Kapitel 28

E in Elefant befand sich mit uns im Raum. Ein sehr großes Exemplar. Und seine Gegenwart war so vorhersehbar gewesen, dass wir eigentlich einen Extraplatz am Tisch hätten eindecken und ihn an die Tafel bitten können.

»Will noch jemand Fleisch?«, fragte Dad und stand auf. Mein Teller war nach wie vor voll beladen, doch ich nickte begeistert. Unter dem Tisch gab ich Jamie einen leichten Tritt gegen den Knöchel, und hastig antwortete er: »Ja, gern, Mr Preston, es schmeckt wunderbar.«

Das war vermutlich der Augenblick, wo Dad hätte sagen sollen, Bitte, nenn mich Gerald. Stattdessen nahm er die Servierplatte und verschwand in die Küche.

Als die Tür hinter ihm zufiel, kehrte unsere Unterhaltung wieder zu dem Thema zurück, das wir auf Eis gelegt hatten, seit mein Vater das Esszimmer betreten hatte.

Heute war der letzte Sonntag des Monats, ein Termin, an dem Gran immer zu einem hausgemachten Braten bei uns eingeladen war. Es war zugleich sechs Tage vor der Hochzeit und wahrscheinlich Dads letzte Gelegenheit, sein Missfallen zum Ausdruck zu bringen.

In einer genialen oder auch vollkommen verrückten Anwandlung hatte Mum vorgeschlagen, ich solle Jamie einladen, ebenfalls zu kommen. Wenn er dabei ist, dann ist es sehr viel unwahrscheinlicher, dass dein Vater sich abfällig über Grans Hochzeit äußert, und Jamie wird er vor deiner Großmutter auch nicht angehen. Sie hatte mich angestrahlt wie jemand, der gerade ein Heilmittel für eine schwere Krankheit entdeckt hat, und ich hatte es nicht übers Herz gebracht, sie auf das andere mögliche Szenario hinzuweisen, in dem Dad zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und beide Gäste attackieren würde.

Während der letzten paar Wochen hatte zu Hause eine ziemlich angespannte Stimmung geherrscht, da Dad eine Oscar-würdige Darbietung als Vogel Strauß hinlegte, indem er einfach so tat, als würde die Hochzeit nicht stattfinden. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, den Raum zu verlassen, wann immer das H-Wort fiel, oder er drehte den Fernseher auf ohrenbetäubende Lautstärke hoch, um unsere Unterhaltung zu übertönen. Doch selbst er musste begriffen haben, dass nur ein Eingriff des Allmächtigen diese Hochzeit jetzt noch hätte verhindern können.

»Mum hat die Flecken aus deinem Kleid rausgekriegt und den kleinen Riss richtig gut geflickt«, sagte ich mit gesenkter Stimme zu Gran.

Sie schaute dankbar zu ihrer Schwiegertochter, die bei den letzten Vorbereitungen nur unter strengster Geheimhaltung hatte mithelfen können. »Das ist sehr nett von dir, Natalie. Vielen Dank.«

Am Abend zuvor hatte Mum mich beiseitegenommen und war mit mir ins Gästezimmer gegangen, wo Grans Hochzeitskleid in einem Koffer unter dem Bett versteckt war. Sie hatte die Verschlüsse geöffnet und ein Kleid hervorgeholt, das nun wieder in alter Pracht erstrahlte. Ich war begeistert und hatte bei meinem Lob geklungen, als würde ich für eine Waschmittelreklame vorsprechen, doch sie hatte es wirklich toll hinbekommen.

»Und was ist das da?«, hatte ich gefragt und einen perlenbesetzten Bolero aus dem Koffer genommen.

»Ich dachte, das könnte Gran als ›etwas Geborgtes‹ gefallen. So unkonventionell deine Großmutter auch ist, selbst sie hat vielleicht Probleme damit, mit über siebzig Jahren ein schulterfreies Kleid zu tragen.«

»Guter Punkt«, hatte ich gesagt und Mum dankbar in die Arme geschlossen.

