Kapitel 5

D en Klingelton kannte ich nicht. Meiner war »La Bamba«, und er machte mir jedes Mal gute Laune, außer wenn ich in einem Meeting saß und vergessen hatte, das Handy auf lautlos zu stellen. Darrells war viel unspektakulärer, es war der per Werkseinstellung vorprogrammierte Standardklingelton. Doch der hier war anders – er klang wie ein Windspiel, von einer leichten Brise bewegt, die in raschem Tempo entlang der Beaufortskala anwuchs. Bis wir beide ganz wach waren, war aus dem Lüftchen bereits locker ein Hurrikan geworden.

»Was ist das? Was klingelt da?«, fragte ich und blinzelte ins frühe Morgenlicht, das durch einen Vorhangspalt ins Zimmer fiel.

»Mmmgh«, stöhnte Darrell neben mir.

»Ist das ein Wecker … oder ein Handy?«, fragte ich und stützte mich mit dem Ellbogen auf.

Ruckartig hob sich die Matratze, als Darrell wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett sprang und, nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, durch das Zimmer fegte. »Leg dich ruhig wieder hin«, sagte er hastig und sah sich kurz über die Schulter zu mir um. Ich saß inzwischen senkrecht im Bett, die Decke auf Hüfthöhe. Zum ersten Mal, seit wir zusammen waren, warf er nicht mal einen kurzen Blick auf meine Brüste.

Das Klingeln hatte inzwischen eine ohrenbetäubende Lautstärke erreicht. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Darrell riss die oberste Kommodenschublade auf, kramte in ihren Tiefen herum und hastete mit etwas Flachem, Schwarzem Richtung Wohnzimmer. An der Schlafzimmertür hielt er kurz inne und schloss sie hinter sich – eine weitere Premiere innerhalb von weniger als zwanzig Sekunden. Mich fröstelte, und das lag nicht an der Raumtemperatur.

Wenn ich die Nacht bei Darrell verbrachte, war ich dort nie so recht zu Hause. Auch wenn ich ein paar der nötigsten Pflegeartikel in seinem Bad deponiert hatte und Kleidung in seinem Schrank, fühlten wir uns beide bei mir wohler. Ein beträchtlicher Teil meines Kleiderschranks war bereits von Darrells Sachen in Beschlag genommen.

Wir hatten nicht vorgehabt, bei ihm zu übernachten. Unser letzter Termin mit den Caterern hatte sich extrem in die Länge gezogen, und wir hatten bloß einen kurzen Zwischenstopp bei Darrell einlegen wollen, damit er sich für den nächsten Tag ein frisches Hemd mitnehmen konnte, doch als wir nur zehn Minuten später zu meinem Wagen zurückkehrten, wollte der nicht anspringen.

»Mist«, murmelte ich, als der Zündschlüssel im Schloss lediglich klickte und nichts weiter geschah. Darrell ließ mich die Motorhaube öffnen und verbrachte eine ganze Weile damit, an diversen Teilen und Drähten herumzufummeln, die man vermutlich besser in Ruhe ließ.

»Du hast keinen blassen Schimmer, was du da gerade machst, stimmt’s?«, fragte ich, trat von hinten an ihn heran und schlang die Arme um seine Taille. Er hörte auf, den Motor wie ein außerirdisches Raumschiff zu beäugen, und drehte sich mit einem verschmitzten Grinsen zu mir um.

»Nein, nicht die leiseste Ahnung.« Wir lachten beide, und mir wurde wieder bewusst, wieso ich ihn liebte. Es war ein wenig erschreckend, dass ich das in letzter Zeit manchmal vergaß.

»Morgen früh ruf ich den Pannendienst von meiner Versicherung an«, sagte ich müde. »Wir können doch heute bei dir schlafen?«

Er wirkte etwas widerwillig, aber vermutlich bloß deshalb, weil er mich ungern enttäuschte. »Meinst du wirklich? Ich hab für morgen früh gar nichts im Kühlschrank.«

»Macht nichts. Ich habe vorhin Brot und Milch besorgt«, antwortete ich und nahm die Einkaufstüte vom Supermarkt von der Rückbank. »Komm. Wenn wir uns beeilen, kannst du mich in zehn Minuten in deinem Bett haben.«

Wir schafften es in acht Minuten.

Darrell sprach nicht laut, aber er flüsterte auch nicht gerade. Nicht, dass das einen großen Unterschied gemacht hätte. Falls ich vorgehabt hätte zu lauschen, hätte mich die geschlossene Schlafzimmertür definitiv daran gehindert. Natürlich hätte ich aufstehen und das Ohr an die Tür legen können, wie man das häufig im Film sieht. Aber die Vorstellung, Darrell könnte plötzlich wieder ins Zimmer platzen und mich beim heimlichen Horchen ertappen, hielt mich davon ab. Und außerdem wollte ich nicht den Eindruck erwecken, ich würde ihm nicht vertrauen. Denn das tat ich doch. Ich würde ihn ja schließlich heiraten.

Und trotzdem … wessen Telefon war das? Warum war es in den Tiefen einer Schublade versteckt gewesen, und wieso nahm Darrell den Anruf nebenan entgegen und nicht in meiner Gegenwart?

Mit einem heftigen Ruck wurde die Schlafzimmertür aufgedrückt. Zum Glück hatte ich nicht davorgestanden, sonst hätte ich nun platt wie eine Briefmarke an der Wand geklebt.

»Wessen Telefon ist das?«, fragte ich, während er es wieder in die Kommode legte und die Schublade sorgfältig schloss.

»Meins«, antwortete Darrell knapp.

