D rei Wochen nach der Konferenz, während der ich Darrell kennengelernt hatte, legte ich auf dem Weg zum Kopierraum einen Zwischenstopp an Karens Schreibtisch ein. Sie schaute erfreut von ihrem Bildschirm hoch und rollte auf ihrem Stuhl nach hinten. Auf einer Serviette neben ihrem Mousepad lag ein angebissener Donut, und überall war Zucker verstreut. Ihr Schreibtisch war das komplette Gegenteil von meinem.
»Ich hab einen Verehrer«, begann ich ohne Umschweife.
Karen machte vor Entzücken große Augen, als hätte sie gerade etwas noch Köstlicheres probiert als das süße Gebäckstück neben sich. »Echt?«, hauchte sie aufgeregt und bedeutete mir, mich ein wenig näher zu ihr herabzubeugen. »Und was macht ihr so zusammen, und, noch wichtiger, mit wem machst du es?«
»Wie bitte?«
»Ich möchte unbedingt intime Details!«, sagte sie und wedelte dann aufgeregt mit den Armen, weil ihr ein neuer Gedanke gekommen war. »Oh, ist es Paul?«
»Welcher Paul?«
»Der extrem durchtrainierte Typ, der seit Neuestem bei der Poststelle arbeitet, du weißt schon, der mit dem Oberkörper wie der Kerl in der Cola-Light-Werbung.«
Ich schüttelte den Kopf und hatte das Gefühl, aus Versehen in einem anderen Universum gelandet zu sein. Es war schwer zu entscheiden, welche von Karens zahlreichen Fehlannahmen ich als Erstes korrigieren musste.
»Zum einen hab ich keine Ahnung, wer dieser Paul ist. Und zum andern bahnt sich bloß was an, ich war mit niemandem im Bett.«
Karen lehnte sich wieder an das abgewetzte graue Polster ihres Bürostuhls und wirkte einen Augenblick lang schwer enttäuscht, bis sie über meine Antwort nachgedacht und offenbar beschlossen hatte, dass das Ganze immer noch weit interessanter war als die Arbeit, mit der sie vor meiner Unterbrechung beschäftigt gewesen war.
Mit einem Kopfnicken deutete sie auf den leeren Stuhl ihres Kollegen. »Eric ist in einer Besprechung«, erklärte sie. »Setz dich und erzähl mir alles .«
Ich nahm Platz und rollte ein Stück näher zu ihr, obwohl ich nicht annahm, dass irgendjemand – außer ihr – auch nur im Entferntesten an meinem Liebesleben interessiert war. »Also, angefangen hat es mit den Blumen – vor ein paar Wochen, als ich aus der Mittagspause kam, stand ein wunderhübscher Strauß mit zwölf Gerbera auf meinem Schreibtisch. Dann sind die Pralinen gekommen, eine Schachtel mit zwanzig von diesen winzigen weißen belgischen, von denen doch kaum jemand weiß, dass ich die am allerliebsten mag, und dann …«
»Meine Güte, du hast wirklich nichts von deiner Mutter gelernt, oder? Ich will keine Auflistung, sondern eine Geschichte! Wer schickt dir das Zeug?«
Ich überlegte, ob ich meine Antwort hinauszögern sollte, denn ihre Bemerkung über meine Mutter hatte mich schon ein bisschen getroffen. Aber was brachte es einem, wenn man Neuigkeiten hatte und sie niemandem erzählte? »Tja, das ist genau der Punkt. Am Anfang hatte ich keinen blassen Schimmer. Bei den ersten beiden Geschenken war keine Karte dabei.«
»Und wie sind die auf deinen Schreibtisch gekommen?«
»Wahrscheinlich hat sie jemand von der Poststelle hochgebracht«, spekulierte ich.
»Paul vielleicht?«, fragte Karen hoffnungsfroh, weil ihr der attraktive Kollege immer noch im Kopf herumspukte.
Ich lächelte geheimnisvoll und beugte mich näher zu ihr heran. »Ich hatte tatsächlich einen leisen Verdacht, wer der Absender sein könnte, aber erst beim dritten Geschenk letzte Woche war ich mir so gut wie sicher.«
»Und was war dieses dritte Geschenk?«
»Eine Literflasche Evian mit einem Geschenkanhänger, auf dem Trink mich stand.«
»Gott, ich hoffe, das hast du nicht gemacht!«, rief Karen. »Wer weiß, was der da reingemischt hat.«
»Warum sollte jemand so was tun?«
»Also echt, liest du denn gar nichts außer der Financial Times? «, fragte sie kopfschüttelnd.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und runzelte die Stirn, denn ich war immer noch enttäuscht über die Reaktion meiner Freundin. »Da hat niemand was ins Wasser reingemischt und auch nichts in die Pralinen. Und außerdem, als die Theaterkarten kamen, war ich mir ganz sicher, wer dahintersteckt.«
»Bitte sag jetzt nicht, dass du zum Theater spaziert bist, um da irgendeinen heimlichen Verehrer zu treffen, der ein Axtmörder oder sonst was hätte sein können.«
»Was hast du eigentlich dauernd mit deinen Axtmördern?«
Karen schüttelte den Kopf. »Suzanne, wenn du mir jetzt nicht endlich erzählst, wer dieser geheimnisvolle Unbekannte ist, dann wirst du wahrscheinlich nicht lange genug leben, um noch was von deinem Verehrer oder Mörder zu haben.«
»Darrell«, sagte ich, und obwohl ich versuchte, mich zu beherrschen, breitete sich irgendwie ganz wie von selbst ein breites Grinsen auf meinem Gesicht aus.
»Wer ist Darrell?«
»Der Typ, den ich vor drei Wochen während der Tagung kennengelernt hab.«
»Der Macker, der dich zu deinem Zimmer hochgebracht hat? Der ein Vergewaltiger hätte sein können?«, fragte sie, leider laut genug, dass es die Kollegen an den Schreibtischen in unmittelbarer Nähe hören konnten. Ein paar von ihnen hoben den Kopf, und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.
»Der Macker, der eigentlich ein echter Gentleman war, der mir ein paar Drinks spendiert und dann dafür gesorgt hat, dass ich sicher zu meinem Zimmer gefunden habe«, korrigierte ich sie nachdrücklich. Irgendwas in meiner Stimme musste meiner langjährigen Freundin bewusst gemacht haben, dass dieser Running Gag mit dem Axtmörder inzwischen einen ziemlich langen Bart hatte.
