Kapitel 22

W ie hat Gran gestern auf dich gewirkt?«

Das Müsli, das ich gerade im Mund hatte, schien sich schlagartig in Sägemehl zu verwandeln, sodass es mir vollkommen unmöglich war, es runterzuschlucken. Ich griff nach meinem Glas und erkaufte mir mit einem großen Schluck Saft ein paar weitere Sekunden.

»Ganz normal, wirklich. Wieso fragst du?«, sagte ich zum Premierminister, der die Titelseite der Zeitung beherrschte, hinter der mein Vater saß. Mum hatte schon vor Jahren den Versuch aufgegeben, Dad dazu zu bringen, beim Frühstück mit seiner Familie zu interagieren und nicht mit Zeitungskolumnisten. Um ehrlich zu sein, war er morgens nie besonders zugänglich, darum war es seltsam, dass er heute – ausgerechnet heute – beschlossen hatte, mich in ein Gespräch über Gran zu verwickeln. Oder vielleicht war es überhaupt nicht seltsam. Vielleicht wusste er es schon.

Ich verwarf diesen Gedanken so schnell, wie er mir gekommen war. Hätte mein Vater gewusst, was ich wusste, hätte er auf keinen Fall hier gesessen und in aller Seelenruhe seinen Marmeladentoast gemampft. Es ließ sich nicht vorhersagen, wie er reagieren würde, wenn Gran ihm ihr Geheimnis irgendwann mitteilte. Sicher war nur, dass es schlimm werden würde. Sehr, sehr schlimm.

Der Premierminister zuckte zusammen und wurde dann mittig zusammengefaltet, als mein Vater die Zeitung beiseitelegte. »Weil sie meine Mutter ist, und es ist die normalste Sache der Welt, dass ich mich erkundige, ob es ihr gut geht.«

»Auf mich hat sie gut gewirkt, Dad«, versicherte ich ihm. »Auch wenn wir uns beim Konzert gestern natürlich nicht viel unterhalten konnten.« Das war nicht ganz gelogen, aber gefährlich nahe dran. Doch zumindest hatte ich Grans Vertrauen nicht gebrochen.

»Hmm …«, sagte mein Vater, bevor er seine zweite Tasse schwarzen Kaffee leerte. Zwei Tassen waren sein Limit. Gleich würde er aufstehen, auf die Uhr schauen – die Armbanduhr seines Vaters, die er die letzten fünf Jahre lang täglich getragen hatte – und sagen, er müsse jetzt los, um nicht in den ärgsten Berufsverkehr zu geraten. Er würde geistesabwesend zwei Küsse verteilen – einen auf die Wange meiner Mutter und den anderen auf meinen Scheitel – und dann verschwinden, um das zu tun, was auch immer leitende Buchhalter den ganzen Tag über machten. Mein Vater war ein Gewohnheitsmensch.

Aber merkwürdigerweise schien er heute früh ziemlich neben der Spur zu sein. Nachdem er seine Aktentasche ergriffen hatte, hielt er inne. »Ich mache mir neuerdings etwas Sorgen um sie. Bei unseren letzten Besuchen kam sie mir ein wenig abwesend vor. Nicht ganz ›bei uns‹, wenn du verstehst, was ich meine.«

Meine Mutter, die gerade damit beschäftigt war, die Spülmaschine einzuräumen, richtete sich auf. »Gerald, deine Mutter ist sechsundsiebzig«, sagte sie einfühlsam. »Ich weiß, es gefällt dir nicht, dass sie älter wird, aber es ist nicht ungewöhnlich, dass man in diesem Alter ein wenig … vergesslich wird.«

Mum hatte ihre Worte sorgfältig gewählt. Demenz war die größte Angst meines Vaters. Sie hatte seinem Vater die letzten Jahre seines Lebens zu schaffen gemacht, und im Stillen war Dad überzeugt, dass dieses Gespenst nun zurückkam und seine Mutter ebenfalls heimsuchen würde.

