Kapitel 27

D er Raum war hell und sonnendurchflutet. Auch wenn ich während der letzten fünf Jahre schon unzählige Male im Sunnymede zu Besuch gewesen war, betrat ich nun erstmals das Büro der Leiterin. Nervös hatte ich vor der Tür gewartet und mich ziemlich genau so gefühlt, als wäre ich in der Schule zur Direktorin zitiert worden. Nicht, dass mir das schon einmal passiert wäre – aber Jamie konnte mir bestimmt erzählen, wie das war.

»Hallo, Mandy«, begrüßte mich Mrs Blackwood und reichte mir die Hand.

Ich wischte mir meine vorher noch schnell an der Jeans ab. Es gab absolut keinen Grund, aufgeregt zu sein, und doch war ich es. Auf einer Angstskala hätte ich jetzt deutlich höhere Werte erreicht als vor den Klausuren, die ich kürzlich geschrieben hatte, oder vor einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.

»Setz dich doch bitte«, forderte Mrs Blackwood mich auf und deutete mit einem Kopfnicken auf einen Stuhl am Schreibtisch, während sie sich auf ihren Chefsessel mit Lederpolster sinken ließ. Sie bot mir etwas zu trinken an, doch nach einem kurzen Blick auf die Papierberge auf ihrem Tisch lehnte ich höflich ab. Wenn ich nervös war, war ich immer auch tollpatschig, und die Unterlagen der Heimleiterin in Kaffee zu tränken, hätte mir nicht dabei geholfen, sie für meine Sache zu gewinnen.

Mrs Blackwoods akkurat gestylter Bob pendelte leicht von einer Seite zur anderen, während sie sprach.

»Wie ich von deiner Großmutter gehört habe, willst du ihr bei der Organisation einer Hochzeit helfen und hoffst, sie könnte hier stattfinden?«

Ich ballte die Hände zu Fäusten, sodass meine Fingernägel kleine, halbmondförmige Abdrücke in den Handballen hinterließen. Wurden meine Pläne torpediert, noch bevor ich überhaupt richtig losgelegt hatte? Zu spät erkannte ich, dass ich zuallererst mit dieser Frau hätte sprechen sollen, um ihr Okay einzuholen. Ein dummer Anfängerfehler.

»Ja. Gran und Josie wissen gar nicht, wie sie es angehen sollen. Und ich auch nicht, ich hab bisher noch nie eine Hochzeit organisiert, aber … ich googele einfach herum, bis ich alles Nötige rausgefunden hab.« O Gott, ich klang wie ein kompletter Vollpfosten. Wäre das ein Bewerbungsgespräch gewesen, hätte ich den Job hundertprozentig nicht gekriegt.

Mrs Blackwood sah mich lange mit einem Pokerface an. »Wie können wir dir behilflich sein?«, fragte sie schließlich.

Vor Erleichterung sackte ich auf dem Stuhl zusammen wie ein Crashtest-Dummy, aus dem man die Luft ablässt.

»Ich dachte, Sie würden jetzt sagen, dass es nicht geht.«

Man musste Mrs Blackwood zugutehalten, dass sie ziemlich erstaunt wirkte. »Wieso in aller Welt hast du das gedacht?«

Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden, was garantiert nicht mit der Raumtemperatur in Zusammenhang stehen konnte.

»Also, na ja, es ist doch eine gleichgeschlechtliche Beziehung … Ich war mir nicht sicher, ob die anderen Bewohner das irgendwie …«

Mrs Blackwood lachte. »Weißt du, im Alter von achtzig Jahren haben die Leute schon allerhand gesehen und erlebt. Das Alter ist ein bisschen wie eine schusssichere Weste – da haut einen nicht mehr viel um.«

»Gut zu wissen. Bei mir zu Hause ist Grans Neuigkeit nicht ganz so super angekommen.« Beging ich gerade einen Vertrauensbruch, weil ich dieser Frau von unseren Familienproblemen erzählte? Wahrscheinlich nicht, denn sie schien bereits im Bilde zu sein.

»Ja, ich hatte ein paar … interessante Telefonate mit deinem Vater.«

Ich schluckte schwer. »Tut mir leid.«

Mrs Blackwood winkte mit ihrer akkurat manikürten Hand ab. »Ach, mach dir deswegen keine Gedanken. Unzufriedene Verwandte gehören zu meinem Job.« Ihre Miene wurde jetzt weicher, und sie beugte sich ein Stück zu mir vor. »Wir sind es gewohnt, mit Trauer und ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen umzugehen.«

Ich runzelte die Stirn, da ich nicht begriff, was sie meinte.

