Kapitel 19

Sechs Monate später

S ie glichen frischgebackenen Eltern, die beide unbedingt den Kinderwagen schieben wollten. Nur dass ich mich nicht in einem Kinderwagen befand, sondern in einem Rollstuhl, und ich war sehr wohl in der Lage, mich selbst durch die Ladentür zu manövrieren. Sasha bedachte Wayne mit einem »Das ist ja wohl eher mein Job«-Blick, den der wiederum vorgab, nicht zu bemerken. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war, dass ich die beiden gebeten hatte, mich heute zu begleiten.

Auf dem dicken Florteppich wurden die Räder meines Rollstuhls abgebremst, sodass ich direkt hinter der Schwelle von Fleurs Wedding Gowns zum Stehen kam. Ich blickte mich um, weil ich befürchtete, meine Reifen könnten auf dem hellgrauen Teppich zwei schwarze Streifen hinterlassen haben, was aber glücklicherweise nicht der Fall war.

Die Besitzerin des Geschäfts saß an einem antiken Schreibtisch, der in einer Ecke des Verkaufsraums stand. Sie erhob sich in einer einzigen, fließenden Bewegung. Ihr Kleid musste ein Designerstück sein, darauf hätte ich den letzten Monatsumsatz von Doggy Divas verwettet. Nervös sah ich mir die vielen Kleiderstangen mit Brautkleidern an.

Das hier war das Brautmodengeschäft, wo Sasha mit ihrer Mutter ihr Hochzeitskleid gekauft hatte, und sie war nicht davon abzubringen gewesen, dass wir hier mit der Suche nach meinem anfangen sollten. »Es ist der beste Laden der Stadt«, hatte sie ihn gepriesen, was wahrscheinlich stimmte, aber ich hatte das Gefühl, dass er so gar nicht zu mir zu passte.

Gwendoline Flowers, die Besitzerin von Fleurs, schien eher zu schweben als zu gehen, als sie uns zur Begrüßung entgegenkam. Sie reichte mir eine elegante Hand mit schlanken Fingern, deren lange Nägel im selben Blutrot lackiert waren wie dem ihres Lippenstifts. Das waren die einzigen Farbtupfer in ihrem ansonsten vollkommen schwarz gehaltenen Outfit.

Es gefiel mir, dass sie mir beim Händeschütteln direkt in die Augen sah. Das machte nicht jeder. Vielen Leuten schien es schwerzufallen, mit Rollstuhlfahrern Blickkontakt aufzunehmen. Und, schlimmer noch, manche schienen von der Unfähigkeit zu gehen auf einen Mangel an Intelligenz zu schließen. Meistens fand ich es einfach nur lustig, wenn jemand langsamer und lauter redete, als säße ich wegen hochgradiger Schwerhörigkeit im Rollstuhl oder weil ich schwer von Begriff war.

»Sie müssen meine Braut sein, Bella.« Da diese Begrüßung so klang, als würde ich mit ihr vermählt werden und nicht mit dem Mann, den ich liebte, konnte ich mir nur mit Mühe ein Schmunzeln verkneifen. »Und Sasha natürlich, wir kennen uns ja bereits.« Ich bemerkte, wie meine Freundin sich unbewusst etwas aufrichtete, als sie die ältere Frau begrüßte. Gwendoline war der Typ von Mensch, bei dem man ein schlechtes Gewissen bekommt, dass man die Balance-Übungen mit einem schweren Buch auf dem Kopf hat schleifen lassen. Ich merkte, wie auch ich in meinem Rollstuhl unwillkürlich Haltung annahm.

Die Ladenbesitzerin hatte einen bohrenden Blick, und ihre Augen erinnerten an die eines Raben. Sie musterte erst Sasha und mich und dann Wayne, der auf der anderen Seite neben dem Rollstuhl stand. »Und das ist unser Bräutigam?«

Wir lachten alle drei dieses irgendwie unnatürliche, für Nervosität typische Lachen.

»Neeein«, sagte Wayne – mit hochgeschraubter Tuntigkeit, falls Gwendoline noch eine weitere Erklärung benötigte. »Ich bin ein guter Freund von Bella. Sie hat mich wegen meines Gespürs für Mode gebeten, sie heute zu begleiten.«

Gwendoline musterte ihn mit einem kurzen Blick, der von seinem zerzaust gestylten Haar hinunter zu seinen burgunderroten spitzen Schuhen glitt. »Ich verstehe«, sagte sie souverän. Meine Lippen zuckten leicht, als sie uns zu einer Chaiselongue mit Samtbezug führte. Trotz meiner anfänglichen Bedenken und ihrer etwas hochnäsigen Art hatte ich bereits beschlossen, dass ich diese Frau mochte.

