Kapitel 6

A m letzten Arbeitstag vor der Hochzeit versuchte ich fieberhaft, meine noch unerledigten Aufgaben abzuschließen, damit ich unbesorgt in die Flitterwochen fahren konnte. Zwischendurch schielte ich immer wieder argwöhnisch zum Telefon auf meinem Schreibtisch und zuckte zusammen, wenn es klingelte. An den letzten drei Abenden hatten wir mitten in der Nacht Anrufe bekommen. Anrufe von einer unterdrückten Nummer. Natürlich wurde sie unterdrückt. Die Person hatte auch nichts gesagt. Es war egal, ob ich schwieg oder mehrfach nachfragte: »Wer ist da?« Es kam keine Antwort.

Meine Festnetznummer stand im Telefonbuch. Doch sobald wir aus den Flitterwochen zurück waren, würde ich mich aus allen Verzeichnissen austragen lassen und die Nummer wechseln.

Darrell hatte mir beim letzten Anruf das Telefon aus der Hand gerissen, sich aus dem Bett geschwungen und in den Hörer gemurmelt: »Catherine?« Meine Nackenhärchen hatten sich aufgestellt. Er hatte mir gegenüber noch nie ihren Namen genannt. Er hatte gesagt, sie sei Vergangenheit und habe keinen Platz in unserem Leben.

»Ich denke eher, er will verhindern, dass du sie auf Facebook findest und zur Rede stellst«, spekulierte Karen. Es war schwer, gegen sie zu argumentieren, besonders, wenn sie den Finger genau in die Wunde gelegt hatte. »Weißt du, anstatt deine Zeit mit der Suche nach Darrells Eltern zu verschwenden, hättest du probieren sollen, seine gestörte Ex ausfindig zu machen. Dann könnten wir bei ihr vorbeifahren und … und …«

»Und was?«, fragte ich. »Ihr drohen? Sie unter Druck setzen? Sie einschüchtern? Wie sie das mit mir gemacht hat?«

»Punkt an dich«, grummelte Karen. »Wie läuft’s denn eigentlich mit deinen Recherchen über seine Familie? Hast du noch irgendwas rausgefunden?«

»Rein gar nichts. Ich dachte, das wäre eine gute Idee für eine Überraschung zur Hochzeit, aber es war alles umsonst. Jede Spur führt in eine weitere Sackgasse, egal ob in England oder Australien. Als wären sie vom Erdboden verschluckt oder was weiß ich.«

Natürlich war es ziemlich grenzwertig, in Darrells Vergangenheit herumzuschnüffeln, und ich hatte solche Vorsicht walten lassen, als würde ich auf einem Drahtseil balancieren. Doch ich tat es ja mit den besten Absichten. Und es wäre auch nur vorübergehend ein Geheimnis gewesen. Ich hätte ja schließlich alles offengelegt, und er wäre mir am Ende dankbar dafür gewesen. Oder nicht?

Ich sah es so deutlich vor meinem inneren Auge wie einen Kinofilm. Darrell würde zur Hochzeit erscheinen, und seine Eltern würden dort auf ihn warten. Zuerst wäre er geschockt und vielleicht auch etwas wütend. Doch dann würde irgendwer die Arme ausbreiten, und jemand anderes würde zu weinen beginnen. Und dann würden Entschuldigungen und Erklärungen folgen und daraufhin Tränen der Vergebung …

Bloß schien es unwahrscheinlich, dass es noch so kommen würde. Ich starrte das Foto von Darrell auf meinem Schreibtisch an. Was ist zwischen dir und deinen Eltern vorgefallen? Was war so schrecklich, dass du nicht mal weißt, in welchem Land sie jetzt leben? Selbst wenn ich durch irgendein Wunder Darrells verschollene Eltern noch aufspüren würde, war jetzt nicht mehr genug Zeit, sie zur Hochzeit einfliegen zu lassen – vorausgesetzt, sie würden überhaupt kommen wollen.

»Dann hängst du also deinen Nebenjob als Sherlock Holmes an den Nagel?«, hob Karen wieder an.

»Mach dich nicht über mich lustig.«

Sie nahm einen Bissen von ihrem Salat und kaute missmutig. »Ich weiß nicht, wieso ich eigentlich noch Diät halte. Deine Hochzeit ist in weniger als achtundvierzig Stunden; es ist jetzt zu spät, um in meinem Brautjungfernkleid schlank rüberzukommen.«

»Du wirst umwerfend aussehen«, versicherte ich ihr und versuchte zu ignorieren, dass mein Magen sich schmerzhaft zusammenzog, weil wir jetzt schon in Stunden angeben konnten, wann ich Mrs Darrell Kingston wurde.

»Mich wird sowieso keiner beachten«, fuhr Karen fort. »In deinem tollen Hochzeitskleid ziehst du doch alle Blicke auf dich.«

»Wo wir gerade beim Thema sind, ich hab heute früh mit Gwendoline von Fleurs gesprochen, sie bringt das Kleid am Hochzeitsmorgen persönlich ins Hotel.«

»Super. Dann brauchst du dir wenigstens darum keine Sorgen zu machen«, sagte Karen und stibitzte ungeniert eine Pommes von meinem Teller.