Ich blickte zu seinem Nachttisch, wo sein Handy lag, sein eigentliches Handy, zum Aufladen an die Steckdose gestöpselt. »Ich dachte, das da ist deins.«

Er schüttelte den Kopf, als wäre ich gerade ziemlich anstrengend, was ich keineswegs fand. »Die gehören beide mir. Das in der Schublade ist mein Diensthandy.« Es war eine völlig plausible Erklärung. Viele Firmen stellten ihren Angestellten ein Telefon für dienstliche Zwecke zur Verfügung. Aber ich wusste noch ganz genau, dass ich Darell einmal gefragt hatte, ob er ein Diensthandy besäße, und er es eindeutig verneint hatte.

»Die Firma hat vor Kurzem ihre Einstellung dazu geändert«, sagte er leichthin, stieg wieder ins Bett und drückte mich an sich. Nach den fünf Minuten, die er mit dem mir unbekannten Handy im Wohnzimmer telefoniert hatte, waren seine Arme kalt.

»Kann ich dann die Nummer haben?«

»Welche Nummer?«

Ich zählte nicht bis zehn, denn ich war ja nicht richtig wütend, doch ich schwieg einen Moment, weil ich mehr als irritiert war. Er musste doch ganz genau wissen, was ich meinte. »Die Nummer von deinem Diensthandy. Kann ich die haben?«

»Wofür?«

»Um dich anzurufen oder dir eine Textnachricht zu schicken. Du weißt schon, die üblichen Gründe, weshalb man die Telefonnummer seines Mannes haben möchte.«

Er lächelte genüsslich. »Mann. Du hast mich gerade deinen Mann genannt.«

»Stimmt«, sagte ich und merkte, dass mein Argument von ihm als Zärtlichkeit aufgefasst worden war. »Also, du wirst es immerhin bald sein.«

Darrell neigte den Kopf, um mich zu küssen, und hielt erst inne, als ich in letzter Sekunde hinzufügte: »Dann sollte ich wohl besser die Nummer kennen.«

Er setzte sich etwas aufrechter hin, und ich wusste, dass er nun doppelt gereizt war: zum einen wegen des Anrufs, der uns geweckt hatte, und zum anderen meinetwegen.

»Du kannst mich doch auf meinem normalen Handy kontaktieren, wie immer.«

»Aber was, wenn ich dich nicht erreiche? Was, wenn du dein Telefon verlierst oder es dir gestohlen wird? Es ist doch nur sinnvoll, beide Nummern zu haben.«

Er schüttelte den Kopf. »Das Diensthandy stelle ich aus, wenn ich in Meetings bin, oder ich ignoriere es, wenn ich gerade nicht reden kann. Ich möchte nicht irgendwann einen Anruf von dir verpassen, bloß weil du versucht hast, mich auf dieser Nummer zu erreichen. Und was die private Nutzung von Diensthandys angeht, da sind die in meiner Firma auch ziemlich eigen.«

Ich verstand ihn akustisch sehr gut, hörte aber genauso deutlich auch das, was er nicht sagte. Mach jetzt keinen Ärger.

»Komm schon, mein Schatz«, knurrte er leise. »Wir könnten den ungeplant frühen Start in den Tag noch nutzen.«

Wir liebten uns, und es war schön – es war immer schön. Darrell war ein aufmerksamer Liebhaber, beim Sex mit ihm ging es stets mehr um mich als um ihn, und doch wurde ich währenddessen, selbst als ich seine schweißfeuchten Schultern umklammerte und leise seinen Namen stöhnte, keine Sekunde lang den Gedanken los, dass das alles bloß ein sehr effektives Ablenkungsmanöver war, damit ich keine weiteren Fragen zu diesem Handy stellte.

Etwas später, als ich aus dem Bad kam, hatte Darrell sich bereits angezogen. Aus der Küche war der Wasserkocher und Geschirrgeklapper zu hören. Ich schaute mich nach etwas zum Anziehen um und griff nach dem Hemd, das Darrell am Vorabend getragen und auf einem Stuhl abgelegt hatte. Ich zog es mir über die noch feuchte Haut, und mein Blick wanderte wie fremdgesteuert zur obersten Kommodenschublade. Sie fesselte meine Aufmerksamkeit, während ich mir die Haare kämmte, in ein Paar Flip-Flops schlüpfte und mir meinen Verlobungsring an den Finger steckte. Vielleicht war es der Ring, der mich vollends überzeugte, dass es so kurz vor der Hochzeit keine Geheimnisse zwischen uns geben sollte. Und trotz der sehr kurzweiligen Ablenkungsmethode, die Darrell angewandt hatte, passte bei diesem Telefon irgendetwas nicht zusammen.

Werde ich wirklich eine dieser Ehefrauen sein, die in den Jackentaschen und den E-Mails ihres Mannes herumschnüffeln?, fragte ich mich und erschrak beinahe, als ich merkte, dass ich die Hände bereits an den Schubladengriffen hatte. Ja, anscheinend würde ich genau so eine Ehefrau werden.

Die Schublade quietschte nicht, sondern glitt leicht auf. Darin lagen Darrells ordentlich gefaltete Boxershorts und ein beachtlicher Berg schwarzer Socken. Was sich nicht darin befand, war das Handy, weil er es offensichtlich schon woandershin getan hatte.

Er hatte mich angelogen, und es brodelte immer noch in mir, als ich zu Darrell in die Küche ging, denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass sich unser Leben allmählich unnötig verkomplizierte. Selbst das Brot zu finden, das wir am Vorabend in die Küche gebracht hatten, erschien mir wie eine Prüfungsaufgabe. Es war nicht im Brotkasten und auch nicht auf einer der steril wirkenden freien Arbeitsflächen. Darrell war damit beschäftigt, auf seinem iPhone – dem Handy, von dem ich gewusst hatte – durch einige Webseiten zu scrollen, während ich weiter nach dem Brot suchte.

