Kapitel 7

W ährend die Visagistin die Utensilien wieder verstaute, die sie für meine Verwandlung benutzt hatte, starrte ich die Fremde im Spiegel an, die mir zwar ein klein wenig ähnelte, aber eigentlich eher eine andere, deutlich glamourösere Frau zu sein schien. Wenigstens würde ich auf den Hochzeitsfotos hübsch aussehen und wohl die nächsten fünfzig Jahre froh darüber sein, dachte ich. Ich schluckte und sah, wie die Dame im Spiegel dasselbe tat. Fünfzig Jahre Ehe … wie würde sich das anfühlen? Ich hatte keinen Bezugspunkt, keine Kompassnadel, die mir als Orientierung hätte dienen können. Meine eigenen Eltern hatten gerade mal drei Jahre geschafft. Hatte meine Mutter sich an ihrem Hochzeitstag auch so gefühlt? Ich hätte sie fragen können, sie befand sich bloß drei Türen weiter den Gang hinunter und zog wahrscheinlich bereits ihr Brautmutter-Outfit an.

Ich band den Gürtel meines seidenen Morgenmantels ein wenig fester um die Taille und bedankte mich bei der Haarstylistin und der Visagistin für ihre Arbeit. Sobald die beiden gegangen waren, trat ich an die hohen georgianischen Fenster und riss sie weit auf, sodass der noch in der Luft hängende Duft von Kosmetik und Haarspray (meine Frisur würde sich heute keinen Millimeter bewegen) entweichen konnte. Ich atmete tief ein und wartete darauf, dass auch das Gefühl, langsam zu ersticken, sich verflüchtigen würde. Vielleicht wäre es hilfreicher gewesen, in eine Papiertüte zu atmen, anstatt mir die Lunge mit Landluft vollzupumpen? Schließlich war Ersteres ja die empfohlene Handlung bei Panikattacken. Bei der Vorstellung, wie ich in meinem elegant fließenden Hochzeitskleid über den mit Blütenblättern bestreuten roten Teppich schreiten würde, in einer Hand den Brautstrauß, in der anderen eine braune Papiertüte, musste ich schmunzeln. Das wäre doch mal ein gutes Foto für das Hochzeitsalbum.

Unter den Fensterflügeln befand sich eine bequem gepolsterte Sitzbank, und ich nahm darauf Platz und zog wie ein Kind die Beine auf die Sitzfläche. Wenn ich mich hinauslehnte und den Hals nach rechts reckte, sah ich den malerischen See und daneben das geschmückte Hochzeitszelt. Ich sah auch die ordentlich aufgereihten Stühle, jeder mit einer roten Satinschleife geschmückt, und einen langen Tisch, auf dessen weißem Damasttuch schon die Champagnergläser bereitstanden. Ich beugte mich noch weiter hinaus und ließ meinen Blick gedankenverloren zum roten Teppich schweifen, auf dem ich in die eine Richtung als unverheiratete Frau entlangschreiten würde und in die andere Richtung als Ehefrau.

Da klopfte es leise, und wie eine erschrockene Schildkröte zog ich hastig den Kopf ins Zimmer zurück.

»Suzanne, mach auf, ich bin’s!«, zischte meine Brautjungfer hinter der Tür, während ich ungeschickt mit der Verriegelung kämpfte. Merkwürdig, dass mir heute früh offenbar selbst die grundlegendsten motorischen Fähigkeiten abhandengekommen waren. Zum Glück hatte ich mich weder um meine Haare noch um das Make-up selbst kümmern müssen.

Schließlich gelang es mir, die Tür zu öffnen, und Karen stand vor mir, bekleidet mit einem unglaublich kurzen Frotteebademantel. Sie huschte zu mir ins Zimmer, gerade als aus einer Zimmertür auf der anderen Seite des Gangs eine junge Familie trat. »Definitiv keine gute Idee, halb nackt in einem Hotelflur rumzustehen«, sagte sie und zupfte ohne nennenswertes Ergebnis am Saum des Bademantels.

»Wem sagst du das«, antwortete ich, ohne zu überlegen.

Karen hob die akkurat gezupften Augenbrauen ein Stück, doch ich schüttelte den Kopf und wechselte das Thema. »Wenn du in diesem Teil hinter mir den roten Teppich entlanggehst, stiehlst du mir und meinem schönen Kleid echt die Schau.«

Sie grinste. »Selbst wenn ich den Bademantel ausziehen würde, würden alle nur Augen für dich haben«, erklärte sie voller Loyalität. »Übrigens, deine Haare und dein Make-up sehen top aus.«

»Danke«, sagte ich, obwohl ich dazu gar nichts beigetragen hatte. Ich hatte einfach nur dagesessen.

»Hast du heute früh schon was von Darrell gehört?«, fragte Karen und schaute unter die silbernen Abdeckhauben der größtenteils unberührten Frühstücksteller, die auf dem Tablett vom Zimmerservice standen. Sie suchte sich ein weiches, buttriges Croissant aus und ließ sich in einen Ohrensessel plumpsen. »Meine Diät ist übrigens offiziell beendet«, sagte sie und biss genüsslich in den goldbraunen Blätterteig.

»Bedien dich ruhig«, sagte ich und deutete auf die Schälchen mit frischem Obst, Zerealien und Marmelade, die ebenfalls auf dem Tablett standen. »Ich bekomm einfach nichts runter.«

»Erwarte aber nicht, dass ich dich auffange, wenn du auf dem roten Teppich in Ohnmacht fällst.«

»Fällt man heutzutage wirklich noch in Ohnmacht?«, fragte ich, setzte mich ihr gegenüber und schaute auf meinem Handy nach der Uhrzeit. »Um deine Frage zu beantworten, ich habe heute noch nicht mit Darrell gesprochen, aber er hat mir eine Nachricht geschickt.«

Ich drehte das Gerät herum, sodass sie sie lesen konnte.

