Bella
D as konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein. So hatte dieser Tag doch nicht enden sollen. Mit mir hatte es doch nicht so enden sollen. Ich war gerade einmal achtundzwanzig. Ich hatte noch mein ganzes Leben vor mir. So durfte es nicht enden, mit Angst und Verwirrung, in einem Wrack aus verformtem Metall, mit dem Blick in die Augen eines fremden Menschen.
Es war merkwürdig still, als wäre die Welt plötzlich stummgeschaltet worden. Die Feuerwehr, deren Sirenen bald durch die Luft heulen würden, hatte man noch nicht alarmiert. Am wolkenlosen blauen Himmel über mir hörte ich ganz leise die Schreie verwunderter Möwen, die die Rufe der Schaulustigen tief unter uns nachzuahmen schienen.
Zwanglos, hatte sie gesagt. Kein großes Brimborium . Und kitschig soll’s schon gar nicht werden . Daher war ich verständlicherweise überrascht, als an jenem Morgen eine barbiepinke Limousine mit dunkel getönten Scheiben vor meiner Haustür auf mich wartete. Doch als der livrierte Chauffeur mir höflich die Tür aufhielt, zerstoben auch meine letzten Annahmen über den Junggesellinnenabschied meiner besten Freundin in einem Schwall klimatisierter kühler Luft, die mir aus dem Fahrzeug entgegenschlug. Sasha, die Braut in spe, grinste mich von der purpurfarbenen Rückbank aus breit an, in der einen Hand ein halb geleertes Glas Prosecco, in der anderen ein volles für mich.
»Es ist gerade mal acht«, sagte ich ungläubig und amüsiert und nahm kopfschüttelnd das Glas entgegen.
Sashas ordentlich gezupfte Augenbrauen hoben sich einen Zentimeter. »Und was willst du damit sagen?«
»Normalerweise trinke ich keinen Alkohol zum Frühstück«, antwortete ich schmunzelnd und nippte an dem perfekt gekühlten Schaumwein.
»Das ist ein besonderer Tag. Heute soll überhaupt nichts normal oder langweilig sein. Ich feiere Junggesellinnenabschied.«
»Ich glaube, das zieht keiner in Zweifel«, witzelte ich mit Blick auf die Satinschärpe mit der Aufschrift »Braut«, die sie schräg über der Brust trug. Eine interessante Kombination zu ihren knappen Jeansshorts und dem Westen-Top.
»Keine Sorge, Bella: Sie hat uns nicht vergessen«, sagte Mel von der gegenüberliegenden Sitzbank und deutete auf die pinkfarbenen Schärpen mit der Aufschrift »Brautjungfer«, die mir Mel, Jessica und Louise, die anderen Brautjungfern, stolz präsentierten.
Ich lehnte mich auf der Rückbank zurück und zuckte gut gelaunt mit den Schultern. Ich selbst hätte meinen Junggesellinnenabschied lieber in einem exklusiven Spa gefeiert und mich vor dem großen Tag verwöhnen und aufhübschen lassen, doch hier ging es nicht um meine Hochzeit. Und es war auch in der näheren Zukunft keine in Aussicht, brachte eine nervige innere Stimme mir in Erinnerung. Ich war die Einzige in unserer Gruppe, deren Partner unter Bindungsangst litt und in letzter Zeit an jedem Juweliergeschäft im Eilschritt vorbeispurtete. Nach zwei Jahren, die wir jetzt zusammen waren, schien Aaron überhaupt nicht daran zu denken, seinen Status als »Freund« zugunsten des »Verlobten« aufzugeben.
Daher verbrachte ich viel Zeit damit, den Leuten zu erklären, dass ich mit dem Hundepflege-Business, das ich vor anderthalb Jahren mit Wayne, meinem pudelvernarrten, ziemlich tuntigen Geschäftspartner, gegründet hatte, alle Hände voll zu tun hatte und mir daher keine Gedanken übers Heiraten machen könnte. Doch wer mich gut kannte, durchschaute diese Lüge, genauso wie ich die Lügen der anderen durchschaute. Sosehr meine Freundinnen es zu verbergen versuchten, sie dachten trotzdem, ich hätte jemand Besseren als Aaron verdient. Jemand viel, viel Besseren.
