D ie Musik war laut. Sie ließ die Wände erzittern und die Fenster in den Rahmen klirren. Wenn die Nachbarn nicht taub oder verreist waren, würden sie sich gleich beschweren.
»Die sind mit meinen Eltern übers Wochenende weggefahren«, sagte Alex, der in dem Haus wohnte. Er zuckte lässig mit den Schultern, als wollte er sagen: Was soll ein Siebzehnjähriger unter diesen Umständen denn sonst tun, als eine Party zu schmeißen? Alles andere wäre doch hirnrissig.
Wir waren spät gekommen, und als wir uns unter die anderen Gäste – offenbar mein kompletter Jahrgang – mischten, die sich in die bescheidene Vier-Zimmer-Doppelhaushälfte zwängten, war die Feier schon in dem Stadium, wo typischerweise der Küchenfußboden klebte. Ich folgte Jamie, der eine Schneise durch den wogenden Pulk von Körpern schlug, immer voran Richtung Küche und spürte die vielen bewundernden Blicke. Ich wusste sehr wohl, dass sie nicht mir galten, trotz meiner neuen Skinny Jeans und meines schicken schwarzen Tops.
Es gibt diesen speziellen Moment, wenn man kapiert, dass man jemanden außerhalb der eigenen Liga datet. Jamie war eigentlich eine Nummer zu groß für mich. Das war mir bewusst. Und meinen Freunden auch. Aber eigenartigerweise tat Jamie weiter so, als wäre es genau umgekehrt. Mein Vater – falls ihm bekannt war, dass wir uns noch trafen – war wohl der einzige Mensch auf diesem Planeten, der ihm zugestimmt hätte. Entweder gab es bei Jamie zu Hause keine Spiegel, oder er begriff wirklich nicht, welche Wirkung er auf so gut wie jedes weibliche Wesen hatte, das ihm über den Weg lief.
Jede Schule hat ihn. Einen Rockstar, den melancholischen bad boy . Der Junge, dessen Name selbst Mädchen, mit denen er nie ein Wort gewechselt hat, in Herzen auf ihre Federtaschen malen. Jamie war zwei Jahre älter als ich, und ich war somit weit unter seinem Radar geflogen und bloß eine Mitschülerin, die ihn aus der Ferne anschmachtete. Bis zu dem Tag, als ein unaufmerksam zugebundener Schnürsenkel dafür sorgte, dass sich das änderte.
Wie das mit Stürzen so ist, verlief alles ziemlich spektakulär. Seit Jahren hatten sich die Mädchen an Jamie McDonald rangeschmissen, aber ich war die Einzige, die das im wahrsten Sinne des Wortes tat. Er hatte mich aufgefangen, als ich die Treppe im Musikgebäude runtergeschlittert war und verzweifelt versucht hatte, mit den Füßen Halt zu finden. Hätte er nicht zugepackt, hätte ich mir sicher etwas gebrochen. So aber war der einzige Körperteil, der zu brechen drohte, mein betörtes vierzehnjähriges Herz.
Bis heute behauptet Jamie, er habe nicht bemerkt, wie sehr ich mich in jenem Moment in ihn verknallt hatte – als er mir dabei half, wieder auf die Füße zu kommen, und sich bückte, um meine verstreuten Bücher aufzuheben.
»Eine Musikerin«, sagte er grinsend und reichte mir mein Heft mit Klavierkonzerten.
Ich war krebsrot geworden und hatte irgendetwas gestammelt, doch von dem Tag an nahm er mich wahr, wenn wir auf dem Schulflur aneinander vorbeiliefen, und rief mich scherzhaft jedes Mal beim Namen eines anderen Komponisten: Hallo Mozart; Hey Beethoven; Wie geht’s, Händel? Diese »Hallos« hatten mir bei fast allen Mädchen in meinem Jahrgang einen höheren Status verschafft, lange bevor das mit dem Daten begonnen hatte.