»Sorry«, sagte sie reuig und klang trotzdem noch immer ziemlich besorgt. »Dieser Typ, den du in der Bar kennengelernt hast, hat also irgendwie rausgefunden, wo du arbeitest – und wir lassen jetzt mal beiseite, dass das doch sehr an Stalking grenzt –, hat dich mit Geschenken bombardiert und einen Theaterbesuch mit dir eingefädelt? Findest du das nicht ganz schön heftig?«
Für jemanden, der ein paar Minuten zuvor noch höchst angetan war von dem Gedanken, ich könnte mit dem Mann von der Poststelle verbandelt sein, war ihre mangelnde Begeisterung jetzt doch etwas enttäuschend, und ich fragte mich, ob sie wohl ein kleines bisschen eifersüchtig war. Mehr als einmal hatte sie sich schließlich bei mir über die fehlende Romantik und Spontanität in ihrer eigenen, schon länger bestehenden Beziehung beschwert.
»Es war nicht heftig. Eher sehr lieb von ihm. Wir sind gestern ausgegangen und hatten einen echt tollen Abend.«
Es war unmöglich, Karen weiter böse zu sein, dafür waren wir schon zu lange befreundet. Aber ich war trotzdem noch ein bisschen angefressen, als Eric ein paar Sekunden später zurückkam und seinen Stuhl einforderte.
»Wir können das ja beim Mittagessen weiter besprechen«, schlug Karen vor und wandte sich mit sichtlicher Enttäuschung wieder ihrem Bildschirm zu.
Ich nickte und ging Richtung Kopierraum. Ich wusste bereits, dass in dem Restaurant, wo wir heute essen wollten, die Steaks nicht das Einzige sein sollten, was dort gegrillt werden würde.
Es brauchte ein paar weitere Verabredungen zu zweit und eine Reihe von Unterhaltungen, bei denen Karen einem spanischen Inquisitor Konkurrenz machte, bevor sie mir und Darrell ihren Segen erteilte. Allerdings muss ich sagen, dass er sich auch nach Kräften bemühte, wann immer wir mit ihr und ihrem Freund zusammen ausgingen. Darrell war charmant, lustig und stets der Erste an der Bar, um dort eine Runde auszugeben oder diskret die Rechnung für alle zu begleichen. Aber nichts davon beeindruckte Karen. Was am Ende den Ausschlag gab, war etwas viel Einfacheres. »Es ist die Art, wie er dich ansieht«, hatte sie zugegeben, als wir einmal während der Mittagspause einen kleinen Einkaufsbummel machten. »Wie aufmerksam er dich anschaut, wenn du auf ihn zugehst oder was sagst. Und wie er über deine Witze lacht, auch wenn du die Pointe vermasselst – was dir übrigens echt oft passiert.«
Ich hatte vor mich hin gelächelt, abwesend das Preisschild an einem Stück seidig glatter Unterwäsche betrachtet und überlegt, ob ich Darrell besser in diesem Teil oder ohne es gefallen würde.
Karen bemerkte meinen entrückten, träumerischen Blick und schaute dann zu dem Dessous, das an seinem winzigen Bügel an meinem Finger baumelte. »Du bist wirklich auf dem besten Weg, dich in ihn zu verlieben, was?«
Ich spürte, dass ich wie ein Teenager errötete, und nickte. »Schon möglich«, gab ich zu.
»Auch wenn das alles so schnell geht und du ihn noch gar nicht richtig kennst?«
»Ich kenn ihn gut genug. Ich weiß, wie wohl ich mich in seiner Gegenwart fühle.«
Kopfschüttelnd begleitete mich Karen zur Kassenschlange. »Was ist mit dieser verrückten Ex von ihm, von der er nie irgendwelche Einzelheiten erzählen will?«
Ich reichte der Kassiererin meine Karte und wartete, während sie das zarte Stück Wäsche zusammenfaltete und es in scharlachrotes Seidenpapier einwickelte. »Er will halt nicht über sie reden. Na und? Das kann man ihm kaum zum Vorwurf machen. Sie hatten ganz offensichtlich eine ziemlich unschöne und traumatische Trennung. Ich verstehe sehr gut und respektiere es, dass er nicht jedes kleinste Detail seiner Vergangenheit mit dem Rest der Welt teilen möchte. Ich binde ja auch nicht jedem auf die Nase, wer meine Mutter ist.«
Karen schüttelte missbilligend den Kopf, vielleicht – oder vielleicht auch nicht –, weil sie gesehen hatte, wie viel ich gerade für ein winziges Nichts mit Spitze hingeblättert hatte. »Eine berühmte Schriftstellerin als Mutter zählt nun nicht gerade als dunkle oder geheimnisvolle Vergangenheit – wobei ich übrigens immer noch nicht verstehe, warum du das unbedingt geheim halten willst. Wenn sie meine Mutter wäre, würde ich das überall herumposaunen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, als würde sie die nächste Bemerkung sorgfältig abwägen, weil sie bereits wusste, wie wenig sie mir schmecken würde. »Wenn du und Darrell da was Ernsthaftes laufen habt, wenn das wirklich was Ernstes werden soll, dann ist es dein gutes Recht, gewisse Fragen zu stellen. Du weißt, zu einer Trennung gehören immer zwei. Vielleicht ist Darrell auch zu einem Teil verantwortlich dafür, wie unschön die Sache geendet hat.« Die letzten Worte kamen ihr zögerlich über die Lippen, weil sie bereits wusste, wie verstimmt ich darauf reagieren würde.
»Ich will einfach nicht, dass du bei dem Ganzen auf die Nase fällst«, hatte Karen kleinlaut gesagt, als wir das Geschäft verließen und uns auf den Rückweg ins Büro machten. »Ich weiß, Darrell kommt dir im Moment wie der ideale Partner vor – und verdammt, vielleicht ist er ja auch genauso toll, wie es scheint –, aber ich gehe jede Wette ein: Was auch immer da zwischen ihm und seiner Ex-Freundin passiert ist, sie sieht das bestimmt völlig anders.«
Ich drückte den Knopf an der Ampel und runzelte unwillkürlich die Stirn, weil das kleine rote Männchen uns anwies zu warten, obwohl ich einfach nur weiterlaufen und Karen mit ihren vernünftigen Argumenten hinter mir auf dem Gehweg stehen lassen wollte.