»Wir haben doch gestern Abend die Einkaufstüte mit nach oben genommen?«

»Ja«, sagte Darrell zerstreut, den Blick auf dem Handybildschirm.

»Und wo ist dann das Brot?«

»Da, wo es immer ist – im Kühlschrank«, antwortete er und war mit der Aufmerksamkeit nach wie vor ganz bei seinem Telefon.

»Da legen wir es doch nie hin«, sagte ich und ging zu dem großen weißen Kühlschrank, wie um ihm das Gegenteil zu beweisen. »Du weißt doch, es wird da drin zu kalt, um sich gut toasten zu lassen.« Ich öffnete die Kühlschranktür und starrte das verpackte Weißbrot an, das dort einsam auf der obersten Glasplatte lag und sich über mich lustig zu machen schien.

Darrell schaute vom Telefon hoch und war plötzlich ganz bei mir. »Natürlich, stimmt. Ich hab es wahrscheinlich da reingelegt, als ich die Milch weggeräumt habe. Möchtest du Toast?«

Ich schüttelte den Kopf. »Eigentlich hab ich gar keinen Hunger. Ich trink nur einen Kaffee.«

»Ich vielleicht auch«, sagte Darrell und klang dabei merkwürdig vorsichtig. »Weil mir wohl keine Zeit zum Frühstücken bleibt. Tut mir leid, Schatz, aber ich muss für ein paar Tage verreisen. Darum ging’s in dem Telefonat vorhin.«

»Aber du hast doch versprochen, du machst vor der Hochzeit keine Dienstreisen mehr«, sagte ich und kam mir merkwürdig verraten vor. »Es sind noch Tausende Dinge zu regeln, und du hast zugesagt, dass du mich unterstützt.«

Er kam zu mir und schlang mir den Arm um die Taille. »Ich würde ja auch gern hierbleiben, Liebes, wirklich. Und ich weiß, dass ich es versprochen habe, aber es ist ein Notfall, ich muss jemand anderen vertreten.« Er zog mich enger an sich heran, und durch den dünnen Stoff seines Hemdes spürte ich etwas Flaches und Hartes an meinem Hüftknochen. Jetzt wusste ich, wo sich das zweite Handy befand.

»Der Kollege, der eigentlich fliegen sollte, ist gerade im Krankenhaus. Seine kleine Tochter wurde wegen einer Blinddarmentzündung eingeliefert, darum kann er nicht weg. Irgendjemand muss für ihn einspringen.«

»Aber wieso du? Gibt’s denn niemand anderen, der das machen könnte? Vielleicht jemanden, der nicht gerade mitten in Hochzeitsvorbereitungen steckt?«

Darrell senkte den Kopf und küsste mich zärtlich. »Diese Hochzeit ist gründlicher vorbereitet worden als ein Militärmanöver.« Sein Blick wanderte zu meiner Tote Bag, die auf einem der Küchenstühle stand und meinen prallvollen Ordner für die Hochzeitsplanung enthielt. »Du bist die umsichtigste Planerin der Welt. Für das, was noch zu erledigen ist, brauchst du mich nicht. Meine Aufgabe ist einfach nur, an dem Tag in feinem Zwirn aufzukreuzen. Außerdem ist es doch vielleicht auch nett, wenn du ohne mich etwas Zeit mit deinen Eltern verbringen kannst. Wer weiß, vielleicht kannst du deinen Vater oder deine Mutter ja sogar überzeugen, dass sie mich mögen.« Ich war wie erstarrt, und er spürte es. »Dachtest du, ich würde das nicht merken?«

Ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd. »Ja, hatte ich irgendwie gehofft.«

Er küsste mein Haar und atmete seinen Duft ein, als würde er ihn sich sorgsam einprägen. »Solange du mich magst, solange du mich liebst, pfeife ich darauf, was andere denken. Meine Familie zeigt mir die kalte Schulter. Wenn deine Eltern dasselbe tun, dann bin ich natürlich enttäuscht, klar, aber ich werd es überleben. Solange ich dich habe, solange wir beide zusammen sind, ist alles andere egal.«

Mit erstaunlichem Tempo warf Darrell ein paar Kleidungsstücke für die Reise in einen kleinen Koffer. »Wenn man viel unterwegs ist, lernt man, schnell zu packen. Bring ich dir bei Gelegenheit mal bei«, sagte er und zog grinsend den Reißverschluss des Hartschalenkoffers zu. »Wann wollten die vom Pannendienst kommen?«

Ich schaute auf die Uhr. »Frühestens in einer Dreiviertelstunde.« Darrell runzelte die Stirn. »Mist. So lange kann ich nicht warten. Sonst verpass ich meinen Flug.«

»Kein Problem, mach dir um mich keine Gedanken. Ich schließ ab, wenn sie meinen Wagen wieder zum Laufen gebracht haben.«

»Ich lass dich hier nicht gern allein«, sagte Darrell besorgt. »Wenn ich nur an den Zettel an deiner Windschutzscheibe denke …«

Überrascht sah ich ihn an. Es war ungewöhnlich, dass er die fortwährenden Belästigungen selbst ansprach. Das war eigentlich eher mein Part. »Aber der war doch ein Streich von den Jungs aus dem Fitnessstudio?«

Er schaute mich lange an, und ich sah deutlich, dass er überlegte, ob ich ihm eine Falle stellte oder mir nichts dabei gedacht hatte. Um ehrlich zu sein, wusste ich es selbst nicht genau. »Ja. Natürlich. Der war von ihnen.«

Es lag an einer defekten Lichtmaschine. Ich hatte keinen Schimmer, was so eine Lichtmaschine war, geschweige denn, wie das Ding es geschafft hatte, die Autobatterie leer zu kriegen, aber glücklicherweise wusste es der Kfz-Mechaniker, der bald darauf erschien.