»Dann erzählen Sie mir doch mal von Ihrer Hochzeit. Wann soll sie stattfinden, und wie möchten Sie an Ihrem großen Tag aussehen?«

Ich berührte den in Prinzessform geschliffenen Diamanten an meiner linken Hand. Seit etwas mehr als zwei Monaten trug ich ihn und musste immer noch jedes Mal lächeln, wenn ich ihn betrachtete. In unangenehmen Momenten – meistens in Arztzimmern eines Krankenhauses – verlieh er mir Kraft und Mut. Und beides brauchte ich jetzt, als ich das sagte, was jede Brautmodenverkäuferin garantiert fürchtet.

»Da wären wir vermutlich schon beim Problem. Die Hochzeit findet sehr bald statt.«

Sie schluckte kurz, und ihr Blick schien mir noch etwas bohrender, als sie fragte: »Von wie bald sprechen wir genau?«

»In sechs Wochen.« Merkwürdig, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, mich für etwas, worauf ich mich unglaublich freute, entschuldigen zu müssen.

Sasha schob schnell eine Erklärung hinterher. »Bella hat Ende des Sommers noch einen OP -Termin, darum mussten sie die Hochzeit vorziehen.«

Dankbar lächelte ich meiner Freundin zu. Um sich ebenfalls von seiner besten Seite zu zeigen, beantwortete Wayne Gwendolines zweite Frage für mich. »Und sie will wunderschön aussehen.« Er zwinkerte mir demonstrativ zu. »Obwohl Sie sie wahrscheinlich in einen Müllsack stecken könnten, und sie wäre immer noch bezaubernd.«

Ich hatte wirklich die besten Freunde der Welt. Sie zankten sich zwar oft wie kleine Kinder, aber auf diesem Planeten gab es keine Menschen, die besser geeignet gewesen wären, mich heute zu begleiten. Einen Augenblick lang empfand ich Traurigkeit, weil mir die Frau fehlte, die auch mit mir hätte hier sein sollen. Ich vermisste Mum ständig, aber die meiste Zeit war es ein leiser, gedämpfter Schmerz, mit dem ich umgehen konnte. Heute war er schärfer, spitzer. So wunderbar meine Freunde auch waren, meine Mutter fehlte mir heute ganz besonders.

»Mein Budget ist eher knapp«, schob ich schnell noch hinterher, weil ich dachte, dass ich die Verkäuferin genauso gut gleich mit allen Problempunkten konfrontieren konnte. Ich nannte ihr die Summe, und ich bin mir sicher, dass ihre porzellanweiße Haut daraufhin ein wenig erbleichte. »Das ist mein Budget. Wir hatten einige Ausgaben für den behindertengerechten Umbau unserer neuen Wohnung, und meine Versicherungssumme möchte ich für die Hochzeitskosten nicht antasten.«

Gwendoline lächelte und wirkte eher inspiriert als beunruhigt. »Dann müssen wir also ein Kleid finden, das zu Ihrem Zeitrahmen, Ihrem Budget und einem Rollstuhl passt.«

Meine Freunde und ich wechselten Blicke. Die Ladenbesitzerin hob erwartungsvoll die Augenbrauen.

»Es muss auch gut aussehen, wenn ich gehe«, sagte ich nervös. Als ich auf meine Hände schaute, bemerkte ich, dass ich die Finger abergläubisch gekreuzt hatte. »Ich hoffe, ich schaffe die zwölf Schritte zum Altar.«

»Elf«, korrigierte mich Sasha. »Ich hab gestern noch mal nachgezählt. Es sind nur elf.«

»Das sind trotzdem sechs mehr, als ich aktuell packe«, entgegnete ich besorgt.

»Es ist ja noch Zeit. Jede Menge«, sagte Wayne zuversichtlich.

Nicht zum ersten Mal war ich froh, die beiden in meinen Plan eingeweiht zu haben. Darüber hinaus wussten nur noch mein Vater und die Physiotherapeutin davon. Ich schlief abends in den Armen des Mannes ein, den ich liebte, und träumte von seinem überraschten Blick, wenn ich mich aus dem Rollstuhl erheben und auf ihn zugehen würde.

»Also, es sieht so aus, als stünden wir alle vor besonderen Herausforderungen«, sagte die Besitzerin von Fleurs resolut. Ich folgte Gwendoline in meinem Rollstuhl ins Ankleidezimmer, während Sasha und Wayne auf der Chaiselongue Platz nahmen. Nachdem sie die Tür hinter uns geschlossen hatte, blieb sie eine Weile reglos stehen und musterte mich kritisch.