»Manchmal muss man im Leben seinem Instinkt vertrauen«, sagte ich entschlossen, um klarzustellen, dass Darrells ominöse Ex ein Thema war, das ich nicht weiter diskutieren wollte. »Ich bin gerade zufriedener als in den ganzen letzten Jahren. Kannst du dich nicht einfach für mich freuen?«
Karen machte den Eindruck, als sei sie hin- und hergerissen, doch letztlich war das, was uns beide verband, stärker als alle ihre Zweifel und Vermutungen. Als das grüne Männchen aufleuchtete, hakte sie sich bei mir unter. »Doch, klar, Süße.«
Meine Mutter erwies sich als weitaus härtere Nuss. Selbst heute, wo sie mir aus heiterem Himmel mein Hochzeitskleid bezahlt hatte, waren ihr ihre Bedenken deutlich anzumerken. Auch wenn sie versuchte, sie zu verbergen, sah ich sie trotz der schwachen Beleuchtung in dem kleinen Bistro, wo wir zum Mittagessen eingekehrt waren, immer noch in ihren Augen.
»Vielleicht sollte ich lieber nur was Leichtes bestellen«, überlegte sie laut, während sie die Speisekarte studierte, »wir gehen ja heute Abend noch mal essen.«
»Ich glaube, in dem Restaurant, das Darrell ausgesucht hat, gibt es kunstvoll angerichtete Mini-Portionen«, sagte ich und bemühte mich, nicht auf die Gedankenblase zu achten, die plötzlich über dem Kopf meiner Mutter aufgetaucht war und in der in großen Lettern das Wort »Aufschneider« stand. »Das ist so einer von den Schuppen, wo man hinterher bei McDonald’s einfällt, weil man immer noch Riesenhunger hat.« Meine Mutter sah mir fest in die Augen. »Er will einfach nur einen guten Eindruck machen«, schob ich beschwichtigend hinterher.
»Überzogen große Gesten von Männern beeindrucken mich schon lange nicht mehr«, entgegnete sie. Ich wusste bereits, worauf sie hinauswollte. »Dafür hat dein Vater gesorgt.«
Glücklicherweise wurde unsere Unterhaltung durch eine junge, freundlich aussehende Kellnerin unterbrochen, die energiegeladen an unserem Tisch aufgetaucht war und ihren kleinen Notizblock wie eine Laserpistole zückte. »Haben Sie sich schon entschieden, oder brauchen Sie noch einen Moment?«
»Ich hätte gern die Pasta, bitte«, sagte ich und reichte der Kellnerin meine Karte.
»Und ich nehme den Salat mit Hähnchenbrust«, antwortete meine Mutter, nachdem sie die Auswahl überflogen hatte.
Ich musste an das Kleid denken, das bei Fleurs hing und das ich erst an meinem Hochzeitstag wieder sehen würde, und fragte mich, ob ich meine Bestellung noch einmal ändern sollte. Es hatte mir perfekt gepasst, ließ keinen Spielraum für Gewichtszunahmen oder -abnahmen. Ich schüttelte den Kopf und begrub die kleine Sorge wieder unter den weit größeren, beunruhigenderen Sorgen. Das Brautkleid war eigentlich das Einzige an der Hochzeit, worüber ich mir keine Gedanken machte.
»Also, wusstest du schon, dass Dad Ende der Woche wieder im Lande ist?«
Das Lächeln, das meiner Mutter nach der Unterhaltung mit der Kellnerin noch auf den Lippen gelegen hatte, wurde jetzt eisig. Es war, als würde man dabei zusehen, wie ein Thermometer fiel. »Das bedeutet dann wohl, du hast es dir nicht noch mal anders überlegt und ihn eingeladen?«
Vor ein paar Wochen hatte Darrell mir fast wortwörtlich dieselbe Frage gestellt. Welch eine Ironie des Schicksals, dass meine Mutter und mein Verlobter in diesem Punkt ganz auf einer Linie waren.
»Was auch immer früher gewesen ist, er ist schließlich mein Vater. Ich weiß, er hat viele Meilensteine in meinem Leben nicht miterlebt, und ich will nicht behaupten, dass ich ihm das jemals ganz verzeihen werde, aber ihn nicht zu meiner Hochzeit einzuladen, ihm nicht mal die Chance zu geben, an dem Tag dabei zu sein, das würde mir … nicht richtig vorkommen. Ich will, dass meine beiden Elternteile dabei sind.«
Sobald ich das Darrell gegenüber ausgesprochen hatte, hatte ich mir natürlich sofort gewünscht, ich hätte es zurücknehmen können. Ich fühlte mich furchtbar wegen meiner Gedankenlosigkeit. Wegen des dummen und mysteriösen Streits, den er mit seinen Eltern gehabt hatte, wollte kaum jemand aus Darrells Familie bei unserer Hochzeit anwesend sein. Schlimmer noch, fast alle seine früheren Freunde hatten offenbar noch Kontakt zu seiner Ex, und somit würden auch sie nicht kommen, aus Loyalität ihr gegenüber.
»Meinst du nicht, das wäre eine prima Gelegenheit, deinen Eltern die Hand zu reichen, alte Wunden zu heilen und das alles hinter dir zu lassen?«, hatte ich vorsichtig gefragt, allerdings weitgehend im Dunkeln tappend, denn ich hatte keine Vorstellung, was in aller Welt eine so unüberbrückbare Kluft geschaffen haben könnte. Doch wann immer ich das Thema anschnitt, reagierte Darrell angespannt und ablehnend. Was da zwischen ihnen vorgefallen sein mochte, es hatte zu so viel Groll und Verletzungen geführt, dass ich jedes Mal schnell das Thema wechselte.
Wenn man meiner Mutter gegenüber ihren Ex-Mann erwähnte, dann war ihr kein Schmerz anzusehen, sondern bloß die Art von Irritation, die man etwa einer Wespe gegenüber empfindet, die dauernd um den Picknickkorb herumschwirrt und die gute Stimmung zu verderben droht.
Auch wenn ich mich gelassen gab, als ich Karen erzählte, dass ich jemanden datete, war meine ganze Beziehung mit Darrell eine Reihe von Sprüngen ins Ungewisse gewesen. Und das war sie in gewisser Weise immer noch. Den ersten Kopfsprung ins Ungewisse hatte ich gemacht, als ich die Theaterkarte aus dem Umschlag zog und beschloss, den mysteriösen Mann zu treffen, der mir heimlich nachstellte.