Das Hotel war ein hübsches umgebautes Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert. Man erreichte es über eine lange, gewundene Kieszufahrt, die zwischen Bäumen hindurch verlief, sodass man ab und zu einen kurzen Blick auf das Hauptgebäude erhaschen konnte, bis man den großen kreisförmigen Vorplatz erreichte. Ich ließ mich von einer Reihe kleiner, diskret positionierter weißer Holzwegweiser zum Parkbereich für die Gäste leiten. Karen war schon vor Ort, lehnte an ihrem Wagen und nahm mit ihrem Handy eine Sprachnachricht auf.

Der tiefe Kies knirschte unter ihren Sandalen, als sie zu mir herüberkam.

»Du bist aber früh dran!«, rief ich und umarmte sie. Ich war merkwürdig gerührt und spürte einen Kloß im Hals. »Ich kann’s nicht glauben. Du bist doch sonst nie überpünktlich.«

»Und du immer «, sagte sie mit wissendem Nicken. »Deshalb hab ich mir gedacht, meine Pflicht als erste Brautjungfer ist es, vor dir hier zu sein und dich zu begrüßen.«

»Wie kannst du die erste Brautjungfer sein, wenn du die einzige bist?«, fragte ich, während ich meine Reisetasche aus dem Kofferraum hievte. Darrell hatte sie heute früh für mich hinuntergetragen, bevor er sich mit einer langen To-do-Liste auf Besorgungstour gemacht hatte.

»Leg sie einfach in den Kofferraum. Und du brauchst den Wagen nicht abzuschließen«, hatte ich gesagt und ihn in meiner offenen Wohnungstür zum Abschied geküsst. »Ich fahr in einer Viertelstunde los.«

Darrell hatte mich langsam an sich gezogen und sich im Hausflur einen letzten Kuss von mir gestohlen. Ich hatte über seine Schulter einen Blick in den leeren Gang geworfen. Es war noch früh am Tag, und keiner von meinen Nachbarn war zu sehen, und doch kam es mir unangemessen vor, in einem kurzen Seidenmorgenmantel, der nur sehr dürftig die Konturen meiner Brüste verbarg, vor der Wohnungstür zu stehen.

»Darrell, nein, wenn uns jemand sieht …«, sagte ich wie eine keusche Nonne, als er mit der Hand nach meinem Busen tastete und durch den Satinstoff die Brustwarze fand. Er löste seine Lippen von meinen, ließ seine Hand aber an Ort und Stelle.

»Hier ist niemand«, raunte er heiser, was mir genau verriet, woran er gerade dachte.

Ich legte ihm beide Hände auf die Brust und schob ihn von mir weg. »Es reicht«, sagte ich und milderte die Worte mit einem Lächeln ab. »Du hast noch so viel zu erledigen, und ich muss auch bald los, um mich den ganzen Tag lang verwöhnen zu lassen.«

Darrell ließ lächelnd von mir ab, und ich trat zurück in die Geborgenheit meiner vier Wände. »Bis heute Abend um sieben, beim Begrüßungsessen«, sagte ich und hielt den Morgenmantel schamhaft zu.

Als Karen und ich zum Hoteleingang gingen, überkam mich ein seltsam unwirkliches Gefühl. Durch die Bäume erhaschte ich einen Blick auf den See, an dem man bereits damit begonnen hatte, das Partyzelt aufzubauen, wo Darrell und ich morgen unsere Hochzeitsschwüre ablegen würden. Heute Abend würden wir für zwanzig Personen in einem der kleinen privaten Salons des Hotels ein Begrüßungsabendessen ausrichten.

Dann, morgen um elf Uhr … Wie aus dem Nichts beschwor mein Unterbewusstsein das Geräusch eines Postwagens herauf, der über Teppichboden geschoben wurde. So wunderlich funktioniert das Gehirn. Während man über eine Sache nachdenkt, wirft es aus reiner Boshaftigkeit einen weiteren Gedanken dazu, nur um zu schauen, was sich daraus entwickelt.

Ich schüttelte den Kopf, um das unpassende Bild zu vertreiben. Es war ein unglücklicher Zufall, dass ich die Uhrzeit, zu der ich einem Mann das Jawort geben sollte, mit einem ganz anderen Herrn der Schöpfung in Verbindung brachte. Ich hatte wirklich zu viel Zeit damit verbracht, bei der Arbeit auf die Uhr zu sehen und auf Pauls Postrunde zu warten, und jetzt bekam ich dafür die Quittung. Meinen Trauungstermin konnte ich schlecht ändern, aber meinem täglichen Plausch mit Paul konnte ich ein Ende setzen. Nach der Hochzeit würde ein neues Kapitel beginnen.

Heute sollte ich überhaupt nicht an Paul denken, sagte ich mir, als ich die Steinstufen zum Eingang des Hotels hinaufstieg. Dafür gab es keine Entschuldigung, ich hatte ihn in den letzten Tagen ja nicht einmal gesehen. Seit einer Woche schon nicht mehr, wurde mir in dem Moment bewusst. Die ganze Woche über hatte einer seiner Kollegen die Post verteilt, und am dritten Tag – als ich mich beiläufig erkundigt hatte, wo Paul war – erfuhr ich, er habe sich eine Weile freigenommen. Für die merkwürdige Enttäuschung, die ich verspürte, weil er mir das nicht selbst gesagt hatte, fand ich keine Erklärung. Schließlich konnte er tun und lassen, was er wollte – besonders, da ihm die Firma quasi gehörte oder zumindest eines Tages gehören würde. Doch eine leise Stimme in meinem Kopf fragte immer wieder, wieso er es mir nicht erzählt hatte. Vielleicht war es an der Zeit, sich endlich einzugestehen, dass einer von uns beiden wohl deutlich mehr in unsere Schwätzchen um elf Uhr hineininterpretiert hatte, als logisch gewesen wäre.