»Eine Verlobung ist doch nicht alles«, hatte Sasha mich einmal in Schutz genommen. »Ist ja nicht so, als veranstalteten wir einen Wettbewerb – wer als Erste vorm Traualtar steht, oder?« Was leicht gesagt war, wo sie doch offensichtlich bei diesem Rennen gewinnen würde. »Wartet einfach ein paar Jahre, bis Bella bei The Apprentice gewonnen und ihr globales Hundepflege-Franchise aufgebaut hat … oder so.«
Als ich daran zurückdachte, musste ich erneut schmunzeln und schenkte meiner Freundin einen liebevollen Blick. Die mit Glasperlen besetzte Tiara war ihr auf dem langen, blond gelockten Haar etwas verrutscht, und obwohl sie kaum Make-up trug, war sie die hübscheste Frau hier im Wagen. Sie zwinkerte mir zu, und ich zwinkerte zurück, unser Geheimzeichen, das wir schon seit einer gefühlten Ewigkeit hatten. Sie hielt mir den Rücken frei und ich ihr. So war es immer gewesen, vom ersten Tag an, als sie sich auf dem Schulhof bei mir untergehakt und gesagt hatte, wir sollten beste Freundinnen sein, da wir beide noch keine beste Freundin hätten. Vielleicht nicht das geeignetste Argument, um eine lebenslange Freundschaft zu beginnen, doch schon damals hatte Sasha eine sichere Urteilsfähigkeit, denn von jenem Tag an waren wir unzertrennlich gewesen.
Deshalb hatte ich auch nichts dagegen, dass ich mich heute mit der pinken Schärpe im Vergnügungspark für sie zum Affen machen und in drei Wochen in meinem Brautjungfernkleid an ein großes, pfirsichfarbenes Baiser erinnern würde. Freundinnen tun so was füreinander.
»Sollen wir die mitnehmen?«, fragte ich mit Blick auf die fünf Sporttaschen, in denen unsere Wechselkleidung für die Abendaktivitäten steckte, wobei ich nicht wusste, ob ich später noch fit genug sein würde für das schicke Restaurant, und vor allem: für den geplanten Klubbesuch danach.
»Nein, die können im Wagen bleiben«, meinte Sasha, rutschte geschmeidig über die Rückbank und stieg aus dem Fahrzeug in die bereits aufgeheizte Sommerluft. Während der zweistündigen Fahrt war das Quecksilber definitiv hochgeklettert, und die Wangen von uns fünfen hatten einen hübschen rosigen Glow, auch wenn das natürlich genauso gut an den drei leeren Flaschen Prosecco liegen konnte, die jetzt im Fond der Limousine kopfüber im Sektkühler steckten.
Nachdem wir alle den Tiefen des pinkfarbenen Fahrzeugs entstiegen waren, kramten wir in unseren Handtaschen nach Sonnenbrillen, und ich suchte in meiner Tote Bag den alten Scrunchie, den ich bei der Arbeit benutzte, und band mir damit meine glatten kastanienbraunen Haare zu einem langen, baumelnden Pferdeschwanz zusammen, um den Nacken frei zu haben.
»Und Sie, Derek, bleiben also hier und warten auf uns? Den ganzen Tag über?«
Der grau livrierte Chauffeur nickte. »Genau. Ich warte hier auf die Damen, bis Sie weiterfahren möchten.«
Ich lächelte ihm verlegen zu. Es war bestimmt nicht besonders lustig, so lange im Wagen auszuharren, bis ein Haufen eindeutig überdrehter Mittzwanzigerinnen merkte, dass sie eigentlich viel zu alt dafür waren, den Tag mit halsbrecherischen Achterbahnfahrten zu verbringen. »Hoffentlich wird Ihnen nicht zu langweilig«, sagte ich und winkte ihm freundlich zu. »Bis später.«
Ich sollte den Mann nie wiedersehen.
Wir hatten einen tollen Vormittag, obwohl wir Mel im wörtlichen Sinne nicht nur einmal, sondern gleich zweimal im Gedränge verloren, und dann verloren wir Louise – im übertragenen Sinne – nach einer besonders rasanten Runde in den rotierenden »Teetassen«. Mit schlotternden Knien und grünlichem Teint stieg sie aus dem Fahrgeschäft.