»Ich hoffe wirklich sehr, dass so etwas nicht dahintersteckt«, sagte er und schüttelte besorgt den Kopf.

Ich konnte nicht anders. Die Worte schienen mir wie von selbst über die Lippen zu sprudeln. »Gran ist nicht dement. Bei ihr ist geistig alles in Ordnung. Sie ist scharfsinnig wie immer.«

Mein Vater kam durch die Küche zu mir und legte mir eine seiner großen Pranken auf die Schulter. »Ich hoffe, du hast recht, mein Schatz. Ich weiß, wie lieb du sie hast.« Er seufzte leise. »Aber trotzdem, irgendwas hat sie seit Neuestem an sich, das ich nicht ganz benennen kann …«

»Du kommst noch zu spät zur Arbeit, Gerald«, warnte ihn meine Mutter, auch wenn ihm in Wahrheit noch reichlich Zeit blieb, um in sein Büro zu fahren.

Ich wartete, bis ich seinen Wagen starten hörte, bevor ich mich an meine Mutter wandte. Seit meiner Verteidigung von Gran hatte sie mich aufmerksam beobachtet.

»Dad hat Gran doch lieb, oder? Ich weiß, wie nahe er Grandad stand, aber er hat sie doch auch lieb, stimmt’s?«

Zwischen den Brauen meiner Mutter vertiefte sich eine kleine Falte. Sie gab sich alle Mühe, diese Stirnfalten mit einer Reihe an Wundercremes aus der Drogerie in Schach zu halten, aber wenn sie Sorgen hatte, waren sie immer noch sichtbar. Auch jetzt.

»Natürlich. Was ist das für eine merkwürdige Frage, Mandy? Wieso fragst du das denn?«

Ich fummelte nervös an meinem Stuhl herum und bereute bereits, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte. »Nur so.«

Bevor ich mich in ein Lügennetz verstricken konnte, aus dem ich nicht mehr herausfinden würde, stand ich hastig auf. Auf der Türschwelle, wo ich meine prallvolle Tote Bag abgestellt hatte, hielt ich inne. »Vielleicht komm ich heute Abend ein bisschen später. Ich schau noch mal bei Gran vorbei.«

Meine Bemerkung ließ bei meiner Mutter die Alarmglocken losschrillen, genau wie ich befürchtet hatte.

»Schon wieder? Du warst doch erst gestern bei ihr.«

»Ich weiß, aber ich glaub, ich hab mein Geschichtsbuch bei ihr liegen lassen, und ich brauch es für meine Hausaufgaben.«

Mum würde in einen weiteren Tiegel noch wirksamerer Creme investieren müssen, um die Falten loszuwerden, die ich mit meiner Erklärung bei ihr hervorrief. Ihr Blick glitt vielsagend zu meiner offenen Tasche hinunter, aus der ein dickes Buch mit Oliver Cromwell auf dem Einband ragte.

»Ist es nicht da drin, in deiner Tasche?«

Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg, und sie war viel zu intensiv, um darauf hoffen zu können, dass meine aufmerksame Mutter sie nicht bemerken würde.

»Äh, nein, das ist ein anderes Buch. Das, was ich meine, hab ich im Sunnymede gelassen.«

Sie sparte sich einen Kommentar. Aber das bedeutete nicht, dass sie mir die Geschichte abkaufte. Gran hatte recht. Meiner Mutter entging nichts.

Ich hatte gehofft, wenn ich erst einmal durch das Schultor gegangen war, würde es mir möglich sein, die Gedanken an meine Großmutter zu verdrängen, zumindest bis zum Nachmittag. Doch sie begleiteten mich jede Minute, während ich mich vor und nach den Unterrichtsstunden durch das Gedränge auf den Schulkorridoren schob und als ich abwesend auf den Prüfungsbogen vor mir schaute. Ich war unzufrieden damit, wie ich gestern reagiert hatte. Und je mehr ich während der langen Nacht darüber nachgedacht hatte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass ich Gran irgendwie hatte hängen lassen. Sie hatte mir großes Vertrauen entgegengebracht, als sie mir von Josie erzählte, und ich hätte viel bestärkender und nicht so geschockt reagieren sollen. Deshalb musste ich sie noch einmal besuchen.