Wir hatten gerade genug Zeit gehabt, um einzuchecken, da standen schon unsere ersten Behandlungen im hoteleigenen Spa an.

»Also dann, bis in fünf Minuten«, sagte Karen und verschwand am Ende des Korridors in ihrem Zimmer.

Meines war wunderhübsch, mit Stilmöbeln und viel Chintz-Stoff. Es gab sogar ein Himmelbett, das mich aus einem unerfindlichen Grund total begeisterte. Ich warf meine Reisetasche aufs Bett und zog den Reißverschluss auf, um die Kulturtasche für das Spa herauszunehmen.

Ich sah »ihn« sofort, denn er lag direkt obenauf, wo er definitiv nicht hingehörte.

Anders als bei den vorherigen Nachrichten handelte es sich nicht um eine Karte, und der Zettel war auch nicht speziell an mich adressiert. Doch da er sich in meiner Reisetasche befand, und zwar genauer gesagt direkt auf meiner Unterwäsche, bestanden wohl kaum Zweifel daran, an wen er gerichtet war. Ich wollte den Zettel nicht einmal berühren. Er gehörte nicht zwischen meine Sachen.

Es war ein liniertes weißes Blatt Papier, das offenbar hastig aus einem Notizbuch herausgerissen worden war. Selbst die Schrift wirkte gehetzt, als hätte der Schreiber oder die Schreiberin den Text schnell hingekritzelt, um nicht erwischt zu werden. Ich wischte den Zettel beiseite, als würde er meine Kleidung beschmutzen. Er fiel auf den pinkfarbenen Teppich, wie ein hässlicher Fremdkörper in meinem hübschen Hotelzimmer.

Schämen Sie sich nicht? stand darauf in großen, ungelenken Buchstaben. Er hat Sie überall berührt.

Sie war bei mir im Haus gewesen. Irgendwo im Flur hatte sie gestanden und beobachtet, wie Darrell und ich rumgemacht hatten. Mein Magen reagierte sofort, als hätte ich Gift geschluckt. Ich hastete ins Bad, die Hand auf den Mund gepresst, und schaffte es gerade noch bis zur Toilette, bevor ich mein Frühstück von mir gab.

Danach war sie überall. Und nirgends. Sie war die Frau im Jacuzzi, die mich aus schmalen Augen böse ansah, als ich aus dem Whirlpool stieg. Sie war die Nagelpflegerin, die mir bei der Maniküre die Nagelhaut verletzte und nur eine halbherzige Entschuldigung murmelte. Sie war die Frau im Restaurant, die allein am Katzentisch saß und die anderen Gäste musterte, die allesamt, uns eingeschlossen, weiße Bademäntel trugen.

»Sicher, dass alles okay ist? Du siehst nicht gerade entspannt und relaxt aus«, bemerkte Karen besorgt, nachdem die Kellnerin uns Kaffee nachgeschenkt hatte. Natürlich hatte ich den ganzen Tag über versucht, meine Nervosität vor Karen zu verheimlichen. Anscheinend jedoch mit mäßigem Erfolg.

»Ich bin entspannt«, erwiderte ich beharrlich und rührte meinen Kaffee deutlich energischer um als notwendig, sodass der Löffel laut gegen das Porzellan klimperte. »Es ist bloß das Lampenfieber vor der Hochzeit. Ist doch ein großer Schritt, so eine Heirat«, fügte ich unnötigerweise hinzu.

Karen sah mich aufmerksam an, und ich konnte ihren inneren Widerstreit beinahe hören. Rede jetzt, oder schweige für immer.

Sie beschloss zu reden. »Hör mal, du musst das morgen nicht machen. Wenn du irgendwelche Zweifel hast oder in letzter Minute kalte Füße kriegst, dann wird es dir keiner vorwerfen, wenn du die Hochzeit abbläst oder verschiebst.«

So etwas erwartet am Tag vor der Hochzeit wirklich niemand von seiner Brautjungfer! Wobei ich es ihr allerdings kaum verdenken konnte, dass sie eins und eins zusammenzählte und dabei drei herauskam, weil ich ihr nichts von der widerwärtigen Nachricht erzählt hatte und wie sie in mein Gepäck geraten war. Es gab nur einen einzigen Menschen, mit dem ich das diskutieren wollte, und den würde ich erst in sechs Stunden wiedersehen. Es würde warten müssen.