»Guten Morgen, meine liebe Frau . Das werde ich dir morgen ins Ohr flüstern, wenn du neben mir aufwachst.«

»Ooh, süß«, sagte Karen. »Er ist ja ziemlich romantisch. So eine Nachricht würde mir Tom nie im Leben schicken.«

Ich lächelte, nickte und hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Darrell, weil ich das alles manchmal – nur manchmal – ein bisschen übertrieben von ihm fand. Wie undankbar hätte das geklungen?

Die zweite Nachricht zeigte ich Karen nicht, diejenige, die er vor wenigen Minuten geschickt und in der er gefragt hatte: »Alles ruhig bei dir?«

Ja, war es. Doch dass wir beide damit rechneten, in letzter Minute könnte jemand versuchen, uns den Tag zu verderben, war alles andere als angenehm.

»Bald ist es vorbei«, hatte er geflüstert, als er mich nach dem Abendessen mit den Freunden und Verwandten in die Arme geschlossen und mir einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Sein Taxi wartete an der Hoteltreppe, doch er schien es nicht eilig zu haben. »Bald sind wir verheiratet, und dann kann uns nichts und niemand mehr auseinanderbringen«, sagte er. Sein liebevoller Gesichtsausdruck stand im Widerspruch zu der grimmigen Entschlossenheit, mit der er das sagte.

»Morgen«, hatte er hinzugefügt und es wie ein Versprechen klingen lassen. Dann hatte er mich ein letztes Mal geküsst und war leichtfüßig die Treppe zum wartenden Wagen hinuntergelaufen.

»Morgen«, hatte ich leise im leeren Hotelfoyer wiederholt.

»Wann kommt eigentlich die Floristin? Wahrscheinlich bevor die gruselige Gwendoline dein Kleid vorbeibringt?«

Ich musste lächeln, denn ich wusste genau, weshalb Karen die Besitzerin von Fleurs Wedding Gowns so bezeichnete. »Mir war gleich klar, sie hat mir nicht geglaubt, dass ich bei ihrer Beschreibung, wie man das Kleid richtig schnürt, zugehört habe. Na ja, ich bin froh, dass du deren Ankleide-Service gebucht hast, selbst wenn das heißt, dass ich dann keine Brautjungfernmedaille in Gold bekomme.«

Ich erhob mich und legte Karen die Hand auf die Schulter. »Ach, die bekommst du trotzdem«, sagte ich freundlich und hatte gar keine Ahnung, wie recht ich damit bald haben sollte.

Meine Mutter traf kurz vor den Blumen bei mir ein. Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie erst etwas später auf der Matte gestanden hätte. Es fiel mir nämlich schwer, meine Panik zu verbergen, während ich die gelieferten Kartons öffnete und die Lagen von Seidenpapier zurückschlug. Als ich bei der letzten angelangt war, zitterten meine Finger, als ginge es hier um mein Leben.

Das Seidenpapier schwebte zu Boden, und in den Kartons waren bloß der Brautstrauß, Ansteckblumen und mit Blüten geschmückte Hochzeitsarmbänder, ganz wie bestellt. Und doch kramte ich in der Lieferung herum, weil ich nach einer versteckten Karte mit einer nur zu bekannten Handschrift darauf Ausschau hielt. Doch es war keine zu finden.

»Suchst du was?«, fragte meine Mutter neugierig. Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden.

»Ich wollte bloß sichergehen, dass alles da ist.« Eine nicht ansatzweise überzeugend vorgebrachte Lüge.

Karen ging zurück in ihr Zimmer, um ihr Brautjungfernkleid anzuziehen, sodass meine Mutter und ich zum ersten Mal seit Tagen miteinander allein waren.

»Wenn ich dir wirklich nicht ins Kleid helfen soll, dann bringe ich mal die Einsteckblumen runter und warte mit deinem Vater an der Rezeption. Ich glaube, er ist ziemlich nervös wegen seiner Aufgabe heute«, gestand sie mir, wobei der milder werdende Blick ihrer kornblumenblauen Augen und ihr angedeutetes Lächeln deutlich mehr preisgaben, als sie wohl annahm.

»Du und Daddy, ihr scheint super miteinander klarzukommen«, bemerkte ich und fragte mich, warum ich meinen Vater plötzlich Daddy nannte, was ich seit Jahrzehnten nicht mehr getan hatte.

»Ja, scheint so«, sagte sie und griff nach dem Karton mit den Einsteckblumen. Den Blick fest darauf gerichtet, fügte sie leise hinzu: »Ich weiß, anfangs war ich dagegen, aber jetzt bin ich froh, dass du ihn gebeten hast, dich heute deinem Bräutigam zu übergeben. Es bedeutet ihm sehr viel.«

Ich hob den Kopf und war überrascht, dass ihr Tränen in den Augen standen. Sie weinte nie, und dass sie es jetzt tat, am Tag meiner Hochzeit – einem Tag, den sie nie hatte erleben wollen –, war noch erstaunlicher. »Ich hab dich lieb, Suzy, und ich bin stolz darauf, dass du meine Tochter bist. Was auch immer heute passiert, ich will, dass du das nie vergisst.«

Erst als sie mitsamt dem Karton das Zimmer verlassen hatte, wurde mir bewusst, wie eigentümlich diese Bemerkung gewesen war.