Ich konnte mich später nicht mehr erinnern, wie ich die Fragen im Geschichtstest beantwortet hatte, was wohl bedeutete, dass ich bald die erste Sechs meines Lebens kassieren würde. Merkwürdigerweise machte mir das überhaupt nichts aus. In der Pause verdrückte ich mich unauffällig, als meine Freunde in die Cafeteria gingen, und suchte mir eine ruhige Ecke im Pausenraum. Ich griff zu meinem Telefon und schickte eilig eine Textnachricht raus. Sie war knapp, und ich wusste nicht, ob er sie überhaupt noch rechtzeitig lesen konnte.

Können wir uns mittags treffen?

Ich hatte es wohl genau richtig getimt, denn Jamie antwortete sofort. Unsere Verabredung gestern Abend hatte ich in letzter Minute abgesagt, weil ich total durch den Wind gewesen war, daher nahm er wahrscheinlich an, ich wolle mich persönlich bei ihm entschuldigen. Und das wollte ich auch. Aber darüber hinaus verspürte ich einen großen Drang, ihn zu sehen. Ich war nicht in Jamie verliebt, zumindest hatte ich das meiner Großmutter gesagt. Ich glaubte immer noch, dass ich viel zu jung war, um zu begreifen, wie sich Liebe überhaupt anfühlte. Und doch war er in dieser Krise der Erste – der Einzige –, mit dem ich sprechen wollte.

Klar. Um eins am Parkeingang?

Er war vor mir dort und wartete an den schmiedeeisernen Zaun gelehnt, mit zwei tropfenden Eistüten in den Händen. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, bevor ich ihn von einem der schmelzenden Hörnchen befreite. Dass wir mittags das Schulgelände verlassen durften, war so ein Oberstufenprivileg, aber jedes Mal, wenn ich mich auf der Anwesenheitsliste austrug, um mich mit Jamie zu treffen, kam es mir fast so vor, als würde ich etwas Verbotenes tun. Es war, als hätten wir eine heimliche Affäre oder so. Wenn ich mutig genug gewesen wäre, meinen Eltern zu sagen, dass wir immer noch Kontakt hatten, obwohl sie dagegen waren, würden sie vielleicht doch noch zu einem anderen Urteil über meinen Freund kommen, der mich besser behandelte als jeder andere zuvor. Machte ich mich genauso schuldig wie Gran, indem ich den Menschen, die ich liebte, wichtige Informationen vorenthielt? Der Gedanke bereitete mir Unwohlsein, also schob ich ihn weg.

Am meisten mochte ich an Jamie – gleich nach seinen breiten Schultern, der zerzausten Surferfrisur und seinem verwegenen »edgy« Look –, dass er ein wirklich hervorragender Zuhörer war. Wir hatten unser Eis schon lange gegessen und den See im Park halb umrundet, bevor er etwas sagte.

»Okaaaaay«, meinte er, als ich den Bericht von der Enthüllung meiner Großmutter schließlich beendet hatte. Irgendwann während unseres Spaziergangs hatte er meine Hand genommen und hielt sie immer noch sehr fest. »Jetzt versteh ich, warum du mich gestern Abend versetzt hast.«

»Tut mir leid«, sagte ich, lehnte mich an seine Schulter und genoss, dass er sich anfühlte wie ein Fels in der Brandung, ein Anker in einem Meer voller gefährlicher Strömungen.