»Meine Füße sind wunderbar warm«, sagte ich und hob zur Demonstration einen an, der in einem Frotteepantoffel steckte. Die frisch lackierten, leuchtend pinkfarbenen Nägel sahen unverschämt fröhlich aus, was so gar nicht zu meiner Stimmung passte. »Und wenn siebzig Freunde und Verwandte bereits auf dem Weg hierher sind oder morgen anreisen, ist es nun wirklich zu spät, um sich irgendwas noch mal zu überlegen.«

»Bis du tatsächlich ›Ja‹ sagst, hast du alle Zeit der Welt«, versicherte mir Karen und nickte mir ermutigend zu. In dem Moment wurde mir klar, dass sie vielleicht tatsächlich hoffte, dass ich alles abblies. Aber warum? Ich dachte, sie hätte ihre Bedenken gegenüber Darrell abgelegt. Hatte er recht? Nahm sie es mir etwa übel, dass ich vor ihr unter die Haube kommen würde? Diese Überlegung war völlig verrückt, und doch dachte ich plötzlich das Undenkbare: War Karen womöglich diejenige, die heimlich zu meinem unverriegelten Wagen geschlichen war und den Zettel in der Tasche deponiert hatte?

Hastig stand ich auf, ich wollte nicht, dass diese hässliche Idee in mir Wurzeln schlug. »Mir geht’s gut. Alles ist in Ordnung. Wenn man davon absieht, dass uns nur noch vier Minuten bleiben, um zur Hot-Stone-Massage zu gehen.«

Karen schlief während der Behandlung ein, doch auch wenn das erwärmte Öl und die gekonnt platzierten Steine eine entspannende Wirkung hatten, bekam ich meine Angst nicht in den Griff. Ich steckte im Alarmmodus fest, wo ich auch bleiben würde, bis Darrell mir den schmalen Platinring an den Finger stecken und hoffentlich niemand während der Trauung aufspringen und Einspruch erheben würde.

Darrell übernachtete nicht im Hotel. Wir hatten beschlossen, zumindest in diesem Punkt die Tradition zu wahren und die Nacht vor der eigentlichen Trauung getrennt voneinander zu verbringen. Er wollte am Abend nach dem Begrüßungsabendessen in seine Wohnung fahren. Doch ich hatte an der Rezeption eine Nachricht für ihn hinterlegt und die Hotelangestellten gebeten, ihm meine Zimmernummer zu geben, sobald er am Abend eintraf.

Ich legte gerade letzte Hand an mein Make-up, als es leise an der Tür klopfte, gefolgt vom Klang seiner Stimme, die in einem Singsang »Zimmerservice« säuselte.

Obwohl sich in meinem Bauch eine nervöse Elefantenherde austobte, musste ich lächeln. Ich schaute durch den Türspion. Die Linse verzerrte das Bild meines Zukünftigen, sodass er für einen Augenblick wie ein Fremder im Spiegelkabinett wirkte, bis er etwas näher an die Tür trat und wieder Darrell war. Ich öffnete die Verriegelung, ergriff seine Hand und zerrte ihn buchstäblich ins Zimmer.

»He, machen Sie mal halblang«, sagte er, immer noch in einer ganz anderen Spur. »Ich werde bald heiraten, und so was hier ist definitiv nicht im Zimmerservice inbegriffen. Tatsächlich –« Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, brach er abrupt ab. Ich brauchte nichts weiter zu sagen.

»Was ist diesmal passiert?«

Ich ging zum Kleiderschrank und öffnete die unterste Schublade. Darin lagen zwei Dinge: eine Bibel, gespendet vom Gideonbund, und der bewusste Zettel. Wenn ich gehofft hatte, dass das Gute im einen Gegenstand das Böse im anderen bezwingen könnte, hatte ich mich geirrt. Die hingekritzelten Worte trafen mich auch jetzt wieder wie ein Schlag in die Magengrube.

Als Darrell den Zettel las und ich ihm erzählte, wo ich ihn gefunden hatte, wurde er zunächst blass und dann kreidebleich. Ich beobachtete, wie ihm ein feiner Schweißfilm auf die Haut trat. Mit steifen Schritten ging er zum Himmelbett und ließ sich schwer auf den Bettrand sinken. Den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, vergrub er die Hände in den Haaren. Fast unmerklich schüttelte er dann den Kopf, als würde er einer Stimme widersprechen, die nur er hörte.

Mehrere Minuten lang sagte ich nichts und ließ ihn die Neuigkeit verarbeiten. Ich ging davon aus, dass er irgendwann den Kopf heben und mir eine seiner üblichen Antworten geben würde. Darüber brauchen wir uns keine Sorgen zu machen oder Wir ignorieren das einfach . Selbst auf eine neue Runde von Wir wissen doch gar nicht, ob sie dahintersteckt war ich vorbereitet. Womit ich nun wirklich nicht gerechnet hatte, war seine Reaktion in einem niedergeschmetterten Ton, als sei etwas in ihm zerbrochen.

»Ich glaube, wir sollten die Hochzeit abblasen.«

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie ich zu ihm ging. Im einen Moment stand ich noch neben der Frisierkommode, im nächsten spürte ich den Teppichflor unter meinen Knien und sah verstört zu ihm hoch.

»Was? Nein! Das geht nicht.«

Er griff nach meiner Hand und bekam sie nicht gleich zu fassen, denn in seinen Augen standen plötzlich Tränen. Das schockierte mich mehr als die Nachricht selbst. Es war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah, und eine Sekunde lang war ich völlig verwirrt und wusste nicht, was ich tun sollte. Vielleicht zögerte ich auch einen Augenblick, nur einen winzigen, und stellte mir eine Welt vor, in der ich einfach entgegnete: Na gut, bevor meine Vernunft sich zurückmeldete. Meine rationale Seite, die das letzte halbe Jahr einen Hochzeitsplanungsordner mit sich herumgeschleppt hatte, die genau wusste, wie jede einzelne Minute der nächsten vierundzwanzig Stunden ablaufen sollte. Und jetzt die Hochzeit abzublasen, wegen … wegen dieser Frau … das stand einfach nicht auf dem Plan.