Jamie ging direkt zur Spüle, die bereits von leeren Ciderflaschen und Bierdosen überquoll. Ich konnte nur hoffen, dass Alex eine gute Putztruppe in der Hinterhand hatte, sonst würde er wahrscheinlich für den Rest seiner Teenagerzeit Hausarrest aufgebrummt bekommen. Ich wartete an Jamies Seite, während er sich die frischen Ölflecken von den Händen und Unterarmen wusch und so tat, als würde er nicht bemerken, dass ihn die Mädchen in der Küche unverhohlen angafften, nachdem er die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt hatte und sein ansehnlicher Bizeps zum Vorschein kam.
»Entschuldige die Warterei«, sagte er nach mehreren Minuten intensiven Schrubbens und legte mir seine nach Zitrone duftenden Arme um die Taille. »Jetzt kann ich das endlich tun, ohne dich dabei schmutzig zu machen.« Nun, ich wäre bereitwillig das Risiko von schmierigen Fingerabdrücken eingegangen, besonders da ich wusste, woher sie stammten.
Ich hatte die Autofahrerin, die mit der Panne am Straßenrand stand, nicht einmal bemerkt. Um ehrlich zu sein, war ich viel zu sehr mit dem beschäftigt, was meine Eltern beiläufig nach Amüsier dich schön und vor Aber sei auf jeden Fall vor Mitternacht zu Hause gesagt hatten. Es hatte dafür gesorgt, dass ich echt nicht mehr in Feierlaune war.
Jamie fand, dass ich zerstreut wirkte, als wir uns wie immer an der Straßenecke getroffen hatten, gerade weit genug vom Haus meiner Eltern entfernt, dass wir nicht aufflogen.
Da er jedoch spürte, dass ich nicht darüber reden wollte, hatte er meine Hand genommen und mich an sich gezogen, ehe wir durch die dunklen Straßen gingen, in denen sich Nebelschwaden gebildet hatten. Plötzlich sah er irgendetwas und blieb abrupt stehen. Ich spähte in die Dunkelheit und konnte gerade noch die Umrisse eines Autos ausmachen, das etwas geneigt auf der anderen Straßenseite stand.
Plötzlich trat eine Frau in den Lichtkegel einer einzelnen Straßenlaterne. Sie hielt etwas in der Hand und schien mit dem Gegenstand zu schimpfen.
»Warte eine Sekunde, Süße. Ich schau mal nach, ob da alles in Ordnung ist.«
Jamie ließ meine Hand los, überquerte eilig die Straße und rief der Frau etwas zu. Und doch zuckte sie zusammen, als er aus der Dunkelheit vor ihr auftauchte. Die Mädchen in meinem Alter zuckten oft zusammen, wenn sie Jamie sahen, auch wenn die meisten zugegebenermaßen dann nicht so ängstlich wirkten wie diese Frau jetzt.
»Alles okay bei Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«
»Ich hab versucht, die Werkstatt anzurufen, aber ich bekomme kein Netz.«
Jamie ging in die Hocke und untersuchte das Heck ihres Wagens.
»Ein Platten?«
»Nein danke, ich hab schon einen«, schoss die Frau wie eine Stand-up-Comedienne zurück. Als sie meine Schritte hörte, zuckte sie wieder leicht zusammen, entspannte sich aber, als ich aus dem Dunkel trat, zu Jamie ging und ihm eine Hand auf die Schulter legte.
»Sie können eines von unseren Handys benutzen«, bot er ihr an. »Oder ich wechsele Ihnen gern den Reifen, wenn Sie einen Ersatzreifen und einen Wagenheber haben.«
Die Frau zögerte.
»Er ist ein guter Automechaniker. Er versteht was von seinem Handwerk«, schob ich hinterher und wurde dafür mit einem Jamie-Lächeln belohnt, bei dem man dahinschmolz und das meine leichte Übertreibung auf jeden Fall rechtfertigte. Na ja, er war immerhin dabei, sein Handwerk zu lernen.