»Ich bin keine Expertin, aber womöglich haben die Probleme deines Vaters mit dem Tod seines Vaters zu tun?«

Wie konnte es sein, dass diese Frau, die uns gar nicht kannte, durch all das Gepolter und den Zorn hindurchgeblickt und begriffen hatte, dass Dad in Wahrheit vermutlich sehr traurig war?

»Jedenfalls«, kam Mrs Blackwood wieder zum Thema zurück, »hatten wir in der Vergangenheit schon mehrere Hochzeiten, und wir würden uns sehr freuen, auch die von Amanda und Josie hier zu feiern. Aber die beiden müssen auch zum Standesamt.«

Ich nickte.

»Das wird im Sunnymede die erste Hochzeit mit zwei Bräuten«, fuhr Mrs Blackwood begeistert fort, »und unsere Mitarbeiter freuen sich schon unglaublich darauf. Deine Großmutter und Josie sind bei den Pflegekräften sehr beliebt. Wenn es möglich ist, wären einige von uns gern dabei.«

»Klar, natürlich, je mehr Gäste, desto besser!«, rief ich.

Etwas benommen verließ ich kurz darauf das Büro und konnte es kaum erwarten, mit Gran zu sprechen. Zum ersten Mal verspürte ich eine riesige Vorfreude.

»Darf ich bitte noch mal die Liste sehen?«, bat mich Gran. Als sie durch meinen Notizblock blätterte, kamen zu den Falten, die die Zeit auf ihrer Stirn hinterlassen hatte, noch einige hinzu. Zugegeben, die Zahl der Spiegelstriche hatte sich stetig erhöht, inzwischen waren schon fast zwei linierte Seiten gefüllt.

»Das brauchen wir alles gar nicht«, protestierte Gran und wollte nach meinem Stift greifen, um Änderungen vorzunehmen, von denen ich mir sicher war, dass sie mir nicht gefallen würden. Ich behielt den Stift fest in der Hand.

»Vielleicht braucht ihr das nicht, aber wäre es nicht nett, wenn Josie und du das hättet? «

Grans Miene wurde sanfter. »Du bist eine ganz wunderbare junge Frau, Mandy. Und ich weiß die viele Arbeit, die du dir gemacht hast, wirklich zu schätzen, aber es geht nicht ums Heiraten, sondern um das Verheiratet-Sein, darauf freuen wir uns. Und dafür braucht man keine Blumen oder Torten oder ein spektakuläres Kleid. Außerdem habe ich das alles schon einmal erlebt.«

»Josie aber nicht.« Ich hätte mich mit Gran noch bis nach Mitternacht weiterstreiten können und hätte wahrscheinlich kein überzeugenderes Argument gefunden.

»Wir kürzen die Liste ein wenig zusammen«, bot ich ihr an und strich eilig Einladungen , Zuckermandeln und Bedruckte Servietten durch.

Doch als Gran auf einen Punkt deutete, den ich dick und in Großbuchstaben notiert hatte, mutierte ich zum störrischen Esel.

»Gran, du brauchst ein neues Kleid. Du bist die Braut – also, eine der beiden.«

»Ich habe mehrere schöne Teile im Schrank, die ich kaum getragen habe. Ich könnte mir einen neuen Hut dazu kaufen. Einen Hut hätte ich schon gern.«

»Aber Gran, wenn du kein Hochzeitskleid trägst, wird Josie auch keins anziehen.«

Sie sah mich lange an und schwieg, doch wir beide wussten, dass diese Runde an mich ging.

Ich beugte mich vor und nahm sie herzlich in den Arm. »Wieso darf ich nicht wenigstens erst mal versuchen, ein Kleid für dich zu finden? Und wenn ich keins auftreiben kann, dann trägst du eines von denen, die du schon hast?«

»Mit Hut!«, lenkte sie widerwillig ein. »Ohne Hut ist es keine richtige Hochzeit.«

Ich war die Einkaufsstraße schon einmal hoch und runter getapert, als die Verzweiflung einsetzte. In die exklusiven Brautmodengeschäfte zu gehen, hatte ich gar nicht erst vorgehabt. Dafür war mein Budget viel zu knapp. Meine Hoffnung war gewesen, bei einer der Bekleidungsketten etwas halbwegs Brautmäßiges zu finden, aber nach vier Stunden Suche musste ich mir mein Scheitern eingestehen.