»Vielleicht war es das ja jetzt«, sagte ich verzweifelt und nahm seine Hände derart fest in meine, dass seine Finger fast so weiß wurden wie sein Gesicht. »Vielleicht war das der letzte Versuch, uns den Tag zu verderben. Und wenn wir die Hochzeit absagen, dann hat die Person es doch geschafft! Dann hat sie einen Keil zwischen uns getrieben, zwischen dich und mich, und wir werden nie darüber hinwegkommen.«

Er löste eine Hand aus meinem Griff, wischte sich über die Augen und wirkte beinahe überrascht darüber, dass seine Fingerspitzen feucht waren. Es brach mir das Herz, als ich begriff, dass er die Tränen zuvor nicht einmal bemerkt hatte.

»Was willst du also tun?«, fragte er und sah mir so tief in die Augen, dass ich das Gefühl bekam, meine Seele wäre nackt und bloßgelegt. »Was du auch vorhast, Suzanne, ich mache mit.«

Ich schloss die Augen, um seinen Blick nicht länger ertragen zu müssen. Es war, als stünde ich in einem Gang, der sich in zwei Richtungen teilte. Wenn ich die eine nahm, würde ich Mrs Darrell Kingston werden, wenn ich die andere wählte, wäre ich wieder Single, denn wenn ich die Hochzeit abblies, wäre ein »wir« danach nicht mehr vorstellbar. Ein Weg führte zum Leben als verheiratete Frau, der andere ermöglichte mir die Freiheit, zu tun oder zu lassen, was immer ich wollte: Dates zu haben oder keine Dates zu haben; allein zu leben oder mit jemandem zusammen; jeden Tag auf die Uhr zu schauen und auf etwas zu warten, das derart zu ersehnen ich gar kein Recht hatte, oder nach vorn zu blicken.

»Niemand wird mich daran hindern, dich zu heiraten«, sagte ich entschieden. »Niemand. Wer auch immer das versucht, ob es nun Catherine ist oder …« Ich hörte, wie Darrell nach Luft schnappte, weil er überrascht war, dass ich mich an ihren Namen erinnerte – als hätte ich ihn jemals vergessen können. »Ob es nun sie ist oder jemand völlig anderes, das ist egal. Diese Person weiß nicht, wo wir uns aufhalten oder wie sie zu uns gelangen könnte. Sie kennt den Namen des Hotels nicht und hat keine Ahnung, dass morgen unser Hochzeitstermin ist. Und sobald wir wieder in unserem Alltag angekommen sind, wird es vorbei sein. Wir sind dann verheiratet, und das alles wird endlich aufhören.«

Darrell erwartete mich im Foyer des Hotels. Er hatte gesagt, er wolle sich auf dem Gelände die Füße vertreten, um sich zu beruhigen und den Kopf frei zu bekommen, bevor unsere Gäste zu uns stießen – die allesamt entweder Verwandte oder Freunde von mir waren. Wenig überraschend, hatten die Leute, die er eingeladen hatte, die Einladung höflich abgelehnt.

Darrell reichte mir die Hand, als ich die geschwungene Treppe heruntergekommen war, und ich spürte seinen anerkennenden Blick. Mein kurzes rotes Cocktailkleid mit dazu passenden Riemchen-High-Heels war sexy und ein bisschen gewagt und absichtlich so gewählt, weil es mit dem klassisch schönen Hochzeitskleid kontrastierte, das ich am nächsten Tag tragen würde.

»Das kenn ich ja noch gar nicht«, flüsterte er in mein Haar, als er sich zu mir herabbeugte, um mich zu küssen.

Am nächsten Tag würde ich mein Haar in einem lockeren, mit frischen Blumen geschmückten Dutt tragen, doch heute Abend fiel es in sanften Locken offen über meine Schultern. Ich roch den Hauch von Alkohol in Darrells Atem, noch bevor ich ihn auf seinen Lippen schmeckte. Darrell hatte sich wohl statt eines Spaziergangs eine alternative Methode zur Beruhigung gesucht.

»Ich glaub, es sind schon alle da«, sagte er und führte mich zu unserem Salon. Ich hatte einen Augenblick lang Schuldgefühle, weil ich unsere Gäste nicht in Empfang genommen hatte, doch Darrell und ich hatten einfach Zeit gebraucht, um uns von dem Schock zu erholen, den wir beide unbedingt vor unseren Gästen verbergen wollten.

»Mach dir keine Gedanken«, antwortete Darrell, als ich ihm sagte, wie unhöflich das wirken musste. »Deine Eltern scheinen sich in der Rolle der stellvertretenden Gastgeber sehr wohlzufühlen.«

»Was? Beide zusammen? Ohne sich zu streiten, ohne Differenzen?«

»Ich hab nichts dergleichen bemerkt«, bestätigte Darrell und legte die Hand auf den verzierten Messinggriff der Tür zum Salon. »Sie sind sogar im selben Taxi gekommen.« Ich sah ihn erstaunt an. »Würde mich nicht überraschen, wenn in der Familie Walters demnächst eine weitere Hochzeit stattfände«, sagte er augenzwinkernd.