Wie so viele Single-Frauen hatte ich schon einige Blind Dates hinter mir, aber dieses hier kam mir anders vor – vielleicht eher wie einäugig als vollkommen blind. Ich stand viel zu früh vor dem Theater, was nicht überraschend war. Darrell (oder möglicherweise jemand ganz anderes ) hatte den Termin auf ein kleines Post-it geschrieben, das ans Ticket geklebt war: Wir treffen uns um 19 :15 Uhr an der Abendkasse . An seiner Schrift war nichts Beunruhigendes, die stark nach links geneigten Buchstaben waren für mich kein Warnsignal, auch nicht sein schwungvoller Querstrich beim T und bei den Fs. Und doch lief mir jedes Mal, wenn ich die Notiz betrachtete, ein Schauder den Rücken hinab, es war ein Gefühl, das ich nicht genau benennen konnte.
Vor dem Eingang des Theaters standen eine Menge Leute herum, Pärchen und größere Gruppen, aber keine Männer ohne Begleitung. Kein Darrell in Sicht. Würde sich jemand die Mühe machen, herauszufinden, wo ich arbeitete, mir Geschenke schicken und dann nicht aufkreuzen? Anstatt zu warten, beschloss ich, zehn Minuten lang eine Runde um den Block zu drehen. Die Erinnerung, wie ich mit siebzehn mal versetzt worden war, kam wieder hoch, sie war über die Zeit nicht verblasst – auch wenn es schon gut fünfzehn Jahre her war, dass ich abends allein vor dem Kino stand und selbst dann noch wartete, als der Film längst begonnen hatte. Das Erlebnis hatte sich weit tiefer eingeprägt als das Gesicht oder der Name des Jungen, der es sich damals anders überlegt hatte.
Aber Darrell hatte mich nicht versetzt.
Als ich mich zum zweiten Mal dem Theater näherte, raste mein Puls, als wäre ich die Strecke gesprintet – was in den Absatzschuhen, die ich trug, physikalisch unmöglich gewesen wäre. Meine Nerven waren angespannt wie Violinsaiten. Dort stand jemand. Ein Mann. Er hatte mir den Rücken zugewandt, und im künstlichen Licht der Straßenlaternen war unmöglich zu erkennen, ob sein Haar denselben Farbton hatte wie das des Mannes aus dem Hotel. Der mir Drinks ausgegeben und mir das Gefühl vermittelt hatte, lustig, interessant und – zum ersten Mal seit einiger Zeit – auch ein bisschen sexy zu sein.
Ich empfand gleichzeitig Übelkeit und Aufregung, verlangsamte meine Schritte und blieb schließlich stehen. Obwohl ich wusste, dass er das Klacken meiner Absätze auf dem Asphalt nicht gehört haben konnte, wurde seine Haltung plötzlich aufrechter, und er wandte sich zu mir um, als hätte ich ihn beim Namen gerufen. Sein Lächeln hatte maximale Wattzahl, noch bevor er die 180 -Grad-Drehung beendet hatte. Er blickte mich freundlich und mit Lachfältchen in den Augenwinkeln an und strahlte übers ganze Gesicht, so offen und authentisch, dass auch die letzte Spur von Nervosität von mir abfiel.
»Du bist gekommen«, sagte er sichtlich erfreut und hielt mir seine Hand hin, mit der Innenseite nach oben. Es schien mir das Natürlichste von der Welt, meine Hand in seine zu legen. Wir hatten Mitte Oktober, und abends kühlte es sich rasch ab, doch ich spürte einzig die Wärme seiner Finger, die sich um meine schlossen. Er machte eine Kopfbewegung zum Theater hin. »Gehen wir doch rein.«
Ich nickte und ließ mich von ihm die drei flachen Marmorstufen zum Eingang hinaufführen. Den ganzen Weg bis zu unseren Plätzen hielt er meine Hand, und auch während der ersten Hälfte der Vorstellung. Dass er mit dem Daumen über die empfindliche Haut meiner Handfläche strich, machte es mir schwer, mich auf das Stück zu konzentrieren, und auch normales Atmen wurde unter diesen Bedingungen zu einer ganz neuen, interessanten Herausforderung.
Darrell war offensichtlich sehr taktil veranlagt, das war bereits klar, als er mir in der Pause, auf dem Weg die Treppe hinunter zur Bar, die Hand tief unten auf den Rücken legte. Dort angelangt, ergriff er wieder meine Hand und bahnte sich mit mir den Weg durch das Gedränge in eine ruhige Ecke, wo ein Sektkühler mit Eiswürfeln und einer Flasche Champagner wartete, daneben zwei Sektgläser und ein kleines Kärtchen, auf dem sein Name stand.
»Du musst dir ja sehr sicher gewesen sein, dass ich komme«, hatte ich bemerkt. Sein Lächeln hatte etwas, das mir den Atem stocken ließ. Mehrere Leute drehten sich zu uns um, als der Korken ploppte, aber plötzlich war es, als seien nur wir beide dort, sonst niemand.
»Überhaupt nicht«, gestand er und goss den Champagner in die Gläser, ohne den Blick von mir abzuwenden. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätten wir nun garantiert nasse Schuhe gehabt, doch er verschüttete nicht einen Tropfen. Er reichte mir ein Glas, und seine sanfte Stimme ließ es in meinem Bauch ganz unerwartet kribbeln. »Ich wusste einfach, dass ich diesen Augenblick, wenn du kommst, mit dir feiern will, denn das würde der Abend sein, an dem etwas Besonderes seinen Anfang nimmt.«
»Und wenn ich nicht aufgetaucht wäre?«, flüsterte ich.
Darrell zuckte mit den Schultern und wirkte zerknirscht. »Dann hätte ich das hier definitiv gebraucht, um mich zu trösten, weil ich so ein Idiot war, dich entwischen zu lassen.«
Er ließ mich auch heute Abend nicht entwischen und hielt immer noch meine Hand, als wir mit dem Taxi zum Restaurant fuhren, wo wir meine Mutter treffen würden. Unser Angebot, sie abzuholen, hatte sie höflich abgelehnt und es stattdessen vorgezogen, sich selbst um ihre Fahrmöglichkeit zu kümmern. »Wahrscheinlich wollte sie einfach noch einen weiteren Taxifahrer zum Wahnsinn treiben«, witzelte ich und hoffte im Stillen, der wahre Grund für ihr Verhalten wäre nicht, die Zeit mit ihrem zukünftigen Schwiegersohn auf ein Minimum zu reduzieren.
Weder der Berufsverkehr noch der Umstand, dass wir bereits eine halbe Stunde zu spät dran gewesen waren, als wir in meiner viel befahrenen Straße endlich ein Taxi herangewunken hatten, war meinen ohnehin schon strapazierten Nerven besonders zuträglich.