»Bitte stehen Sie jetzt ganz still«, wies mich Gwendoline an, während ihre Finger bereits über den Satinbändern und den Ösen schwebten wie die einer Konzertpianistin vor ihrem Auftritt über den Tasten. Ihre Bewegungen hatten tatsächlich auch etwas Fließendes und Rhythmisches, als sie gleich darauf blitzschnell einzufädeln und zu schnüren begann. Nach lediglich der Hälfte der Zeit, die Karen dafür gebraucht hätte, schmiegte sich mein Kleid eng an meinen Körper.

»Ich bin etwas enttäuscht, dass Sie nicht dieses Klischeeding abgezogen und ihr ein Knie in den Rücken gedrückt haben«, sagte Karen, worüber wir beide lachten. Gwendoline verzog jedoch keine Miene.

»Bei einem Kleid von Fleurs ist das nicht nötig«, erklärte sie, ehe sie sich dann doch ein feines Lächeln erlaubte. »Die passen der Braut wie angegossen.«

Jetzt, wo das Kleid fertig geschnürt war, brauchte ich nur noch in die weißen Satinschuhe mit den filigranen, glitzernden Verzierungen zu schlüpfen, die neben dem Bett bereitstanden.

»Wie Cinderella«, bemerkte Karen gerührt, als ich die Schuhe anzog. Wir umarmten uns, und ich sah, dass Gwendoline unwillkürlich zusammenzuckte.

Jetzt fehlte nur noch eins, um mein Äußeres abzurunden. Ich ging hinüber zur Frisierkommode und griff nach der kleinen Samtschatulle, die Darrell mir am Vorabend beim Abschied überreicht hatte. Ich hatte die Schachtel vorsichtig entgegengenommen. Sie sah alt aus, sehr alt. Der Samt war stellenweise abgegriffen, als hätten sie viele Generationen vor mir geöffnet. Fast ehrfürchtig hatte ich den Deckel gehoben, und in der mit weißem Satin ausgekleideten Schachtel funkelte ein Paar antike Diamantohrringe in Tropfenform. Ich brauchte nicht zu fragen, ob sie echt waren. Zirkonia im Diamantschliff sind gut, aber sie funkeln nicht auf diese Art.

»Oh, Darrell, die sind unglaublich schön«, hatte ich geflüstert und vorsichtig die glitzernden Edelsteine berührt.

»Die haben meiner Urgroßmutter gehört«, sagte er leise.

Ich bin mir sicher, dass meine Verblüffung nicht zu übersehen war, aber er merkte es trotzdem nicht, denn seine Aufmerksamkeit war ganz bei dem Erbstück. »Sie wurden in meiner Familie weitergegeben, und jede Kingston-Braut hat sie bisher getragen. Legst du sie morgen an?« Er klang merkwürdig unsicher und bewegt.

»Ich betrachte es als Ehre«, sagte ich und meinte es aus tiefstem Herzen.

Es wäre schön, wenn Darrells Familie hier wäre und das miterleben könnte, dachte ich nun, als ich vor dem Spiegel stand und die wunderschönen Ohrringe anlegte. Was auch immer vorgefallen sein mochte – dass er mir den Schmuck geschenkt hatte, bedeutete, dass seine Familie ihm immer noch wichtig war.

»Jetzt muss nur noch der Schleier festgesteckt werden, und dann breche ich auf«, sagte Gwendoline und griff nach dem Kleidersack, in dem sich das letzte Accessoire für meine Verwandlung in eine Märchenbraut befand. Als sie das Stück weichen Stoff aus der Hülle nahm, klingelte neben dem Himmelbett das Zimmertelefon.

Ich starrte den Apparat zwei Klingeltöne lang nur an, dann ging ich zum Nachttisch. Ich glaube, Karen fragte, ob sie rangehen sollte, doch ihre Stimme klang, als würde sie aus einer anderen Galaxie zu mir dringen. Ich hörte nur das Klingeln und mein Herzklopfen. Eigentlich konnte ich natürlich nicht wissen, was das für ein Anruf war. Und doch war ich mir sicher.

Meine Handfläche war feucht, als ich nach dem Hörer griff, doch er rutschte mir nicht aus der Hand. Und noch bevor die Dame von der Rezeption zu Ende gesprochen hatte, erwiderte ich: »Schicken Sie sie rauf«, mit dem düsteren Gefühl, dass es unvermeidlich war.

Es überraschte mich nicht, dass Karen zunächst nicht gehen wollte.

»Bitte warte einfach in deinem Zimmer auf mich«, beschwor ich Karen und drängte sie geradezu Richtung Tür.

»Auf keinen Fall. Diese Frau ist ganz eindeutig eine Verrückte. Eine von der Sorte, die mit einer Axt in der Hand ankommt.« Sie nickte heftig zur Bekräftigung.

»Ich sag dir was, wenn die eine Axt dabeihat, lass ich sie einfach nicht rein«, entgegnete ich, fasste Karen am Oberarm und versuchte weiter, sie aus meinem Hotelzimmer zu bugsieren.

»Das ist nicht witzig«, sagte sie finster.

»Ich lach ja auch nicht«, gab ich scheinbar gelassen zurück. Denn hatte ich nicht schon die ganze Zeit gewusst, dass heute so etwas – oder etwas sehr Ähnliches – passieren würde? Hatte ich es nicht schon vom ersten Moment an gewusst, als ich die Karte an meiner Windschutzscheibe entdeckte?

»Würden die jungen Damen mir bitte erklären, was hier vor sich geht?«, fragte Gwendoline, die zwar von den Ereignissen etwas überrascht war, aber im Großen und Ganzen doch gefasst wirkte. Mein Schleier lag immer noch wie eine lebende Schlange auf ihren ausgestreckten Armen.