»Um eine neue einzusetzen, brauche ich etwa eine halbe Stunde«, sagte er in die Tiefen seines Vans hinein. »Sie können gern oben warten. Ich geb Ihnen Bescheid, wenn ich fertig bin.«

In Darrells Küche spülte ich unsere Becher ab und wischte über die bereits blitzsauberen Arbeitsflächen. Erst als ich das geschnittene Weißbrot einpackte, um es mitzunehmen, runzelte ich die Stirn und spürte ein Unwohlsein in der Brust.

Es war komisch, allein in Darrells Wohnung zu sein, fast so, als würde ich mich unbefugt hier aufhalten, was verrückt war, denn er war auch oft allein bei mir zu Hause. Ich schrieb eine Nachricht an meinen Vorgesetzten und gab ihm Bescheid, dass ich mich verspäten würde, dann tigerte ich mehrere Minuten in der Wohnung umher und versuchte, ein Handysignal zu erhaschen. Meine Jagd nach den kleinen Balken auf der Anzeige führte mich von einem Raum zum anderen, bis ich schließlich im Schlafzimmer ausreichend starken Empfang bekam, um die Nachricht zu versenden. Offen gestanden fand ich es erstaunlich, dass Darrell in dieser Wohnung überhaupt ein Handy benutzen konnte.

Nachdem ich die Textnachricht rausgeschickt hatte, wandte ich mich wieder vom Fenster ab, und vielleicht, weil mir Darrells eigenartige Sturheit wegen seines Arbeitshandys wieder einfiel, vielleicht, weil die Schublade noch ein Stück offen stand – was auch immer es war, ich ging zur Kommode und erblickte dabei ein kleines, unter dem zur Seite geschobenen Sockenberg hervorlugendes Ding in vertrautem Burgunderrot. Ich öffnete die Schublade weit genug, um hineinzugreifen, und zog das flache Dokument hervor. Als ich die Farbe gesehen hatte, hatte ich sofort gewusst, worum es sich handelte. Ich drehte und wendete es und suchte nach einer abgezwackten Ecke, die darauf hinwies, dass er nicht mehr gültig war, doch alle vier Ecken waren intakt. Es war Darrells Pass.

Ich klappte ihn auf, und der Mann, den ich liebte, blickte mich an. Niemand sieht auf seinem Passfoto besonders gut aus. Auf meinem bin ich leichenblass und wirke zu krank, um überhaupt irgendwo hinzureisen. Vielleicht missfiel mir an diesem Foto von Darrell, dass er darauf nicht lächelte. Auf jeder Aufnahme von uns beiden strahlte Darrell über das ganze Gesicht. Es war irgendwie komisch, ihn so ernst direkt in die Kamera schauen zu sehen. Er wirkte völlig fremd, und einen Augenblick lang – nur einen kurzen Moment – dachte ich, dass er etwas an sich hatte, was mir nicht gefiel. Ich schob den Gedanken beiseite. Das war das Gesicht des Mannes, an dessen Seite ich für den Rest meines Lebens aufwachen würde. Das war das Gesicht des Mannes, der mich noch vor ein paar Stunden leidenschaftlich geliebt hatte.

Ich nahm den aufgeschlagenen Pass fester in die Hand. Das war das Gesicht des Mannes, der seinen Flug nicht antreten konnte, weil er heute früh in der Eile dieses Reisedokument vergessen hatte.

Ich ging schnell zum Fenster, um Handyempfang zu bekommen, und überschlug bereits im Kopf, wie lange ich brauchen würde, um zum Flughafen zu fahren, sobald mein Wagen repariert war. Ich hatte keine Ahnung, welchen Flug er nahm, nicht mal, mit welcher Fluggesellschaft er reisen würde. Genau genommen wusste ich das nie . Das war mir zuvor noch nie aufgefallen, aber jetzt kam es mir merkwürdig vor. Müsste er mir so etwas nicht sagen? Sollte ich mich nach so etwas nicht erkundigen?

Gerade als ich mir schon sicher war, dass seine Mailbox rangehen würde, nahm Darrell ab. Die Verbindung war schlecht, und wegen der starken Hintergrundgeräusche musste er lauter sprechen, damit ich ihn verstand.

»Tut mir leid, Suzanne. Kannst du das bitte wiederholen? Was hab ich vergessen?«

»Deinen Pass, du Schussel! Du hast ihn zu Hause vergessen. Bist du schon am Flughafen?«

Bevor er antworten konnte, hörte ich im Hintergrund eine Lautsprecherdurchsage, einen letzten Aufruf für einen Flug.

»Ich weiß nicht, wie lange ich bis zum Flughafen brauche«, sagte ich. »Der Mann vom Pannendienst repariert noch den Wagen. Ich könnte aber ein Taxi nehmen.«

»Keine Sorge. Ich hab schon eingecheckt und bin auf dem Weg zum Gate.«

»Wie das denn? Ich habe deinen Pass doch hier, in meiner Hand«, sagte ich und hielt das Dokument unnötigerweise wie ein Beweisstück in einem Gerichtsverfahren hoch.

»Ja, das macht nichts, ich besitze zwei«, entgegnete er hastig, und seine Worte wurden wieder von einer lauten Durchsage übertönt. »Ich muss rennen, mein Gate schließt gleich. Ich ruf dich später an. Ich liebe dich«, sagte er, alles in einem Atemzug. Und dann hatte er aufgelegt.

Ich ließ mich auf die Bettkante sinken und blätterte stirnrunzelnd durch Darrells Pass. Wie war es möglich, dass er zwei Pässe besaß? War das überhaupt legal? Der in meiner Hand wirkte unbenutzt, obwohl er schon vor längerer Zeit ausgestellt worden war. Ich suchte nach einem Stempel oder einem Visum oder irgendetwas anderem, was darauf hingewiesen hätte, dass dieses Dokument jemals verwendet worden war, doch ich entdeckte nichts.