Er erreichte zwar nicht ganz Boxenstopp-Geschwindigkeit, aber wenn man Jamie zusah, schien ein Reifenwechsel eine ziemlich einfache Sache zu sein. Wie jemand, der es gewohnt ist, Trinkgeld zu geben, versuchte die Frau anschließend, Jamie für seine Arbeit einen Zwanzigpfundschein zuzustecken. Aber er wollte nichts davon wissen.
»Denken Sie dran, den anderen Reifen flicken zu lassen«, riet er der Frau, als sie sich wieder hinter das Lenkrad setzte.
Dankbar schaute sie uns an. »Vielen Dank, dass ihr mir geholfen habt. Das würde nicht jeder machen. Wenn ich irgendwann mal was für euch tun kann, gebt mir einfach Bescheid.« Sie reichte mir ein rechteckiges Kärtchen. Ich warf im trüben Laternenlicht einen flüchtigen Blick darauf, während sie bereits davonfuhr.
»Was hat sie dir gegeben?«
»Eine Visitenkarte, glaub ich«, antwortete ich und stopfte sie mir in die Hosentasche. Flüchtig hatte ich gelesen, dass sie von einem Blumengeschäft namens »Crazy Daisy« stammte.
Jamie ging mit zwei Plastikbechern Cider in den Händen vor mir her, aus dem größten Gedränge im Wohnzimmer und der Küche hinaus in den Flur. Die Eingangstür stand weit offen, was wohl auch die hohe Zahl an Leuten auf dieser Party erklärte, die ich noch nie gesehen hatte. Ich fragte mich, wie viele der ungeladenen Gäste Alex wohl kannte.
Obwohl kühle Luft in die Diele strömte, war es im Haus durch die vielen Menschen ziemlich warm. Wir gingen die Treppe hinauf und setzten uns auf halber Höhe auf die Stufen. Jamie legte mir einen Arm um die Schultern, was mir sehr gefiel, und zog mich an sich.
»Also, was ist los?«
»Wieso denkst du, dass was wäre?«
Er hob die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz, was ihm für einen Augenblick das Aussehen eines Bösewichts verlieh, ihn aber nicht weniger attraktiv machte. An seiner rechten Augenbraue hatte er eine Narbe, die sie in zwei Teile trennte, denn dort wuchsen keine Härchen. Der Gerüchteküche in der Schule nach stammte sie von einer Messerstecherei.
Als ich ihm das einmal erzählte, hatte er so sehr gelacht, dass ihm die Tränen gekommen waren. »Die hab ich mir tatsächlich bei einer Auseinandersetzung geholt … zwischen mir und einer Schaukel, in die ich als Dreijähriger reingelaufen bin.«
Das hatte mich früh gelehrt, dass man bei Jamie nicht unbedingt vom äußeren Schein auf das Sein schließen konnte. Er überraschte mich ständig, und sein besorgter Gesichtsausdruck jetzt eben auch.
»Es ist doch … es ist doch nicht wegen uns beiden, oder?« Zum ersten Mal nahm ich bei ihm einen Anflug von Verletzlichkeit wahr, und am liebsten hätte ich geweint oder sein Gesicht mit Küssen bedeckt. Oder auch beides zugleich. »Du wirst doch jetzt nichts sagen, was mir das Herz bricht?«
Ich musste wohl genauso erstaunt ausgesehen haben, wie ich mich fühlte. Gehörte mir denn überhaupt Jamies Herz, dass ich es hätte brechen können? Und wenn ja, wieso hatte er das bisher nie gesagt?
»Nein. Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich und legte meinen Kopf an seine Schulter.
»Puh«, stöhnte er auf, und ich konnte seine Erleichterung geradezu körperlich spüren.
»Wie kommst du eigentlich drauf, dass was nicht stimmt?«
Er legte seinen Finger unter mein Kinn und drehte mein Gesicht, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn seine Lippen so nah an meinen waren.