»Suzanne ist gerade im Begriff, etwas sehr Dummes zu tun, und ich will sie daran hindern«, antwortete Karen, deren Stimme vor Angst und Frustration zu brechen begann. Gwendoline hob fragend die nachgezogenen Augenbrauen. »Sie will eine Verrückte in ihr Zimmer lassen.«

Irgendwie gelang es Gwendoline, die Augenbrauen noch weiter zu heben. Sie sah erst Karen an, dann mich, und ich konnte beinahe ihren Gedanken hören, dass sich im Zimmer wahrlich schon genug verrückte Frauen befanden.

»Wir wissen doch gar nicht, ob sie verrückt ist«, entgegnete ich. Abgesehen davon, dass sich Gwendolines Nasenflügel kaum wahrnehmbar blähten, wirkte sie trotz Karens dramatischer Warnungen immer noch bemerkenswert ruhig.

»Gehört diese Frau zu Ihren Gästen?«

»Wohl kaum«, brummte Karen, bevor ich antworten konnte. »Sie ist die Ex-Freundin des Bräutigams.«

»Aah, verstehe«, seufzte Gwendoline. Sehr vorsichtig begann sie, den Schleier wieder im Kleidersack zu verstauen. Nach so vielen Jahren in ihrem Beruf hatte sie wohl wirklich schon alles erlebt.

Ich gab es auf, meine Freundin wie ein übereifriger Türsteher aus dem Raum befördern zu wollen, und ging stattdessen selbst zur Tür. Vielleicht wirkte ich gelassen, doch beim Öffnen schlug mir das Herz bis zum Hals. Irgendwie hatte ich erwartet, die Frau, die in den letzten Monaten wie ein Gespenst in meinem Leben herumgespukt hatte, stünde bereits dort. Doch der Flur war leer.

»Bitte, Karen. Bitte geh einfach mit Gwendoline in dein Zimmer. Ich muss da allein durch.«

Karen zögerte, da sie meinem Tonfall mehr entnahm, als die bloßen Worte vermittelten. Äußerst widerwillig trat sie in den Gang hinaus.

»Lass die Tür unbedingt offen«, wies sie mich an. »Dreh ihr nicht den Rücken zu. Und –«

»Wahrscheinlich wird sie mich einfach nur anschreien«, sagte ich und erschrak, weil Karen sich auf dem Absatz umdrehte und wieder ins Zimmer marschierte, geradewegs zum Frühstückstablett. Mit vielsagendem Blick sammelte sie alle glänzend polierten Besteckteile ein.

»Sicher ist sicher«, sagte sie, die Hände voller Besteck an ihre Brust gedrückt. Normalerweise hätte ich gelacht, doch jetzt war mir kein bisschen danach.

»Bitte seien Sie vorsichtig«, sagte auch Gwendoline nachdrücklich, als sie Karen in den Flur folgte. »Und ich meine nicht nur wegen des Kleides.«

Darüber hätte ich nun wirklich beinahe geschmunzelt. Meine Unversehrtheit war eindeutig nicht das Hauptanliegen von Gwendoline.

Ich sah den beiden hinterher, wie sie zu Karens Zimmer gingen. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, herrschte auf dem Flur eine unnatürliche Stille. Das Einzige, was ich wahrnahm, war mein eigener hastiger Atem. Jetzt blieb mir nur noch abzuwarten.

Im Korridor um die Ecke hörte ich den leisen Signalton des Fahrstuhls, der meine Etage erreichte.

»Hier unten an der Rezeption steht eine Dame, die sagt, sie muss Sie dringend noch vor Ihrer Trauung sprechen«, hatte die Frau am Empfang gesagt, und ihrer Stimme war deutlich anzumerken gewesen, dass ihr die Störung unangenehm war. Hatte sie auf die Uhr gesehen, bevor sie mich in meinem Zimmer angerufen hatte? Ja, vermutlich. Sie musste wissen, dass die Zeremonie in einer guten halben Stunde beginnen würde. Hatte sie zu meinem Vater hinübergeschaut, der wahrscheinlich im Foyer auf und ab lief und seine Rede ein letztes Mal übte, während er auf mich wartete? Zweifellos. »Sie sagt, Sie wissen, wer sie ist. Und dass Sie mit ihr sprechen wollen«, hatte die Hotelangestellte unsicher hinzugefügt.

Dieser letzte Satz war wahr und falsch zugleich. Die Identität der Frau stand für mich nicht infrage. Jetzt war endlich der Moment gekommen, wo ich Catherine gegenüberstehen würde, der Frau, die vor mir Teil von Darrells Leben gewesen war. Aber wollte ich sie sprechen? Nein. Absolut nicht. Und doch wusste ich, dass ich es musste, wenn das Ganze jemals ein Ende finden sollte.

Ich wartete auf das Pochen an der Tür. Es klopfte drei Mal, weder ängstlich noch mutig, sondern irgendwo dazwischen. Mit steifen Schritten ging ich hin, es war, als hätten meine Knie vergessen, wie sie sich beugen mussten.

Ich weiß nicht, wer von uns zuerst erschrocken Luft holte. Vielleicht machten wir es gleichzeitig? Schließlich hatten wir so viel anderes gemeinsam, wieso nicht auch unsere Reaktion in diesem Moment? Sie wirkte zutiefst schockiert, mich in meinem Hochzeitskleid zu sehen. Was hatte sie denn erwartet? Ich würde in einer halben Stunde heiraten, was hätte ich sonst tragen sollen?