Das Informativste war wohl die Rückseite. Unter dem Punkt »Angehörige« sah ich meinen Namen. Sicher hätten dort doch seine Eltern stehen müssen und nicht ich? Selbst wenn Darrell und sie vorübergehend zerstritten waren, sie waren doch immer noch seine nächsten Angehörigen, solange wir nicht verheiratet waren. Vielleicht wusste er nicht, wo sie aktuell wohnten. Denn sosehr ich mich auch dahintergeklemmt hatte, ich hatte sie partout nicht in den sozialen Medien aufspüren können. Nicht, dass Darrell davon gewusst hätte, natürlich nicht, und auch nicht, wieso. Mein Plan, sie ausfindig zu machen und zu unserer Hochzeit einzuladen, war ein Geheimnis, ich hatte niemandem davon erzählt. Es sollte mein Überraschungsgeschenk für Darrell werden.

Als es klingelte, schreckte ich schuldbewusst hoch. Die Wohnung schien plötzlich voller Geheimnisse und Rätsel. Ich schob den Pass wieder in die Schublade und eilte zur Tür, wo der Mechaniker mir breit grinsend entgegenblickte.

»Alles erledigt, junge Frau«, sagte er und händigte mir die Schlüssel aus. Im Stillen beneidete ich ihn darum, dass er ein so einfaches und schnell lösbares Problem vor sich gehabt hatte. Ich hingegen war völlig erschöpft davon, dass auf jede meiner Fragen eine weitere folgte.

Immer noch ganz in Gedanken, rief ich zehn Minuten später den Aufzug, der mich in die Tiefgarage bringen sollte. Mir schwirrte der Kopf, und ich spürte erste Anzeichen wirklich höllischer Kopfschmerzen, als würden meine Schläfen in einer Schraubzwinge stecken. Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich, und ich betrat die Kabine und nickte dem anderen Liftbenutzer flüchtig zu.

»Tag«, sagte der junge Mann, wobei die Knappheit seines Grußes noch mehr über seine Nationalität verriet als sein typisch australischer Akzent.

»Hallo«, antwortete ich und klang dabei fürchterlich britisch und zugeknöpft. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber mir war nicht nach belanglosem Small Talk im Lift. Ich starrte auf meine Füße, als wären die Pumps plötzlich außerordentlich wichtig. Aus dem Augenwinkel sah ich jedoch die Füße des Mannes. Sie waren groß und steckten in vermutlich sehr teuren Turnschuhen. Es war kein besonders warmer Morgen, und trotzdem trug der Mann Shorts. Seine kräftigen, muskulösen Beine waren von rotbraunen Härchen übersät. Mein Blick wanderte hoch zu einem dünnen grauen Sweatshirt mit Universitätslogo. Der Mann hatte eine große Sporttasche geschultert, aus der ein zusammengerolltes Handtuch hervorschaute.

Wohl wissend, dass ich im nächsten Moment entweder etwas sehr Vernünftiges oder etwas höchst Dummes tun würde, wandte ich mich an ihn.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Es hört sich vielleicht seltsam an, aber sind Sie zufällig auf dem Weg ins Fitnessstudio?«

Man muss die Australier und ihre aufgeschlossene und lockere, freundliche Art einfach lieben. Der Mann schien durch die neugierige Frage einer Fremden überhaupt nicht verärgert, sondern deutete mit einem Kopfnicken auf seine Kleidung und die große Tasche und grinste. »Wie sind Sie nur darauf gekommen?«

Ich lächelte verlegen und wusste nicht, wie in aller Welt ich fortfahren sollte. »Sie wohnen bestimmt hier im Haus?« Er lächelte zurück und zwinkerte mir fast unmerklich zu. O Gott, jetzt dachte er, ich würde ihn anmachen, und nichts hätte mir ferner liegen können.

»Besuchen Sie das Fitnessstudio in der Barrack Road?«, fragte ich hastig.

»Ja«, antwortete er und lehnte sich mit dem Rücken an die Kabinenwand. Ganz offensichtlich dachte er immer noch, das hier sei ein Flirt.

»Ach … ja«, stammelte ich, atmete tief durch und beschloss dann, es durchzuziehen. Ich hielt ihm meine Hand hin. »Ich bin ›die Braut‹.«

Er wirkte für einen Moment verwirrt, dann legte er seine große Hand in meine und schüttelte sie herzlich. »Und ich der Bräutigam?«, fragte er zögernd, als würden wir gerade ein spannendes Flirt-Improtheaterstück spielen.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin ›die Braut‹. Soll heißen: ›Ich bin Darrells Verlobte‹. Sie haben mir vermutlich was ans Auto gesteckt.«

Sein Lächeln wurde schwächer. Er sah aus wie jemand, dem gerade bewusst wurde, dass die Frau, mit der er in einem kleinen Metallkäfig steckte, möglicherweise nicht alle Tassen im Schrank hatte.

»Tut mir leid. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Darrell Kingston. Wohnung 5 b. Wir heiraten in zwei Wochen.«

Sein Lächeln war nun verschwunden. »Äh … herzlichen Glückwunsch?«, sagte er unsicher und offenbar hoffend, er habe die richtige Antwort getroffen. Hatte er aber nicht.

»Darrell. Groß. Kastanienbraunes Haar. Ziemlich gut gebaut. Er geht auch in das Fitnessstudio in der Barrack Road.«

»Gutes Studio«, sagte mein neuer Freund von der anderen Seite des Erdballs.

»Sind Sie und Darrell befreundet? Trainieren Sie öfter zusammen?«

Der Mann schüttelte den Kopf und wirkte zutiefst erleichtert, als der Lift leise »ping« machte zum Zeichen, dass wir das Erdgeschoss erreicht hatten.

