas durcheinander geraten. Ihre Mutter denkt auch nach, und schließlich fragt sie: »Was denkst du denn eigentlich, Anna?« Anna weiß es selbst noch nicht genau, sie muss noch ein bisschen nachdenken. Sie zuckt mit den Schultern.

Als sie ihren Schokopudding isst, findet Anna die Antwort und sie erklärt ihrer Mutter: »Weißt du, vielleicht stimmt ja alles: Die Geschichten vom Nikolaus gibt es. Das hast du ja gesagt. Aber es gibt da ja nur einen einzigen Nikolaus. Und es sind so viele Kinder, die etwas bekommen wollen. Wahrscheinlich helfen die Erwachsenen dem Nikolaus ein bisschen, damit er die ganze Arbeit nicht alleine machen muss!« Anna lächelt zufrieden. Endlich hat sie ihre Antwort gefunden.

Hinweis für Erwachsene:

Wenn wir mit Fragen von Kindern konfrontiert werden, so ist es für uns verlockend, den Kindern einfach die Antworten zu geben. Wir wollen, dass die Kinder Bescheid wissen, wollen sie »aufklären«. In manchen Bereichen der kindlichen Er-Lebenswelt ist es sinnvoll, den Kindern Anstöße zum eigenständigen Nachdenken zu geben, und sie dadurch ihre eigenen Erklärungsansätze entwickeln zu lassen. Die teilweise fantasievollen Antworten, die Kinder finden, sind oft nicht weit von unseren Erklärungen entfernt. Das Überlegen und Nachdenken stärkt die kindliche Problemlösefähigkeit und die Antworten, die Kinder finden, entsprechen ihrer Seele mehr, als unsere klugen Erklärungen.

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