»Schon komisch, die Vorstellung, dass man im Alter von deiner Großmutter mit irgendjemandem was anfängt – egal ob Mann oder Frau«, sagte er dann. »Wahrscheinlich denkt jeder, nur Leute in unserem Alter verlieben sich.«

In dem halben Jahr, das wir uns bereits dateten, war es das erste Mal, dass das L-Wort fiel, und ich wusste bereits, dass ich später einige Zeit damit verbringen würde, diesen Satz wie eine Forensikerin daraufhin zu analysieren, ob Jamie irgendwie auf die Gefühle zwischen uns anspielte. Aber im Moment hatten meine Großmutter und ihre Beziehung Priorität.

»Es tut mir einfach so leid, dass sie mit meinem Großvater all die Jahre nicht richtig glücklich war und mit niemandem darüber reden konnte! Das hat mich ehrlich gesagt mehr schockiert als ihre Gefühle gegenüber Josie.«

»Hmm … Ich glaub nicht, dass dein Vater das auch so sehen wird«, bemerkte Jamie trocken. Er hatte das ablehnende Verhalten meines Vaters bereits am eigenen Leib erfahren – mehr als jeder andere – und wusste also, wovon er redete. »Für ihn wird das ein doppelter Hammer sein. Es wird ihm nicht passen, dass deine Grandma jetzt jemand anderen hat. Vielleicht ist es ja sogar besser , dass sie sich in eine Frau verliebt hat und nicht in einen anderen Mann, der deinen Großvater ersetzen soll?«

Ich blieb stehen und schaute meinen Freund an. »Äh, hallo? Hast du meinen Vater je erlebt? «

Jamie lachte so laut, dass ein paar Vögel aus den Bäumen in der Nähe hochstoben. Er hatte meinem Vater tatsächlich erlebt, bei zwei denkwürdigen und offen gesagt ziemlich katastrophalen Gelegenheiten. Es war nicht gut gelaufen, und ich hatte Jamie nie von den Auseinandersetzungen erzählt, die mein Vater und ich gehabt hatten, nachdem er mich nach den betreffenden zwei Dates nach Hause gebracht hatte. Die Worte »Schulabbrecher« und »tätowierter Autofreak« waren dabei gefallen, und wenn sie auch alle grundsätzlich zutrafen, hatten sie wie Anschuldigungen geklungen. Kurz gesagt, unsere Beziehung führten wir nun »im Untergrund« weiter, und dort war sie rege aufgeblüht. Mir blieb nur zu hoffen, dass mein Vater in Bezug auf seine Mutter deutlich großzügiger und offener reagieren würde. Doch ich hegte meine Zweifel.

»Mehr, als für sie da zu sein, kannst du jetzt nicht tun«, lautete Jamies kluger Rat. »Dein Vater hat altmodische Ansichten, aber intolerant ist er nicht.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und verkniff mir einen Kommentar.

»Wahrscheinlich wird er etwas Zeit brauchen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass deine Großmutter jemand Neuen gefunden hat.«

Ich schüttelte den Kopf, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass mein Vater jemals solch eine Veränderung im Leben meiner Großmutter akzeptieren würde. »Ich befürchte echt, Gran wird nicht so lange leben, bis es dazu kommt. Das passiert irgendwann am Sankt-Nimmerleins-Tag.«

Jamie lachte erneut und griff dann nach meinem Handgelenk, um auf meine Uhr zu schauen. »Tut mir leid, Süße, ich muss los. Heute darf ich meine erste Kupplung wechseln.« Seine glänzenden Augen verrieten, dass das für ihn, der für Autos lebte, wirklich eine große Sache war.

»Super! Na dann … bau mal diese Kupplung ein!«, sagte ich und genoss bei unserem Abschiedskuss seine warmen Lippen auf meinen.

»Und du kümmerst dich um deine Großmutter«, gab er zurück.