»Tut mir leid. Ich kenne keinen Darrell.«

Er musste meine Verwirrung, meine Zweifel und Gott weiß was noch in meinem Gesicht gesehen haben, denn tröstend schob er hinterher: »Aber er ist bestimmt ein toller Kerl.«

Noch vor Kurzem hätte ich ihm da ohne Zögern beipflichten können. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher.

Ganz offensichtlich bestrebt, der Situation zu entkommen – wer konnte es ihm verdenken –, ging mein australischer Mitfahrer voran in die Tiefgarage. Er zog die Wagenschlüssel aus seiner Shortstasche, was vermutlich der Auslöser für seine nächste Frage war.

»Was haben Sie noch mal gefragt? Irgendjemand hat was an den Wagen von Ihrem Freund gesteckt?«

Ich schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Nicht an seinen Wagen. An meinen. Aber machen Sie sich keinen Kopf. Ich hab mich wohl geirrt.«

»Du bist doch ziemlich viel gereist, stimmt’s?«, fragte ich.

Paul legte einen Haufen Manila-Umschläge in einen Drahtkorb und manövrierte seinen Postwagen geschickt in eine Lücke neben meinen Schreibtisch. Ich war erst vor einer Viertelstunde hier angekommen und hatte dann fast nur auf die Postlieferung um elf gewartet. Meinen Computerbildschirm zierten mindestens ein halbes Dutzend auf Post-its gekritzelte Telefonnachrichten, wie bunte Wimpel bei einer Geburtstagsfeier. Ich hätte die Haftnotizen abziehen, den Rechner hochfahren und zumindest so tun sollen, als würde ich arbeiten, doch ich musste immer noch verdauen, was ich in den fünf Stunden, seit Darrells geheimes Zweithandy mich geweckt hatte, erfahren hatte.

»Ja, kann man wohl sagen«, antwortete Paul mit einem lässigen Grinsen, was es mir umso rätselhafter erscheinen ließ, dass er Single war. »Wieso? Brauchst du Reisetipps? Wohin geht’s noch mal in die Flitterwochen?«

»Ich hab keine Ahnung. Es wird eine Überraschung«, sagte ich und klang dabei nicht gerade begeistert. Das passiert, wenn man sich unerwarteterweise mit einer Menge Geheimnisse und Rätsel konfrontiert sieht.

»Oh.« Paul schaffte es, in dieses nur aus zwei Buchstaben bestehende Wort eine Menge Bedeutung zu legen.

»Hast du bei deinen Reisen je davon gehört, dass jemand mehrere Pässe von ein und demselben Land besitzt?«

Man merkte sofort, dass ich sein Interesse geweckt hatte. Er stützte sich mit einem Ellbogen schräg auf einem Aktenschrank ab, sodass auf der anderen Seite sein T-Shirt-Saum hochrutschte. Normalerweise wäre das schmale Stück gebräunter Haut eine echte Ablenkung gewesen, doch an diesem Morgen … eher nicht.

»Ja, da fallen mir mehrere ein«, sagte Paul leichthin. Er begann an den Fingern abzuzählen: »Jason Bourne, James Bond, Ethan Hunt –«

»Wie wäre es mit echten Personen?«, unterbrach ich ihn und merkte mir zugleich die Film- und Buchreferenzen als interessante Informationen.

»Dann nur solche, die was mit Spionage zu tun haben«, antwortete er und begriff immer noch nicht, dass ich es ernst meinte. »Könnte das hinkommen?«

»Darrell hat zwei britische Pässe«, sagte ich ausdruckslos. »Also zwei, von denen ich weiß. Keinen Schimmer, wie viele er sonst noch besitzt.«

Paul wirkte für einen Augenblick völlig perplex. »Wieso hat er die?«

»Gute Frage. Ich hab nicht die geringste Ahnung.«

»Und was hat er gesagt, als du ihn darauf angesprochen hast?« Es war die naheliegendste Frage der Welt, und ich kam mir ziemlich dumm vor, dass ich darauf noch keine Antwort hatte. »Dafür war keine Zeit. Er musste einen Flieger erwischen.«

»Wahrscheinlich mit einem seiner vielen Pässe«, sagte Paul unbekümmert und entlockte mir überraschenderweise ein Lächeln. Wie konnte ich plötzlich irgendetwas an der Sache amüsant finden?

»Vermutlich. Vergiss es einfach. Ich hatte nur einen verrückten Morgen mit seltsamen Entdeckungen.«

»Muss der schlimmste Albtraum einer Buchhalterin sein«, neckte er mich, was mich erneut zum Lächeln brachte. Er schwieg einen Moment und wirkte zufrieden, bevor er fortfuhr: »Was diese Pass-Geschichte angeht: Bist du dir ganz sicher, dass dein Verlobter nicht für den Geheimdienst arbeitet?«

Ich lachte, aber es klang ein bisschen zittrig. »Ich glaube, im Moment bin ich mir bei gar nichts mehr sicher.«

Er nickte bedächtig, als würde er überlegen, wie er am besten durch ein Minenfeld gelangen konnte. »Hast du mal im Internet recherchiert, wie das mit mehreren Pässen ist?«

Ich hätte mir wegen meiner eigenen Dummheit am liebsten gegen die Stirn geschlagen, doch stattdessen schaltete ich rasch meinen Rechner an, zog die Sammlung von Post-its vom Bildschirm und wartete, dass der Computer hochfuhr.

Paul stellte sich hinter meinen Stuhl, sodass ich das Duschgel oder die Seife roch, die er in der Chefdusche benutzt haben musste. Darrell mochte Düfte mit schweren Gewürznoten, Paul hingegen duftete nach Meer, was Bilder von brechenden Wellen und langen Sandstränden bei mir weckte.