Der Grund für mein Erschrecken war schwerer festzumachen. Angst spielte sicherlich mit hinein, aber der Rest war ein vages Déjà-vu-Gefühl oder das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein. Diese Frau kannte ich doch irgendwoher? Ich trat zwei Schritte zurück ins Zimmer, und sie kam zwei Schritte über die Schwelle.

Sie war etwas größer als ich und vielleicht ein, zwei Jahre älter, was mich überraschte. Von ihrem Verhalten, von der kindischen Kampagne her, die sie gegen mich führte, hatte ich immer gedacht, sie wäre deutlich jünger, vielleicht Anfang zwanzig. Diese Frau Mitte dreißig wirkte seriös und vernünftig, und irgendwie machte sie das noch gefährlicher. Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. So viel zu Karens Rat, sie offen zu lassen.

Ich konnte den Blick nicht von der Frau mit den großen braunen Augen abwenden, und ihr ging es offenbar genauso. Sie hatte etwas an sich, was mir sehr bekannt vorkam, als hätte ich sie tatsächlich schon oft gesehen, jedoch in einem anderen Umfeld.

»Sie sind hübscher, als ich dachte. Von Nahem sind Sie viel hübscher.«

Das war nicht der richtige Augenblick, um ihr für das Kompliment zu danken, und ich glaubte auch nicht, dass sie es überhaupt als Kompliment gemeint hatte.

»Was wollen Sie hier?« Das war ein guter Einstieg, doch sie schaute mich an, als wäre ich zwar hübsch, aber auch unglaublich dumm.

»Ich bin wegen Ihrer Hochzeit hier, was sonst«, sagte sie und lachte ein wenig spröde.

»Sie sind hier nicht erwünscht«, sagte ich und hoffte, dass sie das Zittern in meiner Stimme nicht hörte. »Ich will Sie hier nicht haben, und Darrell mit Sicherheit genau so wenig

Sie lachte erneut, und ich fragte mich, ob Karen recht gehabt hatte. War sie wirklich verrückt?

»O ja, dass Darrell mich hier nicht haben will, oder in Ihrer Nähe, kann ich mir denken. Und doch muss er gewusst haben, dass ich kommen würde. Dass ich kommen musste «, sagte sie und klang beinahe so, als hätte man sie gezwungen, am Morgen meiner Hochzeit in meinem Hotelzimmer aufzuschlagen.

»Hören Sie, Catherine, ich weiß –«

Sie erschrak und trat einen halben Schritt zurück, als hätte ich sie geohrfeigt. »Dann wissen Sie also, wer ich bin? Sie wissen, wer ich bin, und wollen es trotzdem durchziehen? Sie wollen ihn immer noch heiraten?«, fragte sie ungläubig, als wäre ich hier diejenige, die neben der Spur war.

»Ich verstehe, dass Ihnen das schwer zu schaffen macht. Sie müssen Darrell einmal sehr geliebt haben, wenn Sie heute hier sind.«

»Natürlich liebe ich ihn. Ich werde ihn immer lieben! Das gehört schließlich dazu, oder? Man kann nicht anders. Auch wenn man sie hasst, auch wenn man sie für das, was sie tun, verabscheut, man muss sie trotzdem weiter lieben.«

»Ihnen ist doch sicher klar, dass das mit Ihnen und Darrell vorbei ist. Tut mir leid, aber das müssen Sie akzeptieren und uns in Ruhe lassen. Ich bin diejenige, die er heiraten wird.«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

Plötzlich war ich sehr froh, dass Karen alle spitzen Gegenstände aus dem Zimmer entfernt hatte, denn das klang schwer nach einer Drohung.

»Sie können ihn nicht zwingen, zu Ihnen zurückzukehren«, sagte ich, während ich Zentimeter für Zentimeter zurückwich. Wenn ich es nur zum Telefon auf dem Nachttisch schaffen würde, konnte ich die Rezeption anrufen und Hilfe holen. Mein Blick sprang zu meinem Handy, das außer Reichweite lag.

Catherine redete gerade, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, an das Hoteltelefon zu gelangen, um ihr zuzuhören. Sie trat einen Schritt auf mich zu und fasste mich bei den Schultern, fest genug, dass ihr Griff Abdrücke auf meiner Haut hinterließ.

»Was haben Sie gesagt?« Ich hatte Mühe, ihre Hände abzuschütteln.

»Ich … ich …«

»Sie glauben, dass ich Darrell zurückhaben will? Sie glauben, wir wären ein Paar gewesen?«

Ich nickte, da meine Kehle wie zugeschnürt war vor lauter Angst vor dieser Frau mit dem wilden Blick.

»Gott. Sie haben ja überhaupt keine Ahnung. Darrell ist nicht mein Geliebter«, sagte sie voller Entrüstung. »Er ist mein Bruder.«

Ich erinnerte mich nicht daran, wie ich zum Sessel gelangt war, aber plötzlich befand er sich direkt hinter mir. Ich ließ mich darauf sinken, und einen Augenblick später setzte sich Catherine in den anderen Sessel mir gegenüber.

»Darrell hat keine Schwester«, sagte ich trotzig, während ich ihr Gesicht studierte. Diese Augen. Die Nasenform, die vollen Lippen. Kein Wunder, dass sie mir so bekannt vorgekommen war.

»Wir sind Zwillinge«, fügte Catherine ausdruckslos hinzu und lachte ein freudloses Lachen. »Schön zu wissen, dass er immer noch so tut, als würde ich nicht existieren. Manchmal frage ich mich, wieso ich überhaupt versuche, ihn zu schützen.«

»Ihn zu schützen?«, fragte ich. Mir schwirrte der Kopf, als säße ich auf einem Kettenkarussell, das sich viel zu schnell drehte. »Wovor schützen? Vor wem?«

Ihr Blick hatte jetzt etwas Mitleidiges, bloß dass ich nicht wusste, wem dieses Mitleid galt: ihrer eigenen Person, Darrell oder mir.