»Tut mir leid, mein Meeting hat länger gedauert«, hatte sich Darrell entschuldigt, als er mit dem Schlüssel, den ich vor ein paar Monaten für ihn hatte anfertigen lassen, meine Wohnung betrat. »Und nachdem ich dann bei mir endlich geduscht und mich umgezogen hatte, war schon so viel Verkehr.«
Vor Ärger verspürte ich ein Brennen in der Kehle, die Art von Bitterkeit, gegen die auch Rennies nichts halfen und die meistens darauf hinauslief, dass ich den Kommentar »Ich hab’s dir ja gleich gesagt« fallen ließ. Doch ich schluckte sowohl die Worte als auch das Gefühl herunter, denn heute sollte – nein, musste – alles so glatt wie möglich laufen. Die Lage würde schon angespannt genug sein, wenn mein Vater erst einmal mit im Spiel war, daher schien es mir umso wichtiger, von meiner Mutter einen, wenn auch späten, Segen für unsere Heirat zu erhalten.
»Wie lief die Anprobe heute? Bist du zufrieden mit dem Kleid?«
Ich hatte vom Seitenfenster aus jeden Wagen, der in unsere Spur einbog und uns dadurch weiter aufhielt, mit bösen Blicken bedacht und wandte mich jetzt wieder Darrell zu. Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte ich aus einem echten Glücksgefühl heraus.
»Es ist absolut traumhaft. Noch schöner, als ich es in Erinnerung hatte. Und, was noch unglaublicher ist, Karen und meiner Mutter hat es auch gefallen.«
Darrell küsste meine Fingerknöchel, direkt unterhalb des großen Diamanten, den er mir an den Ringfinger gesteckt hatte. »Ich wär wirklich gern dabei gewesen. Ich hatte schon fast überlegt, ob ich dir unauffällig hinterherschleichen soll und einen heimlichen Blick durchs Schaufenster riskiere.«
Ich richtete mich auf den abgewetzten Lederpolstern der Taxirückbank ein wenig auf. Manchmal machte Darrell so was; er sagte etwas völlig Unerwartetes, und das brachte mich fast immer durcheinander. »Tja, gut, dass du dir das verkniffen hast«, erwiderte ich und merkte, dass ich ein bisschen wie eine angesäuerte Lehrerin klang. Ich atmete durch und nahm meinem Kommentar mit einem Lächeln etwas von seiner Spitze. »Und außerdem, weißt du denn nicht, dass es Unglück bringt, wenn der Bräutigam die Braut vor der Trauung in ihrem Hochzeitskleid sieht?«
Er küsste noch mal meine Hand und lachte leise. »Keine Panik. Ich hatte heute ein Meeting nach dem anderen und konnte da gar nicht weg. Ich muss wohl einfach noch drei Wochen auf die große Enthüllung warten.« Ich beobachtete ihn weiterhin aufmerksam und fragte mich, ob er ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, in meine Anprobe hineinzuplatzen. »Aber nur fürs Protokoll, ich glaub nicht an solchen abergläubischen Quatsch. Ich habe doch schon alles Glück der Welt. Schließlich werd ich dich heiraten.«
Und schon war mir wieder, als hätte ich keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Er schlang die Arme um mich, zog mich an sich und küsste mich so leidenschaftlich, dass meine Wangen glühten. Nach ein paar Augenblicken löste ich mich aus unserer ungestümen Umarmung, nur für den Fall, dass der Fahrer versucht sein könnte, seine Augen von der Straße abzuwenden, um die Action auf der Rückbank zu verfolgen.
In Darrells Augen blitzte der Schalk auf, doch er leistete keinen Widerstand, als ich ihn sanft, aber bestimmt von mir wegschob.
»Wo wir gerade von Leuten reden, die anderen nachstellen«, wechselte ich wenig subtil das Thema und senkte meine Stimme, sodass der Fahrer mich nicht verstehen konnte, »ich habe beschlossen, Mum nichts davon zu erzählen, was in letzter Zeit los war. Das wäre nur noch mehr Wasser auf ihre Mühlen.«
Das Glänzen in Darrells Augen verschwand schlagartig. »Ich wusste nicht, dass sie immer noch nicht mit an Bord ist.«
Ich biss mir auf die Lippe und dachte nicht zum ersten Mal, dass ich eine lausige Spionin abgeben würde. Ich konnte vor anderen einfach nichts verbergen.
»Also, es ist nicht so, dass sie nicht mit an Bord wäre … per se «, sagte ich und strich ihm beruhigend über den Arm. Durch das teure Gewebe seines italienischen Anzugs waren seine angespannten Muskeln zu spüren. »Ich glaube einfach nur, dass da mehrere Dinge zusammenkommen. Wie sie zur Ehe steht, wie schnell wir uns zur Heirat entschlossen haben – doch vor allem wohl, dass mein Vater dabei sein wird.«
Darrells Blick vermittelte mir die Botschaft »Ich hab’s dir ja gleich gesagt« , aber zum Glück war er klug genug, es nicht auszusprechen. Er hatte jedoch nicht unrecht – meine Mutter wäre deutlich leichter für unser Vorhaben zu gewinnen gewesen, wenn ich sie nicht gezwungen hätte, mit dem Mann, von dem sie einmal gesagt hatte, sie wolle ihn nie wiedersehen, einen auf glückliche Familie zu machen.
»Jedenfalls wollte ich dich einfach vorwarnen, nichts von den … du weißt schon … von den Dingen zu erzählen, die vorgefallen sind.«
Darrell nickte grimmig. »Keine Sorge. Das wäre das Allerletzte, was ich heute ansprechen würde.«
Genau eine Woche nachdem wir unsere ersten Hochzeitseinladungen verschickt hatten, hatte es angefangen.
Hochzeiten bedeuten jede Menge Organisationsarbeit, und je mehr ich versuchte, damit hinterherzukommen, desto besser konnte ich verstehen, wieso manche Leute eine professionelle Hochzeitsplanerin anheuerten. Als Darrell angeboten hatte, mir bei den Einladungen zu helfen und die Karten für seine Gäste zu schreiben, hatte ich meinen inneren Kontrollfreak ignoriert und ihm dankbar einen kleinen Stapel Einladungskarten mit Schmuckprägung aus dem Karton gereicht, den ich von der Druckerei abgeholt hatte. Sein Stapel war deutlich kleiner als meiner, und ich hatte Schuldgefühle, weil meine Gästeliste länger und länger wurde, während auf seiner Liste nicht mehr viele Namen dazukamen. »Das liegt an meinem Job«, hatte er erklärt und die senkrechten Falten zwischen meinen Brauen sanft mit dem Finger geglättet. »Wenn man so viel unterwegs ist wie ich, ist es schwer, neue Freundschaften zu schließen oder die alten zu pflegen.« Ich wollte gerade etwas erwidern, doch er hielt mich mit einem Kuss davon ab, nahm allerdings den Gesprächsfaden wieder auf, als ich die Augen noch halb geschlossen und die Lippen in freudiger Erwartung geöffnet hatte.