Gran besaß ein Handy, auch wenn es quasi aus der Steinzeit stammte. Wenn ich vorhatte, sie nach der Schule zu besuchen, schrieb ich ihr normalerweise eine SMS , doch heute schickte ich ihr keine Nachricht, bevor ich zum Sunnymede ging. Erst als ich die Zufahrt hochstapfte, fiel mir ein, dass sie vielleicht bei einem der vielen Ausflüge sein könnte, die für die Bewohner der Residenz immer wieder angeboten wurden.

An der Rezeption war niemand, den ich hätte fragen können, also trug ich mich ins Besucherbuch ein und ging durch die vertrauten Flure, um nach ihr zu suchen. Der Aufenthaltsraum war leer, bis auf zwei ältere Bewohner, die an gegenüberliegenden Seiten des Raumes saßen und einander anschnarchten.

Als ich bei Gran anklopfte, kam keine Antwort, daher ging ich zu ihrem zweitliebsten Aufenthaltsort, dem Wintergarten. Er war ein großer, luftiger Anbau des Hauptgebäudes, in dem riesige Kübel mit großen Farnen und Palmen standen, sodass es dort viele Ecken und Winkel gab, wo man für sich sein konnte.

Ich entdeckte sie sofort. Sie saßen nebeneinander auf einem Zweisitzer-Chintz-Sofa, vor sich ein Tablett mit geleerten Teetassen, und beobachteten zufrieden die Vögel, die draußen vor den bodentiefen Fenstern an einer Futterstelle landeten und sich nach der Mahlzeit wieder in die Luft erhoben. Sie hatten die Köpfe eng zusammengesteckt. Bis gestern hätte ich gedacht, dass die beiden Frauen das machten, um einander besser zu verstehen. Heute wusste ich es besser. Während ich unbemerkt von der Tür aus mitbekam, wie sie so verliebt beieinandersaßen, musste ich schmunzeln.

Josies stahlgraue Locken bildeten eine wirre Haarkrone, während Grans Haare schlohweiß und weich wie Angorawolle waren. Als Kind war ich gern mit den Fingern hindurchgefahren, hatte Haarstylistin gespielt und wahrscheinlich eine Frisur ruiniert, für die Gran lange im Friseursalon gesessen hatte. Und doch hatte sie mich nie davon abgehalten. Ich spürte einen Kloß im Hals, als mir klar wurde, wie sehr ich diese Frau liebte, die mein Leben in so vieler Hinsicht beeinflusst hatte.

Josies Gehör war nicht so gut wie das von Gran. Sie fuhr hoch und war ganz offensichtlich überrascht, als ich ein fröhliches »Hallo« rief und zu ihnen ging. Gran begrüßte mich freundlich, aber auch erstaunt.

»Mandy!«, rief sie, und erst als ich mich zu ihr hinunterbeugte, um sie auf ihre weiche, faltige Wange zu küssen, merkte ich, dass sie und Josie beim Beobachten der Vögel Händchen gehalten hatten. Josie schien es peinlich zu sein, sie zog ihre Hand so schnell weg, als hätte man sie bei einem Ladendiebstahl erwischt. Ich verspürte Mitleid für die Frau, die das Herz meiner Großmutter erobert hatte. Wie traurig, wegen etwas so Natürlichem ein schlechtes Gewissen zu haben, als hätte man etwas falsch gemacht. Ich wusste fast nichts über Josies Vergangenheit – Gran hatte nie darüber gesprochen –, doch diese eine Bewegung verriet mir mehr, als hundert Gespräche je hätten vermitteln können.