»So was sollte verboten werden«, sagte sie vorwurfsvoll und deutete auf eine der Gondeln, aus der gerade fröhliche Fünfjährige ohne sichtbare Nebenwirkungen heraussprangen. »Ist dir etwa nicht schlecht?« Fast wirkte sie enttäuscht, als ich den Kopf schüttelte.
»Aber ich hab so schnelle Dinger auch schon immer gemocht«, räumte ich ein.
Louise schüttelte sich demonstrativ, und ich nahm an, dass sie für heute genug hatte, ausgenommen vielleicht Attraktionen für Vorschulkinder.
»Dann kommst du vermutlich nicht mit zur ›Hybrid‹, oder?«, neckte ich sie und zog den Faltplan vom Vergnügungspark aus der Gesäßtasche meiner Jeans. Sasha kam von hinten zu mir gelaufen, legte mir das Kinn auf die Schulter und las die Kurzbeschreibung der neuesten Park-Attraktion, einer Achterbahn mit acht Loopings.
»Also, ich glaub nicht, dass Mel die Mindestgröße dafür hat«, sagte sie und milderte die Bemerkung mit einem freundlichen, an unsere kleine rothaarige Freundin gerichteten Lächeln ab.
»Ha, ha«, antwortete die. Trotz ihrer Vorliebe für High Heels und Plateauschuhe reichte sie uns nur bis zu den Schultern. »Ich glaub, ich geh besser mit Louise zu den Toiletten«, sagte sie und legte Louise, die inzwischen nicht mehr grün, sondern kreidebleich war, den Arm um die Taille.
»Eine ist schon raus«, murmelte Jessica, die Louise auf der anderen Seite unterhakte. »Und wir haben noch nicht mal mit den Tequilas angefangen.«
»Sieht so aus, als wären es dann nur wir beide«, sagte ich und schaute Sasha in die leuchtend blauen Augen. »Wenn du bereit bist.«
»Immer doch«, sagte sie grinsend.
»Bleibt bei den Klos, wir kommen nach, wenn wir durch sind. Die Fahrt geht nur anderthalb Minuten, dauert nicht lange.«
»Nie im Leben. Auf keinen Fall.«
»Ist das ein Nein zur Fahrt oder zur langen Schlange?«, fragte ich und war enttäuscht wie ein kleines Kind, dass die Anzeige im Moment eine Wartedauer von zehn Minuten verhieß, bis wir die neueste Attraktion im Park besteigen konnten.
Sasha trat ein paar Schritte aus dem Gedränge heraus und schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab, um einen Wagen zu verfolgen, der mit unglaublichem Karacho von einem waghalsigen Looping zum nächsten bretterte.
»Teil, teils, glaube ich«, antwortete sie. »Ich will nicht Ewigkeiten auf was warten, das nach anderthalb Minuten schon wieder vorbei ist.«
»Ja, das hebst du dir besser für die Flitterwochen auf«, witzelte ich.
Sasha kicherte eindeutig zweideutig. »Echt jetzt, Bella. Meinst du wirklich, das lohnt sich? In der Zeit können wir wahrscheinlich drei andere Fahrgeschäfte ausprobieren.«
Ein gutes Argument, fand ich, und mein Blick wanderte an der langen, gewundenen Schlange von Fahrwilligen entlang. Ein plötzliches Gebrüll von oben ließ die Wartenden zusammenschrecken. Hinter der Burgkulisse der Bahn spuckte ein riesiger, animatronischer Drachenkopf Feuer. Manche Parkbesucher johlten ausgelassen, andere lachten nervös oder taten so, als würde es sie völlig kaltlassen.