»Ich hab Unmengen von Bekannten, hier und im Ausland, aber von denen ist mir niemand wichtig genug, um ihn zu unserer Hochzeit einzuladen. Für mich muss bloß eine da sein, und solange sie an dem Tag aufkreuzt, ist alles gut.«
»Sie wird aufkreuzen«, sagte ich, bekräftigte es mit einem langen Kuss und fragte scherzhaft: »Du hast doch mich gemeint, oder?«
Er lachte schallend, und wir schmunzelten auch dann noch, als er mich sanft auf die Sofakissen drückte und unsere Hochzeitseinladungen plötzlich hinter einem weit interessanteren Zeitvertreib zurückstehen mussten.
Ich übernachtete selten bei Darrell. Um ehrlich zu sein, fand ich seine Zweizimmerwohnung eher kalt und unpersönlich, wie ein zweitklassiges Hotelzimmer. Er schien das zu verstehen und sogar meiner Meinung zu sein. »Das einzig Gute daran ist, dass es praktisch ist und nur einen Katzensprung vom Flughafen entfernt – ideal, wenn ich morgens einen frühen Flieger bekommen muss«, hatte er gesagt, als er mich zum ersten Mal zu sich nach Hause mitnahm, in einen grauen Betonklotz, der äußerlich den Charme eines öffentlichen Parkhauses besaß.
Die Farbpalette in seinen vier Wänden reichte von Grau bis Grau, und die Wohnung war ganz eindeutig unter funktionalen Gesichtspunkten eingerichtet und nicht nach Stilaspekten, und zwar von jemandem, der null Interesse daran hatte, sie wohnlich oder einladend zu gestalten. »Darum schlafe ich lieber bei dir«, hatte Darrell gesagt und mir von hinten die Arme um die Taille geschlungen, während ich mir fast die Augen gerieben hätte, als ich in seinen nahezu leeren Kühlschrank starrte.
»Wieso? Weil ich eine Küche voller Luxusgüter habe, wie Milch für Tee oder Kaffee?« Mit Blick auf die leere Kühlschranktür meinte ich das nur halb im Scherz.
»Ich verhungere hier schon nicht«, sagte Darrell und knabberte an meinem Ohrläppchen, als wolle er klarstellen, dass ich seine nächste Mahlzeit sein würde. »Wobei ich zugeben muss, dass mein Appetit bei dir zu Hause weit besser gestillt wird.« So was machte er oft: Ein normales Gespräch, bei dem man beispielsweise fragte, ob er Milch zum Kaffee da habe, bog er in etwas leicht Schlüpfriges mit einer provokanten Note um. Und je mehr ich bei so etwas errötete, desto öfter tat er es.
»Na ja, der Wohnung hier werde ich definitiv nicht nachtrauern, wenn du sie kündigst«, sagte ich und schloss schwungvoll die Kühlschranktür.
Darrell stand mit dem Rücken zu mir und goss gerade heißes Wasser in unsere Kaffeebecher. Er schien von flimmernder Luft umgeben wie an einem heißen Sommertag, als er bei meiner Bemerkung innehielt. Sehr langsam – zu langsam – stellte er den Wasserkessel wieder auf den Kontaktfuß und drehte sich in Zeitlupe um.
»Suzanne, ich dachte, das wäre dir klar gewesen … die Wohnung hier geb ich nicht auf. Die ist zu praktisch für meine Geschäftsreisen.«
»Aber … aber …« Ich schüttelte den Kopf, weil ich mir vorkam wie eine Schallplatte mit Sprung. »Aber wieso? Wozu soll das gut sein? Für mich ergibt das keinen Sinn, vor allem finanziell nicht.« Da war sie wieder, meine innere Buchhalterin.
Darrell begegnete meinem Blick, und für einen kurzen Moment war mir, als würde ich in seinen Augen Zorn aufblitzen sehen. Wir waren seit Monaten zusammen und quasi unzertrennlich, und doch standen wir jetzt völlig unerwartet vor unserem allerersten Streit. Das Timing hätte nicht schlechter sein können, wo die Tinte auf unseren Hochzeitseinladungen doch kaum getrocknet war.
Plötzlich hörte ich Karens Stimme in meinem Kopf flüstern, wie ein nerviges Gespenst. Sie war mit Tom nur einmal bei Darrell zu Besuch gewesen, und ihr Urteil am nächsten Tag war wenig schmeichelhaft ausgefallen. »Ein Deckenspiegel und schwarze Satinbettwäsche? Seine Wohnung sieht aus wie der Prototyp einer Junggesellenbude aus den Siebzigern oder wie der Set für einen Pornofilm.« Ich hatte wütend reagiert, in erster Linie, weil ich ihr insgeheim zustimmte, aber das hätte ich niemals zugeben können.
»Würd ich nicht so sagen«, hatte ich verkniffen geantwortet und energisch auf den Aufzugknopf für unsere Büroetage gedrückt.
»Also, tut mir leid, Suze, ich finde, dass das stimmt. Seine Bude sieht aus wie eine, in die man reihenweise Mädchen abschleppt, nachdem man sie irgendwo in einer anrüchigen Bar aufgerissen hat.«
Ich hatte mich so schnell auf meinem Absatz zu ihr herumgedreht, dass ich noch mitbekam, wie sie sich mit der Hand auf den Mund schlug, weil ihr – eine Sekunde zu spät – eingefallen war, wie Darrell und ich uns kennengelernt hatten.
»Nicht, dass ich andeuten wollte, das sei oder war je Darrells Art«, versuchte Karen den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. »Ich finde einfach, dass seine Wohnung irgendwie einen geschmacklosen Retro-Look hat. O Gott, bitte vergiss einfach, was ich gesagt hab«, bat sie verzweifelt.