»Ich wünschte nur, ich könnte es an dem Tag an ihr sehen«, sagte meine Mutter jetzt am Esstisch, und man merkte ihr an, wie traurig sie war.

»Kannst du doch«, widersprach ich ihr.

Eine warme faltige Hand legte sich auf meine. »Nein, das kann sie nicht, mein Schatz. Deine Mutter hält zuallererst zu deinem Vater. Meine Entscheidung hat ihn verletzt und durcheinandergebracht, und er braucht deine Mutter jetzt. Das verstehe ich.«

»Ich wünschte nur, ich könnte …«

Die Tür schwang auf, und Dad kam mit der frisch beladenen Servierplatte zurück.

»Du wünschst dir, du könntest was?«, fragte er, stellte die Platte auf den Tisch und griff nach seinem Weinglas. War ich die Einzige, der auffiel, dass er es einige Male häufiger auffüllte als normalerweise?

»Den Yorkshire Pudding mal selbst genauso gut hinbekommen wie mit der Fertigmischung aus der Packung«, sagte Mum mit einer Wendigkeit, die mir zeigte, dass sie weit besser in diesem ganzen Heimlich-Zeug war, als ich es je sein würde. Sosehr ich mich auf Grans und Josies Hochzeit freute, das Leben würde deutlich entspannter sein, wenn alles vorbei war.

»Arbeitet dein Vater auch im Kraftfahrzeuggewerbe?«, fragte Dad, was seit »Mehr Kartoffeln?« die erste Frage war, die er direkt an Jamie richtete.

»Nein. Er hat eine eigene Beratungsfirma.«

Ich konnte förmlich sehen, wie es bei Dad ratterte und diese Information bei ihm sackte. So ist das mit Buchhaltern, sie sortieren gern Dinge: Steuerformulare … Mehrwertsteuerrückerstattungen … Und sie stecken auch Menschen gern in Schubladen. Jamie hatte nicht den sozialen Hintergrund, den Dad sich offensichtlich zurechtgesponnen hatte.

Allerdings sah Jamie heute auch nicht aus, als hätte er je einen Fuß in eine schmutzige Autowerkstatt gesetzt. Ich hatte tatsächlich zweimal hinsehen müssen, als ich ihn vor einer Stunde am Ende der Straße abholte. Seine blonde Surferfrisur hatte er effizient gebändigt, und er trug schicke Stoffhosen, ein langärmliges Hemd und sogar eine Krawatte.

Als er mich in die Arme schloss, kam es mir vor, als würde ich einen künftigen Bankdirektor küssen. Zum Glück küsste dieser fremde Mann aber genauso wie Jamie.

Als wir uns voneinander gelöst hatten, hatte er meine Miene treffsicher gedeutet. »Soll ich den Schlips lockern?« Ich hatte genickt und gegrinst. »Ich hab Mum gesagt, sie übertreibt. Aber du weißt ja, wie Mütter sind.«

Das hatte ich bisher gedacht, doch andererseits überraschte mich meine Mutter in letzter Zeit immer wieder.

Da Jamie zwei Hemdknöpfe offen trug, war der obere Teil von einem seiner Tattoos sichtbar, doch als er das Hemd weiter zuknöpfen wollte, hielt ich ihn davon ab. Seine Brust fühlte sich warm an, was eine merkwürdige Wirkung auf meinen eigenen inneren Thermostat hatte. Unter meiner Hand schlug Jamies Herz schneller, entweder vor Aufregung wegen des anstehenden Mittagessens oder weil ich ihm so nahe war. Ich wusste, welcher dieser beiden Gründe mir lieber gewesen wäre.

»Dann gehen wir mal«, hatte Jamie gesagt und mich mit offensichtlichem Widerwillen losgelassen. Er nahm eine Flasche Wein und einen Blumenstrauß von dem Mäuerchen, auf dem er die Sachen abgelegt hatte, und hielt beides wie eine weiße Flagge vor sich, als wir das Haus meiner Eltern betraten.