»Vor sich selbst. Ich bin hier, um ihn vor sich selbst zu schützen … nicht zum ersten Mal

Sie schwieg einen Moment, und ich überlegte, ob sie darauf wartete, dass ich etwas erwiderte. Doch es gab so viele Fragen, die ich stellen wollte, dass sie in meiner Kehle stecken blieben und mich zu ersticken drohten. Schließlich schaffte es eine über meine Lippen.

»Hat das irgendwas mit dem Zerwürfnis zu tun, das er mit seinen – mit Ihren – Eltern hatte?«

Ihre – Darrells – Augen wurden groß. »Oh, davon wissen Sie also?« Ihr Tonfall war bitter und schmerzte.

»Ich weiß nur, dass er nicht mehr mit ihnen spricht. Dass es ein schweres Zerwürfnis gab. Und dass sie nach Australien ausgewandert sind.«

Catherine lachte, und einen Moment fragte ich mich, ob sie womöglich doch psychisch labil war. Hatte mir Darrell deshalb nie von ihr erzählt? »Australien? O mein Gott, wenn das alles nicht so gefährlich wäre, wäre es wirklich lustig. Sie sind ihr ganzes Leben nie weiter als bis Calais gekommen. Sie leben in Wales. Nicht in der Stadt, wo wir aufgewachsen sind. Natürlich nicht. Und wir tragen heute alle den Geburtsnamen meiner Mutter. Nur Darrell selbstverständlich nicht. Er ist immer noch ein Kingston.«

»Stecken Sie etwa in einer Art Zeugenschutzprogramm?«, fragte ich. »Ich habe versucht, Ihre Familie ausfindig zu machen. Ich wollte Darrells Eltern zu unserer Hochzeit einladen, aber ich habe sie nicht gefunden.«

»Ach, das wäre ein Spaß gewesen«, entgegnete Catherine sarkastisch. »Ich bezweifle allerdings, dass sie zugesagt hätten, selbst wenn Sie sie aufgespürt hätten. Sie müssen wissen, wir waren bereits bei Darrells Hochzeit.«

Mein Herz begann heftig zu schlagen, als wollte es aus meinem Leib springen. Doch gleich würde die Frau, die mir gegenübersaß, ihm einen Stich versetzen. Es gab kein Entrinnen.

»Sie sind so dumm. Sie alle sind so dumm. Darrell ist bereits verheiratet – schon seit sieben Jahren.«

In meiner Hand befand sich ein Glas eisgekühltes Wasser, und ich hatte keine Ahnung, wie es dort hingelangt war.

»Trinken Sie das besser. Sie sind ziemlich blass«, forderte mich Catherine auf und stellte die Wasserkaraffe wieder auf das Tablett.

»Darrell war sieben Jahre lang verheiratet? Er ist geschieden?«, fragte ich zögernd, als wüsste ich bereits die Antwort auf diese Frage. Ich war nur noch nicht bereit, sie zu hören.

»Er ist verheiratet. Er ist weder geschieden noch getrennt. Er wird Alice nie verlassen. Und sie wird ihn wieder aufnehmen und ihm verzeihen, wie schon zuvor.«

»Wie bitte? Alice? Er hat eine Frau namens Alice? Aber das kann nicht sein«, sagte ich und stand mit zittrigen Beinen auf. »Denn wir heiraten bald. Wir heiraten heute «, sagte ich wie eine Idiotin und deutete auf mein langes weißes Hochzeitskleid, als könnte Darrells Schwester vergessen haben, für welchen Anlass ich gerade hergerichtet war.

»Nicht, wenn ich es verhindert kann. Es sei denn, Sie wollen wissentlich in einen Fall von Bigamie hineingezogen werden. Ach ja, übrigens, das sind die Ohrringe meiner Urgroßmutter. Die hätte ich gern zurück.« Sie streckte die geöffnete Hand aus und wartete darauf, dass ich sie ihr gab. Ich riss sie mir so hastig aus den Ohrlöchern, dass diese zu bluten begannen, nahm es aber kaum wahr. Catherine steckte sie in ihre Jackentasche.

»Wissen Sie, es ist nicht das erste Mal, dass er das macht«, sagte sie, zog ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche und zündete sich eine an. Angesichts der weit größeren Probleme schien es mir albern, sie darauf hinzuweisen, dass hier drinnen Rauchverbot herrschte. »Zugegeben, ich bin überrascht, wie weit sich das Ganze entwickelt hat. Ich dachte, er würde schon früher aufhören, sobald ihm klar wurde, dass ich wusste, was er da wieder treibt.«

»Wie oft ist das schon passiert? Wie vielen anderen Frauen hat er das angetan?« Meine Stimme schien einer fremden Frau zu gehören, es war die Stimme eines Opfers, eines Opfers, das gerade bei einem lebensbedrohlichen Unfall aus dem Autowrack gekrochen war.

»Das ist jetzt das zweite Mal«, sagte Catherine – und ließ damit meine Zukunft in sich zusammenfallen. »Nach dem ersten Mal war alles ziemlich hässlich. Deshalb mussten wir woanders hinziehen und unseren Namen ändern. Das war Darrells Zerwürfnis mit der Familie. Aber Alice … also, sie liebt ihn. Sie ist bei ihm geblieben. Er hat ihr eingeredet, er würde eine Therapie machen, und ihr versprochen, er würde es nie wieder tun. Und dann …« Sie hielt inne und wies auf das Zimmer, das voller Hochzeitsaccessoires war.