Ich hatte gedacht, wenn ich Jamie zum Mittagessen traf, wäre ich mit Tragetaschen bepackt wie Julia Roberts in Pretty Woman . Doch als ich mich im Burgerladen neben ihm auf die Sitzbank plumpsen ließ, hatte ich kein einziges Beutestück vorzuweisen.

»Nichts gefunden?«, fragte Jamie mitfühlend bei unserer Umarmung.

Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Ich komm mir vor, als würde ich Gran hängen lassen.«

»Das stimmt doch nicht«, verteidigte er mich.

Ich stocherte trübselig in meinen Pommes herum, die in einem kleinen Metallkörbchen gebracht worden waren. Wenn mich selbst dreifach frittierte Kartoffeln nicht aufheitern konnten, war es wirklich ein mieser Tag.

»Ist das Kleid denn wirklich so wichtig?«

Ich hob den Kopf und sah ihn an, als würde er eine mir gänzlich unbekannte Sprache sprechen. Wahrscheinlich Marsianisch.

»Oh«, ruderte er sofort entschuldigend zurück.

»Das ist nicht so, wie wenn du nach Autoreparatur-Büchern suchst, weißt du? Das ist viel …«

Ich führte den Satz nicht zu Ende, denn der Burgerladen verschwamm plötzlich vor meinen Augen, und stattdessen sah ich einen Secondhandshop vor mir, wo etwas meine Aufmerksamkeit geweckt und gleichsam nach mir gerufen hatte, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, was. Ich wusste nur noch, dass es weiß und fließend war und ich irgendwie das Gefühl gehabt hatte, als wäre es mir vorherbestimmt gewesen, es zu sehen. Ich sprang so abrupt auf, dass die Pommes über den ganzen Tisch flogen.

»Ich muss los.«

Jamie sah mich verwirrt an, wie auch mehrere Gäste an den umstehenden Tischen. »Ist dir schlecht?«, fragte er besorgt und stand ebenfalls auf.

»Nein, nein. Alles gut. Oder wird es gleich sein. Warte bitte hier«, drängte ich ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Iss in Ruhe weiter.«

»Aber … wohin gehst du?«

»Ich kaufe ein Hochzeitskleid«, antwortete ich und war bereits im Laufschritt auf dem Weg zur Tür.

Hätte ich mich in einem Film befunden, wäre das Kleid an einer Schaufensterpuppe in der Auslage ausgestellt gewesen, doch dort sah man nur einen Stapel gewagt aufeinandergetürmter Brettspiele und ein Sammelsurium an nicht zueinander passendem Geschirr. An der Kasse wartete eine längere Schlange, also ging ich direkt zu den Kleiderständern, weil ich mir sicher war, das Hochzeitskleid dort zu finden. Ein weißes Kleid musste ziemlich herausstechen, und doch drehte ich den runden Ständer mehrfach ganz herum, bis ich mir eingestand, dass es nicht dabei war. Hatten sie es schon verkauft? Existierte es überhaupt?

Ich reihte mich in die Kassenschlange ein und trat nervös von einem Fuß auf den anderen, bis ich endlich an die Reihe kam.

»Hallo.« Meine Stimme klang genauso zittrig, wie der Rest meines Körpers sich anfühlte. »Haben Sie ein Hochzeitskleid zu verkaufen?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Nein, leider nicht. Hochzeitskleider bekommen wir fast nie rein. Entweder behalten die Leute ihres, oder sie verkaufen es privat.«

Die Enttäuschung traf mich mit voller Wucht. Ich wandte mich schon zum Gehen, aber irgendetwas ließ mich innehalten. »Ist Ihnen vielleicht eines gebracht worden, ohne dass Sie davon wissen?«

Sie starrte mich an. Na super, Mandy. Sag ihr einfach knallhart, dass sie ihren Job nicht richtig macht, und dann wird sie dir sicher behilflich sein.

»Ich war nämlich vor ein paar Wochen schon mal hier, und damals hat ein Paar wahrscheinlich eins abgegeben. Die Frau saß im Rollstuhl.«

Die Verkäuferin bedachte mich mit einem Blick, als würde ich mich gerade um den Titel »anstrengendste Kundin des Tages« bewerben.