Und ich dachte, ich hätte es vergessen, bis zu dem Moment, als Darrell mich ansah und ich versuchte, mir die Frage zu verkneifen, ob es für einen Mann nach der Hochzeit noch ein weiteres Motiv geben konnte, seine Junggesellenbude nicht aufzugeben, als die Nähe zum Flughafen. Klar, Darrells Job war mit häufigen Auslandsreisen verbunden, aber war das Grund genug, die Wohnung zu behalten? Wer startete mit getrennten Wohnungen in eine Ehe? Und noch beunruhigender als diese Fragen war die eine, der ich absichtlich aus dem Weg ging: Ich liebte Darrell, aber wie gut kannte ich ihn eigentlich? Gut genug, um ihm zu vertrauen? Es wäre um einiges einfacher gewesen, die Frage zu beantworten, wenn sie in meinem Kopf nicht mit der Stimme meiner Mutter nachgehallt hätte.
»Wenn es bloß ums Geld geht, dann mach dir keine Sorgen. Ich kann es mir leisten.«
Ich schüttelte den Kopf. Wir verdienten beide sehr gut, und ich wusste, dass er die Miete locker aufbringen und immer noch etwas zu der Hypothek von meiner Wohnung beisteuern konnte. Was mir aber Sorgen bereitete, war seine offenbar fehlende Bereitschaft, sich vom Junggesellenleben zu verabschieden. Deutete das auf mangelnde Ernsthaftigkeit hin, was unsere Ehe anging … und unsere Beziehung als solche?
Mir brannten Tränen in den Augen. Die Einladungen waren fast alle verschickt, die Location gebucht, die Blumen ausgewählt, und mein Kleid war bestellt. So gut wie alles war vorbereitet. Außer dem Bräutigam vielleicht. Plötzlich schien es mir in der Küche stickig, als wäre nicht genug Luft für uns beide im Raum, und mein Blick war von Tränen verschleiert.
Hastig suchte ich einen Ausweg aus der Situation. »Ich … ich muss mal kurz runter und was aus dem Wagen holen.«
Darrell ließ den Kaffee stehen und kam mit ausgebreiteten Armen durch die kleine Küche zu mir. »Suzanne, du bist ja ganz aufgewühlt.«
Sag bloß, Sherlock!, dachte ich, obwohl ich den Kopf schüttelte. »Nein, nein, alles okay«, widersprach ich und fuhr mir mit dem Handrücken unter den Augen entlang, damit meine Tränen nicht verrieten, dass ich log.
»Komm, wir setzen uns und besprechen das wie vernünftige Menschen«, redete er auf mich ein und schlang die Arme um meine Taille.
Ich wich einen Schritt zurück, was ihn wohl genauso überraschte wie mich. Er ließ die Arme wieder sinken. »Du bist wohl wirklich sauer?«, fragte er und erinnerte dabei an einen geprügelten Welpen. Er wirkte so getroffen, dass ich fast eingeknickt wäre; beinahe hätte ich gesagt, dass er reihenweise Immobilien besitzen könnte, solange er in einer davon mit mir zusammenleben wollte. Ich konnte meine Mutter vor Bestürzung geradezu aufschreien hören und schüttelte so heftig den Kopf, dass mein Pferdeschwanz erst gegen meine eine, dann gegen meine andere Wange peitschte – als wäre ich hysterisch und bräuchte eine Ohrfeige, die mich wieder zur Besinnung brachte. Vielleicht stimmte das ja auch?
»Ich hab wirklich was im Wagen vergessen, Darrell«, sagte ich flehentlich in der Hoffnung, er würde begreifen, dass ich ein paar Minuten für mich sein wollte – nein, sein musste –, um mich wieder zu fangen. »Lass mich runtergehen und es holen, und dann können wir weiterreden«, fügte ich hinzu und griff schon nach meiner Tasche.
Als ich später aus der Tiefgarage wieder nach oben kam, redeten wir tatsächlich miteinander – allerdings nicht über die Wohnung.
Darrell hatte zwei Parkplätze. Auf einem stand sein Wagen, und auf dem daneben stand meiner, ein wenig schräg geparkt, weil ich immer Sorge hatte, einen der Betonpfeiler zu rammen. Ich mag Tiefgaragen nicht besonders. Also, nichts gegen Tiefgaragen an sich – ich meine eher, dass es mir unangenehm ist, wenn ich dort abends allein bin, wenn die Deckenlampen so zu flackern beginnen wie in jenem Moment. Plötzlich hatte ich Szenen aus sämtlichen Horrorfilmen vor Augen, die ich jemals geschaut hatte, in denen vermummte oder maskierte Gestalten über eine wehrlose Frau herfielen, die auf dem Weg zu ihrem Wagen war.
Der Streit mit Darrell – falls es ein Streit gewesen war – hatte mich bereits aufgewühlt. Die Tiefgarage tat ihr Übriges. Doch den letzten Rest gab mir das Ding an meiner Windschutzscheibe.
Zunächst hatte ich gedacht, das, was da unter den Scheibenwischer geschoben war, sei ein Werbeflyer, bis ich mich umsah und feststellte, dass an den anderen geparkten Autos kein solches Ding klemmte. Ohne zu wissen, weshalb, verspürte ich beim Anblick des kleinen weißen Umschlags eine gewisse Beklemmung. Ich zog ihn vorsichtig unter dem Wischer hervor und betrachtete ihn genauer.
Die Schrift war unordentlich und stellenweise verschmiert, als wäre die Nachricht in Eile geschrieben worden. Der Brief war »an die Braut« adressiert, was für mich überhaupt keinen Sinn ergab. Außer Darrell kannte ich niemanden hier im Haus, wie also konnte jemand wissen, dass das mein Wagen war? Noch besorgniserregender war die Frage, wie jemand in eine gesicherte Tiefgarage gelangen konnte, um mir einen Brief an die Windschutzscheibe zu stecken. Wenn es sich um einen Hausbewohner handelte, wenn Darrell aus unerfindlichen Gründen beschlossen hatte, einen der Nachbarn, die er kaum kannte, zu unserer Hochzeit einzuladen, wieso hatte der oder die Betreffende dann die Antwort nicht einfach in den Briefkasten geworfen?
Mit zitternden Fingern riss ich den Umschlag auf. Auf einer Karte mit vorgedrucktem Text befand sich noch weiteres Gekritzel. Es war eine Standard-Antwortkarte, so wie sie überall in Zeitschriften- oder Schreibwarenläden verkauft wurden. Keine von den personalisierten Karten mit Prägeschrift, die ich jeder Einladung an unsere Familienmitglieder und Freunde beigelegt hatte. Doch irgendetwas sagte mir, dass diese Antwortkarte sowieso von niemandem stammte, der unter diese beiden Kategorien fiel.