Ich war entsetzt, wie dumm ich gewesen war, so vertrauensselig und so unheimlich dumm. Wie hatte ich seine Lügen nicht durchschauen können? Die ständigen Geschäftsreisen, das zweite Handy, die beiden Pässe?

»Wenn es Sie irgendwie tröstet, er liebt Sie wahrscheinlich sehr«, bemerkte Catherine trocken und nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette.

Das war der Augenblick, in dem ich endlich wütend wurde. Es war ein blutroter, siedender Zorn. »Er liebt mich?«, schrie ich. »Er weiß doch nicht mal, was dieses Wort bedeutet! Wie kann man jemanden lieben und ihm das antun? Wie konnte er mir das antun? Und der Frau vor mir und seiner verdammten Alice? «

Catherine sah mich durch eine Wolke Zigarettenrauch an. »Sie meinen vielleicht, Sie würden Darrell kennen, aber da täuschen Sie sich. Nicht den echten Darrell, den Jungen, mit dem ich aufgewachsen bin. Er war das Goldkind. Er hat immer alles gehabt. Das gute Aussehen, die Intelligenz und die Möglichkeit, alles zu tun oder zu sein, was er wollte, verdammt. Und er wollte alles. Sie glauben wahrscheinlich, es wäre Zufall, dass er diesen Job hat, den er hat – einen, der es ihm ermöglicht, ein Doppelleben zu führen? Das ist natürlich kein Zufall, Scheiße noch mal! Darrell ist unersättlich –« Sie spie das Wort förmlich aus, und erst da wurde mir klar, dass sie ihren Bruder zwar liebte, ihn aber trotzdem nicht ausstehen konnte. »Er hat immer alles gehabt und sieht einfach keinen Grund, wieso sich das ändern sollte. Ich zweifle nicht daran, dass er sehr gern mit Ihnen verheiratet sein möchte. Aber genauso gern möchte er auch mit Alice verheiratet sein.«

Mir war schlecht, richtiggehend körperlich schlecht. Ich wollte, dass diese Frau verschwand, aber sie schien sich hier geradezu wohlzufühlen. Sie beherrschte den Raum.

»Wieso … wieso hat man ihn nicht festgenommen? Sie sagten, er hätte das schon mal gemacht. Wieso hat man ihn dann nicht festgenommen? Er müsste doch im Gefängnis sitzen.«

Catherines Blick flatterte, und unvermittelt änderten sich die Machtverhältnisse, und ich war plötzlich diejenige, die den Ton angab. »Weil ich ihn bis jetzt immer aufhalten konnte. Der anderen Frau waren die Ereignisse so peinlich, dass sie sich geweigert hat, gegen ihn Anzeige zu erstatten, und ich habe es ja auch weit früher stoppen können als diesmal.« Sie sah mich auf eine Art an, die zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort tatsächlich Bewunderung hätte ausdrücken können. »Sie lassen sich nicht leicht einschüchtern, was? Was ich auch unternommen habe, anscheinend konnte ich Sie beide nicht auseinanderbringen. Sie müssen ihn sehr lieben.«

»Der Mann, den ich zu lieben glaubte, existiert gar nicht.«

Catherine nickte mir verständnisvoll zu. »Er braucht Hilfe«, sagte sie ernst. »Diesmal braucht er professionelle Hilfe.«

»Er gehört hinter Gitter«, schoss ich zurück, und mein Tonfall war hart wie die Diamanten der Ohrringe, die er mir geschenkt hatte.

»Na ja, genau genommen hat er noch nicht gegen das Gesetz verstoßen. Von Bigamie kann man erst sprechen, wenn die Ehe geschlossen ist. Er will nicht auf mich hören, und er kennt mich zu gut, das ist bei Zwillingen das Problem. Er weiß, dass ich ihn nie anzeigen würde, egal, was er tut. Er glaubt wirklich, wenn Sie einmal verheiratet wären, würde ich mich zurückziehen und über die Sache Stillschweigen bewahren.«

»Und würden Sie das?«, fragte ich entsetzt.

Sie überlegte lange, bevor sie antwortete. »Wahrscheinlich. Wenn er ins Gefängnis müsste, wäre das für meine Eltern ein schwerer Schlag. Deshalb würde ich eine Anzeige nicht über mich bringen, und ich könnte es auch Alice zuliebe nicht tun. Ich mag meine Schwägerin sehr.«

Es war, als hätte sie einen Dolch durch mein schönes weißes Kleid direkt in mein Herz gestoßen. »Okay«, erwiderte ich und erhob mich. »Sie können jetzt gehen. Sie haben gesagt, was Sie sagen wollten.«

»Und blasen Sie nun die Hochzeit ab? Verschwinden Sie einfach?«, fragte sie hoffnungsvoll und nahm mit zitternden Fingern eine weitere Zigarette aus der Packung.

»Vielleicht gehe ich auch einfach in einer Viertelstunde da raus und heirate ihn trotzdem«, erklärte ich und öffnete die Tür. »Und gleich danach rufe ich die Polizei und sorge dafür, dass so was nicht noch einer weiteren dummen Braut passiert. Dass so was nie wieder passiert.«

»Verdammte Scheiße.«

»Du wiederholst dich.«

»Wahrscheinlich werde ich das noch sehr oft sagen«, antwortete Karen. »Gewöhn dich lieber dran. Ich hab immer gewusst, dass was faul ist an ihm. Ich wusste es einfach.«

Ich sah sie aus schmalen Augen an. »Ich glaube, es ist noch viel schlimmer. Das ist nicht nur faul, das ist kriminell.«

Es klopfte an der Tür, und Karen sprang auf, um zu öffnen. Gwendoline kam mit einem Silbertablett und drei großen Brandys darauf herein, samt einer Flasche zum Nachfüllen.