Ich war immer noch dabei, mir zu überlegen, wie ich zu alldem stand, als er schwungvoll die Tür öffnete und wir von freudigen Rufen und – peinlicherweise – auch einem kleinen Applaus begrüßt wurden.

Die Hochzeitsfeierlichkeiten hatten begonnen.

Wegen des rasanten Tempos, in dem wir uns verlobt hatten, bekamen viele meiner Verwandten Darrell bei diesem Begrüßungsessen erstmals zu Gesicht. Es hätte eine peinliche Situation werden können, ihn Fremden vorzustellen, die einen Tag später seine Verwandtschaft sein würden. Doch Darrell war diesmal ein regelrechter Charmebolzen. Meine beiden Cousinen im Teenageralter fanden, dass ich den Hauptgewinn in der Verlobten-Lotterie gezogen hatte, und kicherten und erröteten allerliebst, wann immer er sich mit ihnen unterhielt. Selbst meine sonst etwas kratzbürstige Tante nahm mich beiseite und sagte leise, wie es aussehe, hätte ich »einen Guten« gefunden. Ich lächelte schwach, als sie wie gewohnt ungefiltert fortfuhr: »Zum Glück hast du eine bessere Wahl getroffen als deine Mutter.«

Wir schauten beide hinüber zu meinen Eltern. Mein Vater war gerade dabei, ein paar Verwandten, die er wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, eine Geschichte zu erzählen. Meine Mutter stand mit in der Runde, und als die Gruppe in Gelächter ausbrach, fiel sie erstaunlicherweise nicht nur mit ein, sondern legte meinem Vater auch kurz die Hand auf den Arm. Ich bemerkte den Blick, den er ihr zuwarf, und wandte mich ab, als hätte ich unberechtigterweise bei etwas sehr Intimem zugesehen. Konnte es sein, dass Darrell recht hatte? Für ein Paar, dessen Scheidung weder gütlich noch zivilisiert abgelaufen war, wirkten sie unerklärlicherweise so, als würden sie prächtig miteinander klarkommen.

Als wir unsere Plätze eingenommen hatten, war ich durch zwei Gläser Prosecco bereits angenehm benebelt und in deutlich besserer Stimmung. Alles würde gut werden, und die Hochzeit würde ohne Störungen ablaufen, sagte ich mir und lächelte beim Blick in den Raum voller Menschen. Jeder hier war mir in irgendeiner Weise wichtig, und allein diese Menschen um mich herum zu haben, verlieh mir Kraft. Alle Gäste – selbst meine Tante, die kein Blatt vor den Mund nahm – wollten nur das Beste für mich. Ich schaute Darrell an, der neben mir saß, und war plötzlich traurig, dass er in dieser Runde keinen Vertrauten hatte. Bis auf mich natürlich. Er hatte mich.

Ich fragte mich, ob er sich hinter seiner charmanten Fassade einsam fühlte. Er konnte zwar die kichernden Cousinen und meine Tante hinters Licht führen, doch ich sah sehr wohl, dass er immer noch angespannt war. Ich wusste es, noch bevor eine der Kellnerinnen ein Tablett mit Besteck auf den Parkettboden fallen ließ, dass es laut schepperte. Darrell fuhr auf seinem Platz hoch, als hätte jemand eine Granate durch die geöffneten Terrassentüren geschleudert.

»Na, du bist aber nervös«, bemerkte Karens Freund Tom. Beide saßen uns schräg gegenüber und mussten gesehen haben, wie Darrells Blick von den Fenstern zur Tür gehuscht war.

»Man könnte fast meinen, du willst einen schnellen Abgang machen«, witzelte Tom unglücklicherweise. Für diesen Kommentar erntete er von seiner Freundin unter dem Tisch einen kräftigen Tritt. »Aua! Wofür war das denn?«, fragte er und sah Karen empört an.

»Mein Fuß ist ausgerutscht«, entgegnete sie zuckersüß, bevor sie in meine Richtung tonlos ein Sorry formte.

Alles in allem verlief das Abendessen genau wie geplant. Die Gäste unterhielten sich angeregt, das Essen war köstlich, und endlich begann ich mich zu entspannen – bis zu dem Moment, wo sich alles veränderte. Ich spürte es zuerst an meinem Fußgelenk, an dem meine schwarze, mit Perlen bestickte Abendtasche lehnte. Fast hätte ich mein Handy im Hotelzimmer gelassen, einfach weil alle, die ich kannte, entweder bei diesem Abendessen dabei waren oder wussten, dass es gerade stattfand, und mich daher nicht anrufen würden.

Im letzten Moment hatte ich den Ton ausgestellt und das Handy in meine Tasche gesteckt. Und nun vibrierte es. Unauffällig, als würde ich eine heruntergefallene Serviette aufheben wollen, beugte ich mich über meine Tasche und öffnete den Verschluss. Aus ihrem Inneren drang ein beharrliches Summen, als wäre eine besonders angriffslustige Biene darin gefangen. Ich zögerte.