Das Thema der Bahn, muss man dazu sagen, war besonders eindrucksvoll umgesetzt. »Genau wie in den Büchern, die wir als Kinder gelesen haben«, schwärmte Sasha in einem Anfall von Nostalgie. »Weißt du noch? Die Geschichten mit den Zauberern und den Lava speienden Drachen?«
Ich lächelte, denn ich wusste genau, von welcher Buchreihe sie sprach. Deren Bände standen alle noch im Bücherregal meines ehemaligen Kinderzimmers. Wie so vieles in meinem Elternhaus war mein Zimmer eingefrorene Vergangenheit, die Zeit war im Jahr 2006 stehen geblieben. Es war, als hätte Dad Angst davor gehabt, auch nur irgendetwas in dem Haus zu verändern, nachdem Mum gestorben war. Womöglich dachte er, das würde es mir leichter machen. Was vielleicht auch stimmte, doch wenn man mit vierzehn seine Mutter verliert, hinterlässt das Wunden, die auch noch so viel Zeit nicht zu heilen vermag.
Ich versuchte, die Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln, denn sie waren zu düster. Und im nächsten Moment prallte ich mit einem großen Mann zusammen, den ich beim Weitergehen irgendwie übersehen hatte. Ein paar kräftige Hände packten mich, damit ich nicht hinfiel, wobei meine Nase gegen seine Brust stieß, eine ziemlich harte, muskulöse Brust. Instinktiv löste ich mich aus dem Griff, denn die Hände des Fremden an meinen nackten Armen brachten mich irgendwie durcheinander. Auch wenn der Zusammenstoß nicht besonders schmerzhaft gewesen war, standen wir beide wie angewurzelt da.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass die Schuld allein bei mir gelegen hatte.
»Nein, das war nicht Ihr Fehler, sondern meiner«, wehrte ich ab, was eher wie ein Satz aus einem Trennungsgespräch klang als nach einer Entschuldigung. Aaron hatte so einen Satz fallen lassen, als er letzten Sommer vorschlug, wir sollten »eine Beziehungspause« einlegen. Auch wenn wir schon nach anderthalb Monaten wieder zusammengekommen waren, hatte seine Bemerkung bei uns etwas verändert. Durch sie war mir bewusst geworden, dass unsere Beziehung, von der ich angenommen hatte, sie bestünde aus Granit, womöglich aus etwas weit weniger Dauerhaftem gemacht war. Die Erinnerung ließ mich die Stirn runzeln, und leider bezog der große, dunkelhaarige Mann, in den ich hineingelaufen war, das irrtümlich auf sich.
»Na gut«, sagte er leise und mit einem Schulterzucken, das einiges über meine Manieren aussagte. Bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, war er schon weitergegangen, und das beunruhigte mich, auch wenn ich nicht sagen konnte, wieso.
»Komm, wir gehen zu den anderen zurück«, schlug ich Sasha vor und fasste sie am Arm, um uns einen Pfad durch die Menge der Parkbesucher zu bahnen.
»Nein, warte«, drängte mich Sasha.
Das Leben ist wie eine Achterbahnfahrt, mit Biegungen und Wendungen und Schleifen, in denen man schon mal die Kontrolle verlieren kann, auch wenn man gerade gedacht hatte, man wüsste, wohin die Reise geht. Und die Schlüsselmomente kurz vor einer Veränderung kommen ohne Vorwarnung, ohne Warnsignal. Sie pirschen sich leise heran.
Ich weiß, dass Sasha sich sehr lange die Schuld dafür gab, was im Folgenden passierte. Vielleicht tut sie das noch immer. Doch es war nicht ihre Schuld. Genauso hätte ich diejenige sein können, die darauf bestand, dass wir Achterbahn fuhren.
»Los, wir stellen uns an«, sagte sie und positionierte sich hinter einer Gruppe Mädchen, die ganz sicher nicht die Größenanforderung erfüllten.
»Aber du willst doch gar nicht fahren.«
Sasha zuckte anmutig mit den Schultern, und die Tiara verrutschte weiter, sodass es noch kecker aussah. »Und du willst auf meiner Hochzeit nicht wie ein pfirsichfarbener Cupcake rumlaufen, aber wenn du das mir zuliebe einen ganzen Tag lang über dich ergehen lässt, dann kann ich doch wohl zehn Minuten mit dir in der Warteschlange ertragen.«
Ich legte ihr sanft die Hand auf den Arm, und sie lächelte mich an, und doch es lag ein leichtes Zittern in ihrer Stimme, als sie hinzufügte: »Aber keine Klagen, falls ich dich vollreihere.«