»Weil ich immer Angst habe, dass du es eines Tages leid bist, mich vor allen zu verstecken. Oder dass du deiner Familie keinen Kummer machen willst, falls sie von mir erfahren.«
Das passiert, wenn man ein Feigling ist. Das passiert, wenn man nicht für die Menschen einsteht, die … Ich wollte die man liebt nicht denken und fuhr also innerlich stumm fort: die einem wichtig sind. Das passiert, wenn man nicht mutig ist. Einen Augenblick lang beneidete ich meine Großmutter um den Mut, zu ihren Gefühlen zu stehen – und zu der Frau, die sie liebte. Was mich wieder zum Grund für meine Angst heute Abend führte.
»O Gott, Jamie, es geht nicht um dich! Sondern um Gran.«
Wie hätte man einen Jungen, der meine Großmutter nicht als unwichtig abtat, nicht lieben können? Der genau verstand, wie viel mir diese Frau bedeutete? Der nach meiner freien Hand griff, wie Jamie jetzt, und sie zärtlich drückte?
»Was ist denn los?«
»Morgen geht alles den Bach runter. Die Kacke ist am Dampfen. Aber so richtig.«
»Oh.« Dieses kleine Wort drückte die drohende Katastrophe hinreichend aus.
»Mum und Dad glauben, Gran wäre depressiv und bräuchte eine kleine Aufheiterung, darum wollen sie sie morgen überraschen und zum Essen ausführen. Aber ich denke, eher werden sie eine Überraschung erleben.«
»Glaubst du, sie wird es ihnen erzählen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaub es nicht, ich weiß es.«
Wir schwiegen eine Weile.
»Au Backe«, sagte Jamie dann.
»Genau.«
Ich hatte meine Kopfhörer auf. Es waren teure, mit Geräuschunterdrückung, meine Eltern hatten sie mir zum letzten Geburtstag geschenkt, und trotzdem hörte ich, wie die Haustür zugeschlagen wurde und unten im Flur ein lauter Wortwechsel folgte. Ich hob eine der Hörmuscheln leicht an und vergaß vorübergehend die Geschichtsnotizen, die überall auf meinem Bett ausgebreitet lagen.
»Gerald, beruhige dich.«
Irgendetwas knallte und fiel dann um, gefolgt von einer Reihe derber Kraftausdrücke, von denen ich teils gar nicht gewusst hatte, dass mein Vater sie überhaupt kannte. Mum klang wenig beeindruckt.
»Ich sehe nicht, wie sich irgendetwas ändert, indem du rumrennst und Gegenstände umstößt.«
Ich verstand nicht genau, was mein Vater antwortete, aber die grobe Tendenz bekam ich mit. Oh, Gran, was hast du getan? Mein Blick fiel wieder auf meine Hausaufgaben, die plötzlich sehr viel attraktiver wirkten. Aber ich hätte ja nur das Unvermeidliche aufgeschoben, wenn ich auf meinem Bett sitzen geblieben wäre. Seufzend setzte ich meine Kopfhörer ab und machte mich auf den Weg nach unten.
Meine Eltern waren vom Flur in die Küche gegangen, doch sie waren immer noch zu hören. Wahrscheinlich hätten selbst unsere Nachbarn sich ohne größere Schwierigkeiten in den Wortwechsel einbringen können. Mum tat ihr Bestes, Dad zu beschwichtigen, was eine gute Idee war, denn sein Gesicht und sein Hals waren extrem gerötet.
Ich trottete in die Küche und schloss die Tür hinter mir. Dad hob ruckartig den Kopf, und einen Augenblick lang wurde meine Sorge um Gran von der um meinen Vater überschattet. Dad schien völlig durch den Wind zu sein, ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals so gesehen zu haben. Und er wirkte wütend – das hatte ich zwar schon einige Male miterlebt, aber noch nie in diesem Ausmaß.
»Mandy«, sagte er, und es klang mehr nach einer Anschuldigung als nach einer Begrüßung.