»Was ist?«, fragte Darrell und rückte seinen Stuhl etwas näher an meinen heran. Ich schaute hoch, fing einen nur zu aufmerksamen Blick meiner Mutter am anderen Ende des Tisches auf und versuchte, das natürlichste Lächeln hinzubekommen, das ich im Repertoire hatte.

»Da ruft mich jemand an.«

Es war verrückt, dass wir beide sofort genau wussten, worum es ging. War das ein Beweis dafür, wie gut wir zusammenpassten – oder dafür, dass wir beide im selben Albtraum gefangen waren?

»Geh nicht ran«, zischte Darrell.

Ich fragte gar nicht erst, wieso. Wir wussten es beide. Sie hatte schon so viel über mich herausgefunden: wo ich arbeitete, wo ich wohnte, was für einen Wagen ich fuhr. Mit meiner Handynummer hatte sie einen weiteren Trumpf in der Hand.

»Wahrscheinlich nur irgendein Werbeanruf«, sagte Darrell, doch an seinem Tonfall merkte ich, dass er das selbst nicht glaubte.

»Das denke ich nicht.«

»Hast du die Nummer erkannt?«, fragte er leise, wobei er immer noch ein Lächeln für die Gäste aufgesetzt hatte.

Ich schaute auf mein Telefon, das jetzt verstummt war. Ganz sicher würde ich nicht durch die Anruferliste scrollen, während meine ganze Familie dabei zusah.

»Na also, jetzt ist Ruhe«, sagte Darrell und nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas. Er hatte es noch nicht auf das weiße Tischtuch zurückgestellt, da vibrierte mein Handy aufs Neue.

Ich überlegte nicht lange, sprang auf und presste die Tasche an mich, als würde ich versuchen, das Smartphone darin zu ersticken.

»Suzanne –«, sagte Darrell, doch ich war schon durch den halben Raum geeilt, in Richtung des schwach leuchtenden Ausgangsschilds.

Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, fischte ich das Handy aus der Tasche wie ein Eisvogel, der nach seiner Beute schnappt. Auf dem Display war eine unbekannte Nummer zu sehen. Mit klopfendem Herzen ging ich ran.

»Wer ist da?«, rief ich. Das war normalerweise nicht die Art, wie ich mich am Telefon meldete, und offensichtlich war die Person am anderen Ende der Leitung überrascht, denn erst einmal folgte Schweigen, bis ich meinen Namen hörte.

»Suzanne?« So viel zur Werbeanruf-Theorie, dachte ich und lehnte mich im Hotelfoyer erschöpft an eine große Marmorsäule. Glücklicherweise war der Eingangsbereich leer bis auf die beiden Hotelangestellten an der Rezeption, die sich miteinander unterhielten.

Die Stimme wiederholte die Frage. »Suzanne? Bist du das?«

Ich wollte gerade erleichtert antworten, hatte aber keine Gelegenheit dazu, denn urplötzlich wurde mir das Gerät aus der Hand gerissen. Darrells Augen funkelten vor Wut, aber nicht auf mich, sondern auf den Anrufer.

»Das muss aufhören«, zischte er ins Telefon. »Sofort! Das Ganze muss auf der Stelle aufhören.«

Ich beobachtete ängstlich seinen Gesichtsausdruck. Während er der Person am anderen Ende der Leitung einen Moment zuhörte, war seine Mimik nicht deutbar. Schließlich nahm er das Smartphone langsam vom Ohr und reichte es mir.

»Es ist für dich«, sagte er grimmig.

»Ja, das ist naheliegend, es ist ja schließlich mein Handy.« Plötzlich war ich verärgert – und verlegen, sehr verlegen.

»Ich dachte –«, setzte er an und schwieg dann aber.

»Ja, ich auch.« Demonstrativ schaute ich zur Tür, hinter der unsere Gäste versammelt waren. »Ich glaube, einer von uns sollte besser wieder reingehen.«

Darrell sah mich an, als erwarte er noch eine Diskussion, wer von uns das denn sein könnte. Ich rührte mich nicht von der Stelle.

»Ja, gut. Dann geh ich mal zurück zu unseren Gästen.«

Ich wartete, bis er sich ein Stück entfernt hatte, dann hob ich das Handy wieder ans Ohr. »Tut mir unheimlich leid.«

»Kein Problem.« Paul klang gelassen, als sei er es gewohnt, am Telefon angebrüllt zu werden. »Alles okay bei dir?«

Ich dachte tatsächlich, meine Antwort würde ein Lachen werden. Niemand hätte überraschter sein können als ich, dass ich stattdessen aufschluchzte. »Ja. Nein. Nicht wirklich.«

»Okaaaay«, sagte Paul, dem offensichtlich die Worte fehlten. Wer konnte es ihm zum Vorwurf machen?

»Es war heute … etwas … viel«, fing ich an und merkte dann, dass es keinen Grund gab, Paul in unsere furchtbare Situation mit hineinzuziehen. Da durchfuhr mich ein anderer Gedanke.

»Woher hast du diese Nummer? Ich hab sie dir nie gegeben.«

Diesmal war er derjenige, der verlegen schien. »Ah, ja, also, das ist ein Fall von persönlicher Vorteilsnahme. Ich hab es schamlos ausgenutzt, dass die schon etwas betagte Sekretärin meines Vaters einen Narren an mir gefressen hat, und hab sie dazu überredet, mir einen Blick in deine Personalakte zu ermöglichen.«

Vielleicht schnappte ich hörbar nach Luft, aber ich fühlte mich weder gestalkt noch bedroht. Den Unterschied kannte ich inzwischen.