»Ich habe ihnen gesagt, Sie kämen womöglich etwas später nach unten, es gäbe ein kleines Problem mit dem Kleid, und wir würden auf eine Schneiderin warten.« Sie verdrehte die Augen, um deutlich zu machen, wie sehr diese Ausrede an den Haaren herbeigezogen war. »Das verschafft Ihnen vielleicht etwas mehr Zeit, aber wenn Sie nicht bald handeln, werden Ihre Eltern misstrauisch. Ihre Mutter ist eine sehr aufmerksame und resolute Frau.«

»Was hast du vor?«, fragte mich Karen.

»Ich weiß, was ich gern tun würde«, sagte ich finster und spürte, wie der Brandy feurig meine Kehle hinunterrann. »Ich würde ihn am liebsten umbringen.«

»Dito.«

»Ich würde ihn am liebsten hinter Gitter bringen und den Scheißschlüssel wegwerfen.«

»Nur zu verständlich«, pflichtete mir Karen bei. »Aber dafür müsste er tatsächlich ein Verbrechen begehen . Dafür muss er dich heiraten. Willst du das wirklich?«

Traurig schüttelte ich den Kopf. »Ich komme mir einfach so dumm vor. Wie die größte Idiotin aller Zeiten.«

»Du bist keine Idiotin. Er ist der Idiot«, tröstete mich Karen. »Aber so schlimm das jetzt auch alles ist, wenn du die Trauung durchziehst, nur um ihn hinter Gitter zu bringen, wie würde es dir damit gehen?«

Ich trat ans Fenster. Neben dem Vogelgezwitscher hörte ich die leisen Klänge des Streichquartetts, das die Zeit überbrückte, während alle auf mein Erscheinen warteten. Dass die Braut zu spät kam, war nichts Besonderes. Damit rechneten alle. Aber doch nicht ich. Ich kam nie zu spät. Nie.

Ich schluchzte, als ich an die vielen Leute unten am See dachte, die auf mich warteten.

Plötzlich bekam ich keine Luft mehr.

Ich feuerte das leere Brandyglas durchs Zimmer und registrierte nicht einmal, wie es an der Wand zerschellte.

»Helft mir aus dem Kleid raus!«, rief ich und zerrte so verzweifelt an der steifen Korsage, als würde sie mir den Brustkorb zerquetschen. »Nehmt mir das verdammte Ding ab.«

Karen und Gwendoline waren sofort bei mir. Karen weinte, aber Gwendoline war großartig. »Ruhig, ganz ruhig«, sagte sie beschwichtigend. »Sie kommen ja raus, Sie kommen ja raus. Bleiben Sie stehen, meine Liebe, gleich sind Sie das Kleid los.«

Und als endlich das letzte Ösenpaar gelockert war und das Kleid zu meinen Füßen lag, atmete ich ungehindert durch und spürte die kühle Luft der Freiheit, die mich besänftigte.

Karen reichte mir ihre Hand, und ich trat aus den weißen Stoffwogen wie aus einer Treibsandgrube. Ich blickte mich noch einmal über die Schulter um und sah, wie Gwendoline sich bückte und das Kleid aufhob. »Entsorgen Sie es bitte für mich. Ich will es nie wieder sehen.«

Sie nickte betrübt.

Als ich endlich in Jeans und T-Shirt steckte, fühlte ich mich besser. Wieder einigermaßen wie ich selbst, zumindest soweit das im Moment ging.

»Bist du dir ganz sicher?«, fragte ich.

Karen nickte ernst. »Das wird der Höhepunkt meiner Karriere als deine Brautjungfer.«

»Meine erste Brautjungfer«, korrigierte ich sie, während mir Tränen über die Wangen liefen. Das ging schon eine Weile so und machte die harte Arbeit der Visagistin völlig zunichte.

»Wahrscheinlich denken sie immer noch, dass du dich bloß verspätest«, sagte Karen. »Aber wenn du hier wegwillst, ohne jemandem über den Weg zu laufen, dann musst du dich beeilen.«

Ich nickte langsam. »Sag meinen Eltern, ich ruf sie später an. Richte ihnen aus, dass es mir gut geht.«

»Wird erledigt«, versicherte mir Karen.

»Und sag den Gästen, dass ich es mir anders überlegt habe.«

»Und Darrell?«, fragte Karen zögerlich. »Was soll ich dem ausrichten?«

Ich lachte freudlos. »Sag ihm, ich hab seine Schwester kennengelernt. Das dürfte ausreichen.«

Karen lächelte auf eine Art, die verriet, dass ihr diese Aufgabe von allen die liebste sein würde.

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, fragte sie und kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy.

Ich schüttelte den Kopf und nahm stattdessen mein eigenes zur Hand. »Nein, schon okay. Ich mach das selbst.«

Manche Dinge geschehen aus einem bestimmten Grund. Gute Dinge wie schlechte. Manchmal braucht man etwas Abstand, um zu erkennen, worum von beidem es sich handelt. Und manchmal weiß man es einfach.

Die Nummer war noch in meinem Anrufverzeichnis gespeichert. Schon beim zweiten Klingeln nahm jemand ab. Ich sah auf die Uhr. Es war genau der Moment, in dem ich über den roten Teppich hätte schreiten sollen.

»Hast du Zeit für eine dringende Rettungsaktion?«

»Ich komme sofort«, antwortete Paul.