»Ich dachte, ich hab ein Geräusch gehört«, bemerkte ich trocken in der Hoffnung, mit ein wenig Humor die Situation zu entschärfen. Aber so, wie sich Dads Nasenlöcher blähten, war ich damit wohl mehrere Wochen zu früh dran. Hinter ihm sah ich meine Mutter warnend den Kopf schütteln. Ich brauchte gar nicht zu fragen, wie das Mittagessen mit Gran gelaufen war. Es war offensichtlich.
»Wieso hast du uns von der Sache mit deiner Großmutter nichts erzählt?«
Meine Zunge schien sich nicht mehr zu erinnern, wie das mit dem Sprechen funktionierte. Nicht, dass es von Bedeutung gewesen wäre. Ich spürte, dass uns gleich eine unaufhaltsame Tirade wie ein Tsunami überspülen würde.
»Bist du auf mich sauer oder auf Gran?«, fragte ich.
»Weder noch«, entgegnete Dad sichtlich verstimmt. »Sondern auf diese verdammten Idioten im Sunnymede.«
Meine Verwirrung war mir wohl deutlich anzusehen, denn Mum fügte leise hinzu: »Dein Vater glaubt, dass es Gran nicht besonders gut geht.«
»Wieso blättert man eine Stange Geld für ein tolles Heim voller medizinischer Fachleute hin, wenn die nicht mal einen glasklaren Fall von Demenz direkt vor ihrer Nase erkennen?«, polterte er.
Ich sah, wie meine Mutter mit besorgter Miene Tee für uns aufgoss, das Allheilmittel der Briten in jeder Notfallsituation, aber irgendwie glaubte ich nicht, dass PG Tips uns helfen würde, das hier geradezubiegen.
»Gran ist nicht krank und leidet auch nicht an Demenz«, verteidigte ich sie.
»Aber sie ist im Moment auch nicht auf der Höhe. Wahrscheinlich hat sie dir auch von ihrer verrückten Eingebung erzählt?«
»Gran hat mir erzählt, was sie für Josie empfindet, wenn du das meinst.«
Mein Vater machte ein Geräusch, das vermutlich auch ein Dampfkochtopf macht, kurz bevor er explodiert.
»Deine Großmutter hat ganz eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
»Ist das der neue medizinische Fachbegriff für ›lesbisch sein‹?«, fragte ich und konnte meinen Zorn nicht länger verbergen.
Meine Mutter sah mich eindringlich an. Mach es nicht noch schlimmer, als es schon ist, schien sie mir mit ihrem Blick zu sagen. Aber irgendjemand musste Gran in Schutz nehmen, und ich war hier die Einzige, die dazu bereit war.
»Deine Großmutter ist nicht lesbisch«, sagte Dad. Er sprach jedes Wort so deutlich aus, als würde er es mit einem Messer von den anderen trennen. »Meine Güte, sie war fast fünfzig Jahre lang mit meinem Vater verheiratet! Klingt das für dich danach, dass sie lesbisch ist? Für mich jedenfalls nicht.«
»Ich glaube, Gran wusste es selbst nicht, bevor sie Josie kennengelernt hat«, sagte ich in dem Versuch, an seine Vernunft zu appellieren, die ihm offenbar gerade abhandengekommen war. »Sie erzählt das ja nicht, damit du dich aufregst, Dad.«
»Aber ich rege mich auf! Meine Mutter ist offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf, und diese sogenannte Freundin muss sich hinterhältig an sie rangemacht haben.«
Unvermittelt lachte ich laut auf, was ein Fehler war, aber was Dad gesagt hatte, war so absurd, dass ich es einfach nicht ernst nehmen konnte. Der lieben, gebrechlichen Josie so etwas zu unterstellen, war absoluter Quatsch.
»Wenn mein Vater das wüsste, würde er sich im Grab umdrehen«, sagte Dad niedergeschmettert und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Das ist einfach völlig grotesk.«
»Du hättest es mir sagen sollen.«
Es hatte leise an meiner Zimmertür geklopft. Im Hintergrund hörte ich den Fernseher im Wohnzimmer laufen, und das Schnarchen meines Vaters verriet mir, dass Mum den passenden Zeitpunkt abgewartet hatte, um mit mir unter vier Augen zu sprechen.