»Was für eine wunderbare Überraschung, liebe Mandy. Ich hatte keine Ahnung, dass du heute wieder vorbeikommen würdest.«

Ich ließ mich auf einen Korbsessel beim Sofa sinken und zog meine Jacke aus. »Ich wollte dich einfach schnell wieder besuchen, Gran. Denn, na ja, wir haben unsere Unterhaltung gestern ja nicht richtig beenden können.«

Grans Augen mochten zwar vom beginnenden grauen Star getrübt sein, doch sie sah immer noch sehr genau, was ich vor ihr zu verbergen versuchte. Gestern, gleich nachdem sie mir von Josie erzählt hatte, war unser Gespräch vom Gong unterbrochen worden, der zum Abendessen läutete. Um ehrlich zu sein, war ich ziemlich froh gewesen, damit einen Grund zum Gehen gehabt zu haben. Ich hatte Zeit gebraucht, um das, was sie mir erzählt hatte, richtig zu verarbeiten. Aber nun waren meine Gedanken sortiert – und ich musste ihr sagen, dass ich voll und ganz auf ihrer Seite war.

»Ich tapere dann mal los und lasse euch beide in Ruhe plauschen«, sagte Josie und lächelte Grandma und mir zu.

»Josie, du kannst gern bleiben«, erwiderte ich.

Mithilfe ihres Gehstocks kam Josie ein paar unsichere Schritte auf mich zu und blieb neben meinem Sessel stehen. »Meine Liebe, deine Großmutter ist immer noch deine Großmutter. Ich möchte dir deine Zeit mit ihr nicht nehmen.« Bevor Gran oder ich Einspruch erheben konnten, fügte sie hinzu: »Außerdem ist heute der Bibliotheksbus hier, und ich hoffe, sie haben diese neue Kriegssaga dabei, die ich bestellt habe.« Sie lächelte ihre Freundin an. »Du weißt ja, wie ich diese Bücher liebe.«

»Mutige Heldinnen mit Pin Curls im Haar und knallrotem Lippenstift«, sagte Gran und nickte ihr zärtlich zu. »Josie, du bist im falschen Jahrzehnt geboren.«

Für einen kurzen Moment huschte ein wehmütiger Schatten über Josies faltiges Gesicht, gefolgt von einem reizenden selbstironischen Lächeln. »Für diesen Stil war ich nie mutig genug«, seufzte sie. Ihr Eingeständnis deutete darauf hin, dass sie eine Frau gewesen war, die sich weit mehr versteckt hatte als nötig. Doch gleich darauf kicherte sie und sagte: »Meine Tage mit knallrotem Lippenstift sind ganz sicher vorbei.«

Ich wartete, bis Josie gegangen war, bevor ich mich auf den nun frei gewordenen Platz setzte. Die Nachmittagssonne, deren Strahlen schräg durch die großen Glasscheiben hereinfielen, fing sich im Diamanten von Grans Verlobungsring und ließ ihn leuchten wie einen Miniaturkometen. Ich griff nach ihrer Hand. »Der wird eines Tages dir gehören«, hatte sie immer gesagt, doch selbst als kleines Mädchen hatte ich schon gewusst, dass alle Diamanten der Welt nicht ausreichen würden, um den Verlust dieser Frau auszugleichen.

»Also, Gran«, fing ich an und verflocht unsere Finger. »Wie geht’s dir heute?«

Sie betrachtete mich lange, denn ihr war klar, dass ich nicht nach ihrem körperlichen Befinden fragte und auch nicht auf höflichen Small Talk aus war.

»Sehr gut«, sagte sie schließlich mit der Andeutung eines Lächelns. »Ich bin erleichtert, nicht nur, weil ich es dir erzählt habe, sondern auch, dass du mich so bald wieder besuchst.«

»Hast du wirklich gedacht, ich würde nicht mehr kommen?«, fragte ich erschrocken. »Du musst doch gewusst haben, dass sich zwischen uns auf keinen Fall etwas ändern wird.«

Zum ersten Mal wirkte Gran unsicher. »Nun ja, ich habe es natürlich gehofft, aber es war doch ein ziemlicher Paukenschlag. Ich war mir nicht sicher, wie du es aufnehmen würdest.«

Ich drückte ihre Hand, aber nur vorsichtig, wegen ihrer schmerzhaften Arthrose.