Traurig wandte ich mich zur Tür. »Na gut, vergessen Sie’s. Es war eh nur ein Schuss ins Blaue.«

Ich hatte den Laden schon fast verlassen, da hörte ich jemanden rufen. »Warten Sie!«

Ich drehte mich um und erkannte die Frau, die gerade aus einem Nebenraum gekommen war, sofort wieder. Es war die Verkäuferin, die das Paar bedient hatte.

»Ich erinnere mich an die beiden, und Sie haben recht, sie haben tatsächlich ein Hochzeitskleid abgegeben.«

Vor Aufregung spürte ich ein Kribbeln im ganzen Körper und grinste so breit, dass mir die Wangen wehtaten.

»Ich schaue mal nach, ob wir es noch dahaben.«

Sie war ziemlich lange weg, doch ich wartete mit einer für mich untypischen Geduld. Endlich kam sie zurück, in den Händen einen Karton, der mir vertraut vorkam.

»Unfassbar. Irgendwie ist es unter einen Stapel mit Hundedecken geraten«, erklärte sie und stellte den Karton auf den Verkaufstisch.

Sie machte sich daran, das Band zu öffnen, und es kostete mich geradezu übermenschliche Anstrengung, nicht dazwischenzugehen und es selbst zu machen, damit es schneller ging.

Endlich lüftete sie den Deckel, und als sie das Seidenpapier auffaltete, sah ich das Kleid, das für meine Großmutter bestimmt war.

»Leider ist ein kleiner Riss im Stoff, und am Saum sind ein paar Flecken, wahrscheinlich vom Rollstuhl«, sagte die Verkäuferin.

»Das macht nichts«, entgegnete ich und würdigte die kleinen Makel kaum eines Blickes.

»Das Kleid ist von sehr guter Qualität. Es wurde ursprünglich bei Fleurs gekauft, diesem exklusiven Brautmodengeschäft«, fuhr die Frau fort, dabei brauchte sie mich doch gar nicht mehr zu überzeugen, da meine Entscheidung bereits gefallen war.

»Darf ich?«, fragte ich, nahm das Kleid aus der Schachtel und hielt es hoch. Das Licht der Neonröhren fing sich in der zarten silberfarbenen Stickerei und den aufgenähten Kristallen.

»Möchten Sie es anprobieren?«, fragte die Verkäuferin.

Ich schüttelte den Kopf und legte das Kleid mit dem weich fließenden Rockteil wieder in die Schachtel. »Es ist nicht für mich, sondern für meine Großmutter. Aber ich sehe schon, es wird ihr perfekt passen.« Denn mir hätte es auch gepasst. So verlockend es gewesen wäre, es anzuprobieren, ich hätte es doch nie getan.

Irgendwo gab es ein Kleid, das ich eines Tages zu meiner eigenen Hochzeit tragen würde. So schön dieses hier auch war, es war nicht mein Kleid. Sondern das von Gran.

»Du hast ein Kleid gefunden!« Man musste Jamie zugutehalten, dass er sich offenbar wirklich freute. Er schloss mich so fest in die Arme, dass meine Füße den Bodenkontakt verloren.

»Nicht ein Kleid, das Kleid«, korrigierte ich ihn lachend. Mir war beinahe schwindlig vor Freude und Erleichterung. »Es wird Gran total gefallen.«

»Bist du also durch für heute?« Der hoffnungsvolle Unterton, mit dem er das fragte, verriet mir, dass ich aus ihm keinen Shopaholic würde machen können.

»Na ja, ich muss noch die Blumen bestellen und einen Hut für Gran finden – sie glaubt anscheinend, wenn sie keinen trägt, kommt die Ehe nicht zustande. Aber du brauchst deinen Samstagnachmittag nicht dafür zu opfern. Ich merk doch, dass dir das keinen besonderen Spaß macht.«

»Soll das ein Witz sein? Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als Blumen und Kleider und, äh … anderen Hochzeitskram zu shoppen.«

Ich schmunzelte. Warum begriff Dad nicht, dass ich den wunderbarsten Freund der Welt hatte?