Ich setzte mich auf und schob mein Handy mit gespielter Lässigkeit unter den Stapel bunter Kissen am Fußende meines Bettes. Ich hatte Jamie auf den neuesten Stand gebracht – dass es schlecht gelaufen war – und ihm geschrieben, wie sehr ich mir wünschte, dass er jetzt bei mir wäre.
»Das stand mir nicht zu, Mum«, sagte ich geknickt.
Sie setzte sich auf den Rand meines großen Bettes. »Aber ich hätte eine Vorwarnung gut gebrauchen können, mein Schatz.«
»War es sehr schlimm?«
Mum schloss die Augen, als könne sie dadurch die Erinnerung ausblenden. »Es lief nicht gut«, räumte sie ein. »Auch wenn ich mir sicher bin, dass die anderen Gäste im Restaurant es hochinteressant fanden.« Sie seufzte. »Hätte ich gewusst, was kommen würde, hätte ich wahrscheinlich ein Lokal ausgesucht, das weniger frequentiert ist.«
Okay. Das ging auf meine Kappe. »Tut mir leid, Mum.«
Meine Mutter schüttelte traurig den Kopf. »Es hat deinen Vater wirklich sehr erschüttert. Er ist ziemlich mitgenommen.«
»Ich wette, Gran wird’s nicht anders gehen. Wie ich Dad kenne, hat er wahrscheinlich nicht besonders sensibel reagiert.«
»Dein Vater hat gar nicht darauf reagiert. Er glaubt, deine Großmutter ist übergeschnappt. Komischerweise würde er eher hinnehmen, dass sie an Alzheimer leidet, als die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie sich in jemanden verliebt hat.«
»Hätte es wohl einen Unterschied gemacht, wenn dieser Jemand ein Mann gewesen wäre?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Es wäre vielleicht leichter gewesen, aber er hätte es trotzdem als Verrat an seinem Vater betrachtet. Dein Großvater fehlt ihm immer noch sehr, verstehst du?«
»Mir auch. Aber das ändert doch nichts an der Situation gerade, oder? Ich will einfach nur, dass Gran glücklich ist. Und Dad doch bestimmt auch?«
»Ja, zumindest, wenn sich die Wogen etwas geglättet haben und er sich beruhigt hat.«
Mein Handy, das unter dem Kissenberg lag, gab einen Signalton von sich. Eine Nachricht war eingegangen. Wir schauten beide dorthin, und ich spürte, wie mir vor schlechtem Gewissen die Wangen rot wurden.
»Glaubst du denn, dass Gran senil ist oder dass Josie ihr eine Gehirnwäsche verpasst hat, Mum?«
Überraschenderweise lachte meine Mutter. »Ich kann mir niemanden vorstellen, bei dem es unwahrscheinlicher wäre, dass er sich zu etwas manipulieren lässt, was er nicht will«, sagte Mum und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das hast du von ihr geerbt.«
Ich lächelte, und trotzdem kam mir ein Gedanke, der so überraschend war, dass er alles andere in meinem Kopf verdrängte.
»Wusstest du das mit Gran? Ich meine, vor heute?«
Ein kleines Zucken in ihrem Augenwinkel verriet mir die Antwort, noch bevor sie etwas sagte. »Ich hatte eine leise Vermutung«, gab sie zu, als säße sie im Zeugenstand und würde jemanden belasten.
»Aber du hast Dad nichts davon gesagt?«
»Wo denkst du hin?«, erwiderte Mum mit einem müden Lächeln und stand auf. Sie war schon halb aus dem Zimmer, als sie innehielt und über die Schulter zu dem Haufen bunter Kissen auf meinem Bett blickte. »Schreib nicht zu lange mit deinem Freund hin und her, es ist schon spät«, bat sie.
Noch Minuten, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, saß ich mit offenem Mund da.