Ungeduldig klickte ich mit der Maus herum und bereute plötzlich, dass ich Paul indirekt eingeladen hatte, bei meiner Suche nach Antworten dabei zu sein. Dass er so dicht neben mir stand und ich seinen Atem in meinem Haar spürte, während er sprach, löste in meinem Körper eine unerklärliche und gefährliche Reaktion aus. Glücklicherweise schien er es überhaupt nicht zu bemerken.

»Na bitte«, sagte er, während er die Website auf dem Bildschirm las. »So was nennt sich Zweitpass und ist bei Leuten, die regelmäßig auf Geschäftsreise sind, nichts Ungewöhnliches.«

»Darrell reist definitiv viel.«

»Na, dann wäre das Rätsel ja gelöst«, sagte Paul zufrieden und ging wieder zu seinem Postwagen. Ich hätte ihn gern gebeten, noch etwas zu bleiben; ich wollte ihm von all den anderen Dingen erzählen, die mir plötzlich Sorgen bereiteten. Doch es war nicht sein Job, für mich als seelischer Mülleimer herzuhalten, und auch nicht, mein inneres Chaos zu entwirren. Oder mir dabei zu helfen, zu verstehen, wieso ich plötzlich das Gefühl hatte, als würde alles Risse bekommen und könnte jeden Moment auseinanderbrechen oder implodieren. Nichts davon war seine Aufgabe. Es war nicht einmal sein Job, meinen Freund und Vertrauten zu spielen, obwohl ich ihm offenbar diese Rolle zugeschrieben hatte. Ob er das überhaupt wusste?

»Dünn ist er geworden, findest du nicht?«

Ich hob den Kopf und sah meinem Vater hinterher, der gerade zur Herrentoilette ging.

»Ich finde, er sieht ziemlich gut aus. Er hat ein paar Kilo abgenommen, aber das steht ihm. Er wirkt ziemlich fit.«

Meine Mutter nippte langsam und bedächtig an ihrem Gin Tonic. »Ich nehme an, er hat dir von der schlimmen Geschichte im letzten Jahr erzählt?«

»Nein. Was für eine schlimme Geschichte?« Ich war alarmiert und setzte mich sofort aufrechter hin.

Meine Mutter leistete sich fast nie einen Patzer. Ein Fauxpas kam bei ihr viel seltener vor als bei mir. Daher war es sowohl ungewöhnlich als auch beunruhigend, jetzt ihr Unbehagen wahrzunehmen.

»Wahrscheinlich wollte er nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Vielleicht, aber dafür hast du ja gerade gesorgt.« Ich war ernsthaft besorgt. »Also – was für eine schlimme Geschichte?«

»Ein Herzinfarkt«, erwiderte sie knapp und mit schmalen Lippen, als würde sie sie fest zusammenpressen, um nur ja keine weiteren Geheimnisse zu verraten. »Nur ein leichter – behauptet er zumindest.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Und du wusstest davon und hast mir nichts gesagt?«

»Wie denn?«, antwortete sie, sichtlich entrüstet über meinen scharfen Ton. »Er hat es mir erst gestern beim Mittagessen erzählt, und jetzt sag ich es dir. Hier wurde nichts verheimlicht.«

Ich lehnte mich auf dem roten Samtpolsterstuhl zurück. Ständig wurde ich von neuen Überraschungen umgehauen, als stünde ich in einem Boxring. »Du warst gestern mit Dad essen? Ohne mich? Ohne mir ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen? «

Vielleicht kam das wehleidiger und kläglicher rüber, als es in meinem Kopf geklungen hatte, denn meine Mutter hob vornehm die Augenbrauen. »Du warst im Büro«, sagte sie. »Und ich dachte, es wäre das Beste, wenn dein Vater und ich unter vier Augen reinen Tisch machen, bevor der ganze Hochzeitstrubel richtig losgeht. Außerdem wollte ich einfach wissen, wie groß mein Drang noch ist, ihn umzubringen.«

Den letzten Satz sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. Manche Leute verstanden ihren Humor nicht. Glücklicherweise gehörte ich nicht dazu.

»Und? Hattest du Mordgelüste?«

»Überraschenderweise nicht.« Sie schaute aus dem Fenster, verbarg ihre verräterischen Augen vor mir. »Er hat sich verändert.«

In dem Moment zog unser Gesprächsgegenstand seinen Stuhl zurück und nahm wieder am Tisch Platz.

»Mum hat gesagt, du hattest einen Herzinfarkt«, schoss ich los, noch bevor Dad sich richtig hatte setzen können. »Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«

Er zuckte mit den Schultern, als wäre es nicht der Rede wert, warf meiner Mutter aber einen strengen Blick zu. »Es war eher ein Warnschuss, nichts wirklich Schlimmes«, antwortete er und griff nach seinem Glas Mineralwasser mit Eiswürfeln. Das war eine weitere Überraschung, offensichtlich trank er keinen Alkohol mehr. Doch der größte Schock war, dass meine Eltern irgendwie wie ein sehr zivilisiertes geschiedenes Ehepaar wirkten.

»Und geht’s dir jetzt besser? Hast du dich wieder ganz erholt? Musst du dich schonen? O Gott, vielleicht hätte ich dich gar nicht zur Hochzeit einladen sollen. Das ist zu viel Stress.«

»Ich hab keinen Stress«, entgegnete er ruhig, und es klang überzeugend. »Höchstens vielleicht wegen deiner Mutter, die kein Geheimnis für sich behalten kann.«

»Von Geheimnissen hab ich eigentlich schon mehr als genug«, rutschte es mir heraus.

Als hätten sie es einstudiert, schauten sie synchron zu mir. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt Objekt solch gemeinsamer elterlicher Aufmerksamkeit gewesen war.