»Na ja, die Straße runter ist ein Brautmodenladen«, sagte ich. »Der liegt zwar weit über meinem Budget, aber …«

»Du glaubst, vielleicht hast du dort Glück?«

Ich hob den Kopf und gab ihm einen Kuss. »Genau.«

Durch das Schaufenster betrachtet, war Fleurs ein Feuerwerk in Weiß. Es war die Brautversion von Aladins Höhle, in der massenhaft Spitze, Chiffon, Satin und ordentlich Glitzer zu finden waren. Mädchen in aller Welt träumen von solchen Orten – auch manche, die schon ziemlich groß waren. Ich stellte erstaunt fest, dass auch ich dazugehörte.

Seufzend trat ich einen Schritt vom Schaufenster zurück. Jamie ließ meine Taille los und schaute nun auch durch die Glasscheibe in den Laden, er schirmte die Augen mit den Händen ab, um nicht von der Nachmittagssonne geblendet zu werden.

»Also, hier kannst du dir definitiv nichts leisten«, sagte er, und sein Atem bildete einen ovalen Fleck auf der blitzblanken Scheibe.

Ein energisches Klopfen ließ uns beide zusammenzucken. Auf der anderen Seite des Fensters war wie aus dem Nichts ein Gesicht aufgetaucht. Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet, was vor dem weißen Hintergrund sehr dramatisch wirkte. Ihr glänzendes schwarzes Haar erinnerte an das polierte Ebenholz von Klaviertasten. Und hätten Blicke töten können, wäre Jamie jetzt auf der Stelle leblos umgefallen.

Er schenkte der Frau ein Lächeln von der Art, die eigentlich immer funktionierte.

Nichts. Nicht der Hauch einer Reaktion. Das war das erste Mal, dass ich ihn damit auflaufen sah. Er bildete mit den Lippen das Wort Entschuldigung und wischte mit dem Ärmel seiner Jeansjacke die Scheibe sauber.

Plötzlich war ich deutlich weniger optimistisch, griff aber nach der Kleiderschachtel, die Jamie sich unter den Arm geklemmt hatte.

»Warte vielleicht lieber hier draußen. Ich glaube, ich brauch nicht lange.«

Sie war unheimlich. Nein, mehr als unheimlich, sie war wie eine Märchenfigur, von der kleine Kinder Albträume bekommen. Gut, dass ich beschlossen hatte, Fleurs Brautmoden allein zu betreten, denn ich bezweifelte stark, dass Automechaniker mit Motoröl an den Händen diese Schwelle überschreiten durften. Aber ich war mir auch nicht sicher, ob ich hier so willkommen war.

»Ähm … Tut mir leid … das mit dem Fenster, meine ich. Ich konnte nicht erkennen, ob Sie geöffnet haben.«

»Wir haben geöffnet«, sagte die Frau mit einem eisigen Lächeln. »Wobei wir uns leider nicht um Laufkundschaft kümmern können. Hier bei Fleurs vergeben wir nur Termine. Haben Sie einen Termin?«

Es war mehr als offensichtlich, dass wir beide die Antwort kannten.

»Ähm, nein. Ich wollte nur fragen, ob Sie Hüte verkaufen, also, Brauthüte?«

Die Frau hatte eine Nase, die sich perfekt dafür eignete, hoch getragen zu werden, und das tat sie im Moment auch. Ihr Blick sprang kurz Richtung Tür, wahrscheinlich, weil sie dachte, das alles könnte ein Streich sein, der überhaupt nicht lustig war.

Ich seufzte. Das war wirklich ein Fehler gewesen. Mit hängenden Schultern ging ich über den grauen Teppich zurück zur Tür. »Ich habe bloß gefragt, weil ich gerade in einem Secondhandladen für meine Großmutter eines Ihrer Kleider gekauft habe. Ich hatte gehofft, Sie hätten vielleicht einen passenden Hut dazu.«

Die Verkäuferin hatte mit diesem Satz offensichtlich mehrere Probleme.

»Sie haben ein Kleid von Fleurs gekauft?« Erste Überraschung.

»Ja, gerade eben.«

»In einem …« Sie zögerte, als wollte ihr das Wort nicht über die Lippen kommen. »In einem Secondhandgeschäft? «

»Ja.«

»Für Ihre Großmutter?«

Ich nickte.

Sie neigte den Kopf in einem nichts Gutes verheißenden Winkel und sagte: »Interessant.« Ihr Blick wanderte zum Karton, den ich unter dem Arm trug. »Ist dies das Kleid?«

Ich umfasste den Kleiderkarton fester, als fürchtete ich, die Ladeninhaberin würde ihn mir gleich aus der Hand reißen wie einen Rugbyball, reichte ihn ihr dann jedoch, und sie ging damit zu einem antiken Schreibtisch in einer Ecke des Geschäfts. Mit ihren schlanken Fingern öffnete sie flink das Band. Zufällig bekam ich genau den Moment mit, als sie das schützende Seidenpapier lüftete. Ihre professionelle Maske verrutschte und löste sich dann in Luft auf, als hätte es sie nie gegeben.