»Müssen Sie meine Maße nehmen oder so? Ich kann dafür einen Augenblick aufstehen.«

Gwendoline schüttelte den Kopf. »Ich weiß genau, welche Kleidergröße Sie haben und was Ihnen steht. Genauer gesagt, habe ich bereits ein bestimmtes Kleid für Sie im Kopf …« Einen Augenblick lang wirkte sie unentschlossen, was bei ihr sicherlich selten vorkam. »Es … es wurde kurzfristig zurückgegeben.«

»Hat die Braut es sich mit dem Kleid etwa anders überlegt?«

»Nein. Mit dem Bräutigam.«

»Oh«, sagte ich erschrocken. »Also, das wird mir bestimmt nicht passieren.«

Gwendoline nickte bedächtig. »Sofern Sie nicht abergläubisch sind und das Gefühl haben, es könnte Unglück bringen, ein Kleid mit einer solchen Geschichte zu tragen.«

Ich zuckte kläglich mit den Schultern und blickte auf meine Beine. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich meinen Anteil an Pech schon abbekommen habe. Jetzt ist es mal Zeit für ein bisschen Glück.«

Ich hatte mich gerade aus meinem Kleid mit durchgehender Knopfleiste befreit, als Gwendoline mit einem Kleidersack aus Satin über der Armbeuge zurückkam. Plötzlich war ich so aufgeregt, dass ich kaum still sitzen konnte. Zum ersten Mal begriff ich, wieso es über solche Themen Fernsehsendungen gab. Es machte tatsächlich Riesenspaß.

Gwendoline zog langsam den Reißverschluss der Kleiderhülle auf, und mit jedem Zentimeter, den er sich öffnete, wurde ich mir sicherer, dass ich gerade das Kleid vor mir hatte, in dem ich heiraten würde. Vor dem Unfall hätte ich womöglich ein Ballkleid gewollt, eines mit ausladendem, bauschigem Rockteil, in dem ich wie eine Disney-Prinzessin aussah. Aber diese Träume waren glücklicherweise hinfällig, als Gwendoline das Hochzeitskleid aus der Hülle schüttelte und es mir hinhielt.

»Es ist traumhaft«, hauchte ich und strich mit den Fingern vorsichtig über die feine Silberstickerei. In dem künstlichen Licht glitzerten die Ziersteine auf der Korsage einfach wunderhübsch.

»Sind Sie bereit für die Anprobe Ihres Hochzeitskleides?«

»Vielleicht passt es mir gar nicht.«

Gwendoline hatte ausgesprochen beredte Augenbrauen. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich Unsinn sagte, und damit hatte sie auch völlig recht. Das Kleid war wie für mich gemacht. Die arme Braut, die es bestellt und dann ihre Hochzeit abgesagt hatte, hätte mein Körperdouble sein können.

Sobald ich das Kleid mit Gwendolines Hilfe angezogen hatte, stellte ich mich vor die Spiegelwand des Ankleidezimmers, eine Hand an die Wand gestützt. Gwendoline hielt meine andere. Die Braut, die mir entgegenblickte, schien gerade einer Modezeitschrift entstiegen zu sein. Dank der geschnürten Korsage wirkte meine Taille viel schmaler als sonst. Ich betrachtete mein Dekolleté, das ich ungelogen so noch nie gesehen hatte, und schüttelte ungläubig den Kopf.

Und dann traute ich mich kaum zu fragen: »Kann ich mir das überhaupt leisten?«

Ihr Zögern verriet mir, was ich schon vermutet hatte. Unter ihrem rabenschwarzen Äußeren hatte diese Frau ein weiches Herz. »Ja«, sagte sie. Und wir wussten beide, dass sie nicht die Wahrheit sagte.

Sasha weinte. Wayne genauso, und er entschuldigte sich auch nicht dafür.

»Du siehst aus wie ein Engel«, sagte er, kam auf meinen Rollstuhl zugelaufen, in dem ich nun wieder saß, und nahm mich fest in die Arme. »Wenn dein Freund es sich anders überlegen sollte, dann heirate ich dich vom Fleck weg.«

Ich schmunzelte und zwinkerte Sasha, die gerade ihr drittes Taschentuch benutzte, über seine Schulter hinweg zu. »Niemand überlegt sich hier irgendetwas anders. Diese Hochzeit findet auf jeden Fall statt.«