»Stimmt irgendwas nicht?«

»Was ist denn passiert?«

Angesichts ihrer vereinten Besorgnis wäre ich beinahe eingeknickt. Doch was ich dann gesagt hätte, hätte Darrell in ein ungutes Licht gerückt, und ihre Meinung von ihm war ohnehin nicht besonders positiv, daher war es so kurz vor der Hochzeit eindeutig nicht der richtige Moment, um das Thema anzusprechen.

»Hat das was mit seiner psychisch kranken Ex-Freundin zu tun, die euch nachstellt?«, wollte meine Mutter wissen.

Ich schaute zu meinem Vater, der sich in die Speisekarte vertieft hatte, als hoffte er, meinem Zorn zwischen den Vorspeisen und den Hauptgerichten zu entgehen.

»Wer kann hier noch mal nichts für sich behalten?«, fragte ich und war mir nicht sicher, ob ich es gut oder schlecht fand, dass die Katze jetzt ganz aus dem Sack war.

»Na ja, ich bin sehr froh, dass dein Vater es mir erzählt hat«, warf meine Mutter ein. »Wirklich, Suzanne, ich bin ziemlich enttäuscht, dass du mir nicht genug vertraust, um es mir selbst zu sagen.«

»Das war nicht der Grund«, betonte ich so schuldbewusst, wie ich mich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte, wahrscheinlich seit den vielen enttäuschenden Prüfungsnoten in Englisch nicht mehr. »Darrell und ich haben beschlossen, dass es das Beste ist, nicht darauf zu reagieren. Wer auch immer dahintersteckt, will uns offensichtlich ängstigen und nervös machen, und wahrscheinlich nervt es diesen Menschen am meisten, wenn man so was einfach ignoriert.«

»Und das scheint dir klug? Eine potenzielle Psychopathin zu verärgern? Brillanter Plan, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Da sieht man, wer in dieser Familie die Autorin mit der überbordenden Fantasie ist«, erwiderte ich trocken. »Du machst aus einer Mücke einen Elefanten.«

»Deine Mutter hat völlig recht«, sagte mein Vater und legte die Speisekarte neben seinem Teller ab. Solch einen Satz hatte ich nach meiner Erinnerung noch nie aus seinem Mund gehört, und es dauerte einen Moment, bis er bei mir sackte. Dem Blick meiner Mutter nach zu schließen, ging es ihr ähnlich.

»Unterschätz das nicht, das ist eine ernste Sache. Ich verstehe nicht, wie dein Verlobter dabei so verflucht ruhig bleiben kann. Wenn jemand die Frau bedrohen würde, die ich liebe, dann wäre aber die Hölle los.« Es entstand ein peinlicher Moment, als er zu meiner Mutter schaute und ihre Blicke sich begegneten. Ich war fassungslos, als sie unter ihrem perfekt aufgetragenen Make-up leicht errötete.

»Weißt du, vielleicht wäre es nicht die schlechteste Idee, zu überlegen, ob du die Hochzeit verschiebst, bis diese ganzen unangenehmen Dinge sich beruhigt haben.«

Wütend schoss ich zurück: »Hier wird überhaupt nichts verschoben! Alles ist gebucht, die Gäste sind eingeladen, mein Kleid ist fertig. Alle Ampeln stehen auf Grün.« Ich atmete einmal tief durch und fuhr dann gemäßigter fort: »Ich weiß, du sagst das bloß, weil du dir Sorgen um mich machst, aber wir haben alles unter Kontrolle, wirklich, und die Hochzeit wird auf jeden Fall stattfinden. Sie abzublasen ist keine Option.«

Eine Weile lang herrschte Schweigen, und keiner von uns sah die anderen an. Ich hatte gedacht, meine Aufgabe heute würde es sein, zwischen meinen zwei zankenden Eltern als Schiedsrichterin zu fungieren. Ich hätte nie erwartet, dass sie beide in ihrem Widerstand gegen die Hochzeit ihres einzigen Kindes plötzlich einer Meinung sein würden.

Als ich zur Speisekarte griff, standen mir Tränen in den Augen, sodass ich die verschwommenen Buchstaben nicht entziffern konnte. »Ich weiß, ihr könnt Darrell nicht besonders gut leiden«, sagte ich leise.

Es folgte die unvermeidliche peinliche Stille, die meine Mutter schließlich beendete. »Ich habe eher das Gefühl, so vieles von ihm immer noch nicht zu wissen. Selbst du musst doch zugeben, dass manches an ihm rätselhaft ist. Mal ganz davon zu schweigen, dass du seine Familie bisher noch nicht kennengelernt hast.«

Ich wollte zum x-ten Mal erwidern, dass er sich mit seinen Eltern nicht mehr verstand, und hatte schon den Mund geöffnet, doch Mum hob ihre perfekt manikürte Hand. »Ja, ich weiß, sie reden nicht mehr miteinander und werden nicht zur Hochzeit kommen. Aber vielleicht würden wir das Ganze besser verstehen, wenn wir wüssten, wieso

»Ich hab mich immer für einen ziemlich guten Menschenkenner gehalten – das muss man auch sein, wenn man wie ich eine Bar führt«, sagte mein Vater. »Man entwickelt ein Gespür für Ärger, bevor er überhaupt richtig losgeht; man hat ein Auge für diejenigen Gäste, die Stress wollen und allen anderen den Abend verderben werden. Und manchmal erfährt man mehr durch das, was jemand nicht sagt.«

Ich wischte mir mit den Fingern unter den Augen entlang. Meine Wimpern waren nass und verklebt. »Dann liegst du mit deinem Gespür diesmal leider völlig falsch, Dad. Schade, dass ihr beide meine Wahl nicht gutheißen wollt, aber Fakt ist: Darrell ist meine Wahl. Und jetzt müsst ihr mir einfach genug vertrauen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Es waren noch fünf Tage bis zu unserer Hochzeit.