»Ich weiß«, sagte Paul ernst. »Schockierend, dieser Machtmissbrauch, stimmt’s? Wahrscheinlich werde ich zur Strafe noch weitere Jahre in der Poststelle arbeiten.«

Zu meinem eigenen Erstaunen musste ich lachen, und es war ein gutes Gefühl, noch zu wissen, wie das ging.

»Und was genau hat dich auf die schiefe Bahn gebracht?«, fragte ich, immer noch schmunzelnd. Ob er das wohl an meiner Stimme hörte? »Warum wolltest du meine Nummer haben?«

»Weil ich die ganze Woche lang freihatte und mich im Datum geirrt hab und dachte, du würdest erst in zwei Wochen heiraten. Heute früh bin ich an deinem Schreibtisch vorbeigekommen, so gegen …«

»Elf Uhr«, unterbrach ich ihn und lächelte wieder.

»Ja, um elf, und dort war alles aufgeräumt und geordnet. Und dann hat deine Kollegin – die mit der Brille – gesagt, du würdest morgen heiraten.«

»Ja, das hatte ich vor. Das habe ich vor.« Ich fragte mich, was dieser freudsche Versprecher wohl verriet.

»Ja, also, das weiß ich jetzt. Aber es gibt etwas Wichtiges, was ich dir sagen will, bevor du den Bund fürs Leben schließt.«

Um mich herum wurde es plötzlich ganz still. Die beiden Frauen an der Rezeption unterhielten sich immer noch, das wusste ich, weil sich ihre Lippen bewegten. Ein Portier schob einen Gepäcktrolley über den marmorgefliesten Boden. Und doch nahm ich all diese Geräusche nicht wahr. Ich hörte einzig mein eigenes Herzklopfen.

»Was? Was willst du mir sagen?« Das konnte nicht meine Stimme sein. Sie klang überhaupt nicht wie meine.

»Ich … ich wollte nur sagen … ich …«

Das sah Paul gar nicht ähnlich. Ich kannte ihn zwar nicht besonders gut, aber an Eloquenz hatte es ihm bisher nie gemangelt. Er fand immer die richtigen Worte, nur heute Abend schien ihm das aus einem unerfindlichen Grund nicht zu gelingen.

»Ich wollte bloß sagen … viel Glück. Ich hoffe, morgen läuft alles gut. Ich wünsch dir alles Glück der Welt.«

In meinem Augenwinkel bildete sich eine einzelne Träne. Ich versuchte, sie wegzublinzeln, doch sie war hartnäckig und rollte langsam über die Wange hinab. Ich schmeckte das Salz, als sie meine Lippen erreichte. Es kam keine zweite. Dabei hatte ich keinen Grund zu weinen. Es war doch nur eine nette Geste von jemandem, den ich kaum kannte.

Der Mann, den ich liebte, saß gerade mit meiner Familie und meinen Freunden beim Essen und gab sein Bestes, ihnen zu zeigen, warum er derjenige war, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Und ich hatte keinen Grund, hier draußen mit einem anderen Mann zu telefonieren.

»Ich muss aufhören«, sagte ich hastig.

»Natürlich«, antwortet Paul, und ich hörte, dass er sowohl gekränkt als auch beschämt war.

»Tschüss, Paul«, sagte ich leise, und dann legte ich auf, bevor er noch etwas sagen konnte.

»Also, das kam aber ungelegen«, sagte Darrell mit gedämpfter Stimme, als ich mich wieder neben ihn setzte. »Die arbeiten bei dir in der Poststelle offenbar bis spätabends?«

Er saß mir halb zugewandt, und seine Körpersprache wirkte ziemlich angriffslustig. Okay, es war sein gutes Recht, verärgert zu sein. Normalerweise sollte die eigene Verlobte am Vorabend der Hochzeit keine Anrufe von anderen Männern entgegennehmen. Aber sie sollte auch nicht das Ziel einer Hasskampagne der eigenen Ex-Freundin sein. Wir waren beide schuldig. Und beide unschuldig.

»Er wollte uns bloß alles Gute wünschen«, sagte ich und bog damit Pauls Worte leicht zurecht.

»Das ist aber nett von ihm«, entgegnete Darrell, und selbst ein Gehörloser hätte begriffen, dass er das nicht so meinte.

»Paul ist nur ein Freund«, sagte ich und war sauer auf mich selbst, dass ich mich für ein winziges Geheimnis rechtfertigte, wo Darrell doch so viel mehr Geheimnisse mit sich herumtrug.

»Kommt er morgen zur Hochzeit?«

Ich setzte mich sofort aufrechter hin. »Nein. Natürlich nicht!«

Daraufhin schien Darrell sich wieder zu entspannen, und zum ersten Mal seit diesem Anruf griff er nach meiner Hand und verflocht seine Finger mit meinen.

»Tut mir leid. Ich hab überreagiert. Vermutlich kann ich selbst heute, einen Tag vor unserer Hochzeit, mein Glück immer noch nicht fassen, dass ich dich heiraten werde.«

Ich lächelte, oder versuchte es zumindest. Und bekam es wohl auch ganz passabel hin.