Der Verfasser dieser Botschaft hatte die Felder, wo man eintragen konnte, ob man die Einladung annahm oder ablehnte, ignoriert und die gesamte Fläche der Karte zum Schreiben genutzt. Dass er oder sie sich nicht um die gepunkteten Linien gekümmert hatte, war irgendwie störend, aber es war nicht annähernd so verstörend wie die Nachricht selbst:
Ich werde NICHT zu Ihrer Hochzeit kommen … und wenn Sie auch nur einen Funken Verstand haben, tauchen Sie dort auch nicht auf.
Ich wartete nicht ab, bis der Lift kam, sondern nahm die Treppe über alle fünf Etagen, sodass ich, als ich an Darrells Tür hämmerte, ganz außer Atem war und zitterte und kein Wort über die Lippen brachte, aus Angst oder vor Anstrengung.
»Was ist? Was ist los? Ist was passiert?«, fragte Darrell, als er die Tür öffnete und ich ihm in die Arme fiel. Er blickte über meine Schulter ins leere Treppenhaus, als würde er erwarten … dort irgendetwas zu sehen, ich weiß nicht, was. Vielleicht diesen Typen mit der Axt, von dem Karen so oft sprach.
Er versetzte der Tür mit dem Fuß einen Schubs und führte mich ins Wohnzimmer, einen Arm um meine Taille geschlungen, um mich zu stützen, denn plötzlich wussten meine Beine nicht mehr, wie sie mich tragen sollten. Ich war immer noch zu aufgewühlt, um etwas sagen zu können, und so reichte ich ihm zunächst den Umschlag und sah, wie er verwirrt die Stirn runzelte. Als ich ihm die Karte reichte, zog er die Brauen noch dichter zusammen. Ich beobachtete ihn aufmerksam, war aber nicht in der Lage, das Mienenspiel dieses mir vertrauten Menschen zu entschlüsseln, da es sich in kürzester Zeit mehrfach schlagartig veränderte.
Schließlich entschied sich Darrell für ein ironisches, leicht irritiertes Amüsiertsein. Er hielt die Antwortkarte an einer Ecke fest und tippte damit gegen seine Handfläche. »Das hat dir solche Angst gemacht? Ich hab schon gedacht, du wärst überfallen worden oder so.«
Ich schüttelte den Kopf und war nach den fünf Stockwerken immer noch ganz außer Atem, ein klarer Indikator dafür, dass ich wirklich mehr Sport treiben sollte.
»Was bedeutet das? Warum klemmt mir jemand so was an die Windschutzscheibe? Warum so was Bedrohliches?«
Von meinen drei Fragen schien ihn die zweite am meisten zu beunruhigen. »Die hat an deiner Windschutzscheibe gesteckt?«
Ich nickte, wischte mir die feuchten Handflächen an meiner Jeans ab und spürte, dass meine Oberschenkel unter dem Stoff noch immer zitterten.
Einen Augenblick lang meinte ich einen Funken Zorn in Darrells Augen aufblitzen zu sehen, doch dann war er wieder verschwunden, und sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Na ja, offensichtlich hat da jemand einen sehr seltsamen Humor.«
»Wer denn? Wer macht so was? Wenn das ein Witz sein soll, dann ist der nicht besonders lustig.«
»Ganz meine Meinung«, entgegnete Darrell, ging zu einem kleinen Schränkchen und holte eine Flasche mit bernsteinfarbener Flüssigkeit heraus. Ich trinke keinen Whisky, aber dies schien mir nicht der richtige Moment zu sein, ihn daran zu erinnern. Er reichte mir ein Glas mit einem großzügigen Double Shot.
»Trink das«, wies er mich an wie eine resolute Krankenschwester, die die Medikamente ausgibt. »Dann geht’s dir besser.«
Der Alkohol brannte in meiner Kehle und den ganzen Weg hinunter zum Magen. »Und was glaubst du, wer das war?«, fragte ich dann erneut und versuchte nach Kräften, nicht zu husten wie ein Teenager, der gerade die Spirituosenbestände seiner Eltern geplündert hat.
Darrell seufzte und zuckte mit den Schultern. »Wenn ich raten müsste, würde ich auf einen von den Jungs aus dem Fitnessstudio tippen. Das ist deren Art von Humor – dumm und unreif.«
Darrell war einer der wenigen Menschen, die fürs Fitnessstudio nicht nur zahlten, sondern auch regelmäßig hingingen. Der Beweis dafür war unübersehbar, wenn er sein Hemd aufknöpfte. Aber es war das erste Mal, dass er die anderen Leute dort erwähnte.
»Du hast bis jetzt noch nie von jemandem aus dem Studio erzählt. Sind das Freunde von dir?« Ich hörte selbst den Unterton in meiner Frage, die unausgesprochene Kritik, die durchblicken ließ, dass ich seine Freunde nicht mochte. Ich hatte bislang nur so wenige Menschen aus seinem persönlichen Umfeld kennengelernt, dass es schon misslich war, gegenüber diesen Leuten spontan Abneigung verspürt zu haben.
Einen Augenblick lang schien er verärgert, doch dann setzte er sich neben mich und zog mich an sich. Ich ließ mich bereitwillig in den Arm nehmen, fühlte mich sofort sicher und auch ein bisschen naiv. Hatte ich nur auf einen schlechten Jux überreagiert?
»Es sind eher Bekannte als Freunde«, räumte er ein. »Aber ein paar von ihnen wohnen auch hier im Haus, darum bin ich mir ziemlich sicher, dass es einer von ihnen gewesen sein muss.« Er hielt mich fest umschlungen und murmelte in mein Haar, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. »Bestimmt halten sie sich deshalb für unglaublich witzig. Gestern hab ich nebenbei die Hochzeit erwähnt, und wahrscheinlich hat sie das zu diesem Streich motiviert. Sie wollten dir ganz bestimmt keine Angst einjagen.«
»Na ja, haben sie aber irgendwie schon«, sagte ich und spürte, wie meine Panik dem Gefühl wich, zu schreckhaft gewesen zu sein.
»Dann werd ich ein ernstes Wörtchen mit denen reden«, sagte er grimmig. »Sie sind zu weit gegangen.« Ich fragte mich, ob er merkte, dass er mich inzwischen so fest hielt, dass es schon fast unangenehm war. »Niemand soll dir jemals wehtun oder Angst machen. Sonst bekommt er es mit mir zu tun.«