»Das Kleid!«, rief sie, offenbar tief betroffen. »Ich kenne dieses Kleid.«

Es war eine seltsame Bemerkung, und ich wusste nicht, was ich hätte erwidern können. Nichts zu sagen, schien mir aktuell die beste Lösung.

Sie deutete mit einem Kopfnicken auf einen Sessel mit Samtpolster. »Bitte setzen Sie sich. Erzählen Sie mir, wer es als Nächste tragen wird. Erzählen Sie mir alles.«

»Ich dachte langsam, du kommst da gar nicht mehr raus. Ich wollte schon eine Rettungsmission starten«, sagte Jamie, als ich eine halbe Stunde später wie benommen aus dem Geschäft trat. In einer Hand hielt ich den Karton mit Grans Hochzeitskleid, in der anderen eine Tragetasche mit dem Logo von Fleurs.

Gwendoline Flowers – sie hatte sich mir inzwischen vorgestellt – hatte sich meine Geschichte angehört und mich dabei nicht einmal unterbrochen. Ohne es zu wollen, hatte ich ihr fast alles erzählt: von Gran, von Josie, selbst von meinem Vater. Aber als ich geendet hatte und merkte, dass meine Wangen feucht waren, war mir das extrem peinlich.

»Wissen Sie, ich glaube, ich habe tatsächlich einen Hut, der zu dem Kleid passen wird«, sagte die Frau und entfernte sich auf ihren schmalen schwarzen Stilettoabsätzen.

Kurz darauf kam sie zurück, samt einem traumhaften Pillbox-Hut mit Netzschleier, an dem winzige Kristalle befestigt waren. Sie hielt das Stück hoch, und ich erhaschte einen Blick auf das Preisetikett, noch bevor sie es eilig entfernte. Aber nicht schnell genug, dass ich den Betrag darauf nicht hätte lesen können. Ich war geknickt, denn ich wusste, diese Pillbox würde Gran wunderbar stehen.

»Ich … äh … hätte wahrscheinlich sagen sollen, dass ich nicht viel ausgeben kann.«

»Nun ja, Sie haben Glück, denn dieses Modell stammt aus der Vorjahreskollektion und sollte gerade im Preis heruntergesetzt werden.«

»Wirklich?«, fragte ich, so offensichtlich ungläubig, dass es zum Lachen war. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich glaube, ich kann ihn mir trotzdem nicht leisten.«

»Er kostet jetzt zwanzig Pfund.«

»Aber er ist viel mehr wert – ich habe das Preisschild gesehen.«

»Sie haben das Konzept ›Verhandeln‹ offenbar nicht begriffen«, sagte Gwendoline mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Sie sollten mich herunter handeln, nicht rauf.«

Wie in Trance zog ich einen Schein aus dem Umschlag in meiner Tasche und reichte ihn ihr. Sie schrieb mir eine Quittung und wickelte den Hut in Seidenpapier ein, als sei das ein ganz normaler Verkauf.

Während sie mich zur Tür begleitete, meinte sie mit Blick auf den Karton: »Dieses Kleid ist ein ganz besonderes Stück. Es hat eine Geschichte. Ihre Großmutter wird die dritte Braut sein, die es trägt. Vielleicht schreibe ich eines Tages meine Memoiren und werde darin diese Geschichte erzählen. Vielleicht schweige ich aber auch über seine Geheimnisse.«

Sie sprach von dem Kleid, als hätte es ein Eigenleben, und obwohl mir das eigentlich hätte Angst machen sollen, war es aus irgendeinem Grund nicht so.

Als ich mich auf der Schwelle umdrehte, umarmte mich diese Frau, eine schwarz gekleidete gute Fee, zu meinem Erstaunen aus einem Impuls heraus.

»Vielen, vielen Dank.«

»Das Kleid hat Sie und Ihre Großmutter gefunden. Ich habe Sie lediglich bei den Accessoires unterstützt.«

»Mehr als das«, widersprach ich ihr, während sie die Ladentür öffnete und mich hinausließ.