»Das solltest du eigentlich besser wissen, Gran. Selbst wenn du mir gestehen würdest, dass du jemanden um die Ecke gebracht hast, würde ich bloß fragen: Wo lassen wir die Leiche verschwinden? «

Gran lachte leise, und es tat unglaublich gut, das zu hören, als hätte man mir eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen. Draußen im Garten pickten die Spatzen immer noch an der Futterstelle, und die Nachmittagssonne tauchte die Natur in eine reiche Farbpalette aus Gold- und Bronzetönen.

»Hast du Lust auf einen Spaziergang im Garten?«, fragte ich aus einem Impuls heraus. »Wir können uns dabei unterhalten, wenn du magst.«

Gran gefiel der Vorschlag, daher lief ich zu ihrem Zimmer, um die dicke Strickjacke zu holen, die über der Rückenlehne ihres Sessels lag. Als ich danach griff, schaute ich kurz zu meinem Großvater, der mich von dem Regal aus ansah. Das Foto war vor noch nicht so langer Zeit aufgenommen worden und zeigte sowohl den Mann, an den ich mich erinnerte, als auch den Mann, der mein Vater eines Tages sein würde. Ich sah ihm in die Augen, küsste dann, ohne nachzudenken, meine Fingerspitzen und drückte sie auf das hinter Glas gefangene Gesicht. »Ich hab dich auch lieb, Grandad, aber jetzt, wo du nicht mehr bei uns bist, verdient Gran es doch, glücklich zu sein. Ich hoffe, du denkst genauso.«

Ich kannte Gran gut genug, um ihr keine Hilfe anzubieten, als sie mit den widerspenstigen Knöpfen der Strickjacke kämpfte. Und so wartete ich geduldig, bis sie fertig war, denn ich begriff nur zu gut, was ihr diese Unabhängigkeit bedeutete. Man brauchte nicht lange herumzurätseln, von wem ich meine eigene Willensstärke und meinen Eigensinn hatte.

Wir traten durch die Terrassentür und vertrieben dabei die Spatzen, die uns argwöhnisch beäugten, als wir vom Weg auf den akkurat gepflegten Rasen traten. Der Garten war schön angelegt und hatte breite, asphaltierte, für die Gehhilfen und Rollstühle der Bewohner geeignete Wege, doch Gran war bei Gartenspaziergängen gern »querfeldein« unterwegs.

»Heute Nacht hab ich lange über das nachgedacht, was du mir gestern erzählt hast«, gestand ich ihr und legte meine Hand in ihre Armbeuge. Gran tätschelte sie liebevoll.

»Ich wollte dich keineswegs von deinem Schönheitsschlaf abhalten, meine Liebe.«

»Hast du auch nicht. Na ja, eigentlich doch – aber das ist schon in Ordnung.« Ich rückte ein wenig näher an sie heran und atmete ihr vertrautes Parfüm ein. Zu jedem Weihnachtsfest hatte mein Großvater ihr einen riesigen Flakon davon geschenkt. Ob sie an ihn dachte, wenn sie es auftrug?

»Es tut mir leid, Gran.«

Gran schaute mich erstaunt an. »Was denn?«

»Dass ich keine Ahnung hatte, dass du nicht das Leben gelebt hast, das du dir gewünscht hast.«

Im ersten Moment dachte ich, sie sei schockiert, doch mir wurde schnell klar, dass sie eher aufgebracht war. In der Nähe stand eine Bank, und sie steuerte darauf zu und setzte sich leicht schräg, sodass sie mir in die Augen sehen konnte.

»Ich habe kein unglückliches Leben gehabt, Mandy! Überhaupt nicht. Und ich bin alt genug geworden, um zu wissen, dass nur sehr wenige Menschen die ganze Zeit überglücklich sind. Dein Großvater war ein feiner Mann, ein guter Ehemann und ein wundervoller, fürsorglicher Mensch, aber noch mehr als das war er deinem Dad ein ausgezeichneter Vater. Was auch immer in unserem Zusammenleben … nicht gestimmt haben mag, es wurde durch all das mehr als ausgeglichen.«

»Wusstest du … wusstest du schon immer, dass du … dass du …« O Gott. Was machte ich da nur? Welcher Mensch, der noch bei Verstand war, fragte seine sechsundsiebzigjährige Großmutter nach ihren sexuellen Vorlieben?

Grans Lächeln bewahrte mich vor weiterer Peinlichkeit. »Dass ich … zur LGBTQI -Community gehöre? Das sagen die Leute doch heute, oder? In meiner Zeit hieß es einfach, man ist lesbisch. Aber egal, wie man es nennt, das Wichtigste ist, dass ich auf diese Weise glücklich bin, zusammen mit Josie.«

Ich nickte.

»Ich habe mich sehr lange gefragt, was mit mir nicht stimmte«, fuhr Gran fort. »Ich hatte alles, ich hätte glücklich sein können, aber immer war da dieses Gefühl, dass etwas fehlte.«

»Mit dir stimmt doch alles!«, rief ich aufgebracht. »Du liebst, wen du eben liebst. So sollte das auch sein.«

Gran hob ihre Hand und legte sie liebevoll auf meine Wange. »Du bist sehr weise für dein Alter«, sagte sie liebevoll.

»War Josie mal verheiratet?«, fragte ich neugierig, und mir wurde klar, dass ich mich nicht erinnern konnte, je einen Ring an ihrem Finger gesehen zu haben.

Gran schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Josie hat erzählt, als junge Frau hatte sie bei keinem ihrer Verehrer diese Art von Gefühlen. Aber damals haben die Leute so etwas für sich behalten. Josie hatte nie jemand Besonderen in ihrem Leben, in fast achtzig Jahren nicht. Bis jetzt.«

»Also, nach all der Zeit hat sie mit dir den Hauptgewinn gezogen.«

»Gott segne dich, meine Liebe«, sagte Gran, und ihre Wangen röteten sich.

Es gab eine Frage, die ich schon seit gestern stellen wollte, doch selbst jetzt, als ich sie aussprach, war ich mir nicht sicher, ob sie vielleicht unangemessen war.

»Hat … hat Grandad davon gewusst?«

Zum ersten Mal wirkte meine Großmutter wirklich schockiert.

»Du meine Güte, nein! Es hätte ihm das Herz gebrochen. Du erinnerst dich doch bestimmt noch, was für ein Mensch er war? Er war so männlich; er hätte es als persönliche Beleidigung aufgefasst. Er wäre am Boden zerstört gewesen, wenn er gewusst hätte, dass ich mich nicht wohlgefühlt habe, was diesen Teil unserer Beziehung anging.«

Ich schüttelte verwundert den Kopf darüber, wie anders die Gesellschaft in Grans jungen Jahren noch getickt hatte.

»Es tut mir sehr leid, Gran, dass du nicht schon vor Jahren mit jemandem zusammen sein konntest, der dich wirklich glücklich macht. Es tut mir leid, dass du Josie erst jetzt gefunden hast.«

»Also, mir nicht«, sagte Gran resolut und stand energisch auf. »Wäre ich deinem Großvater nicht begegnet und hätte ich ihn nicht geheiratet, dann hätten wir keinen Sohn bekommen, und dich würde es auch nicht geben.«

Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. »Und eine Welt ohne Mandy Preston wäre so düster und farblos, dass ich nicht einmal daran denken mag.« Sie rückte etwas näher und küsste mich sanft auf die Stirn. »Du und dein Vater, ihr seid die größte Liebe meines Lebens. Ich liebe euch mehr als deinen Großvater und sogar noch mehr als Josie. Ich bereue in meiner Vergangenheit nichts, denn sie hat mir euch beide geschenkt, und ich würde euch um nichts in der Welt missen wollen.«