Dad hatte zu gute Manieren, um offen unhöflich zu sein, doch ich glaube, die Zeugen Jehovas und Versicherungsvertreter wären bei uns wahrscheinlich mit mehr Begeisterung empfangen worden als mein Freund. Glücklicherweise war Gran eingesprungen, hatte Jamie herzlich umarmt und ihm noch einmal für seine Hilfe an dem Tag gedankt, als Josie ins Krankenhaus eingeliefert worden war.

»Ich hoffe, es geht ihr inzwischen besser?«, erkundigte Jamie sich höflich, während wir ins Esszimmer gingen und uns an den Tisch setzten.

»Ja, zum Glück.«

»Gerade noch rechtzeitig vor der Hochzeit«, rutschte es Jamie heraus. Mein Vater zog die Brauen zusammen, sodass sie einen einzigen, Missfallen signalisierenden Strich bildeten, und verschwand in die Küche, wobei er irgendetwas von einem Korkenzieher murmelte. Hoffentlich würde er ihn für die Weinflasche benutzen und nicht an Jamie ausprobieren.

»Tut mir leid«, sagte Jamie leise, während die Frauen der Familie Preston sich mit identischem Gesichtsausdruck vielsagende Blicke zuwarfen.

»Du hast nichts falsch gemacht«, versicherte ihm Gran und tätschelte freundlich seinen Unterarm. »Ich bin der Grund für seine schlechte Laune, nicht du.«

Man musste Dad lassen, dass er wie neu gestartet zurück ins Esszimmer kam und sich merklich Mühe gab. »Gestern Abend hast du noch ziemlich spät Klavier geübt, Mandy.«

Mein Blick sprang zu Grans altem Stutzflügel, der in einer Ecke des Esszimmers stand. Auf der Notenablage war das Stück, das Gran mich gebeten hatte, für die Trauung einzustudieren. Wovon ich Dad aus naheliegenden Gründen nichts erzählt hatte.

»Entschuldige. Ich seh zu, dass das nicht mehr vorkommt.«

Sein Blick wurde etwas freundlicher, als er an seine Mutter gerichtet fragte: »Das Stück ist von Pachelbel, nicht wahr?« Er fragte sie, nicht mich.

»Ich staune, dass du das weißt, Gerald.«

Er schüttelte den Kopf und lächelte sogar ein wenig. »Das hast du oft gespielt, als ich klein war. Für mich ist es die Begleitmusik zu meiner Kindheit. Du hast oft gesagt, wie sehr es dir gefällt.«

»Pachelbels Kanon in D-Dur«, sagte Gran und sah ihren Sohn so liebevoll an, wie es nur Eltern tun. »Es war immer mein Lieblingsstück. Und darum habe ich Mandy gebeten –«

Der unsichtbare Elefant trompetete zur Warnung, und was auch immer Gran eigentlich hatte sagen wollen, sie bekam noch die Kurve.

»Darum habe ich Mandy gebeten, es einzustudieren.«

Dad nickte kurz. Er weiß es. Ich weiß, dass er es weiß, dachte ich, während Dad aufstand und die leeren Teller aufeinanderstapelte. Wieso kann er ihr nicht die Hand reichen? Wieso begreift er nicht, wie viel es ihr bedeuten würde, dass er ihre Entscheidung akzeptiert?

Wir mussten warten, bis meine Eltern, die glücklicherweise alle Hilfsangebote abgelehnt hatten, damit beschäftigt waren, die Spülmaschine zu bestücken, bevor wir Gran die guten Neuigkeiten von den Hochzeitsblumen erzählen konnten.

»Ich weiß, wir haben gesagt, wir müssen womöglich mit Blumen aus dem Garten zurechtkommen«, begann ich hastig für den Fall, dass meine Eltern in der Küche schneller fertig wären als erhofft.

Wir waren inzwischen ins Wohnzimmer gewechselt, und ich brannte darauf, die Neuigkeit loszuwerden, dass das letzte Puzzlestück bei der Hochzeitsplanung wie durch ein Wunder nun an seinem Platz war. Und ich hatte gar nichts dafür tun müssen. Es war alles Jamie zu verdanken.

Thema Blumendeko ist geritzt

hatte er mir vorgestern aufs Handy geschrieben.

Ich hol dich um 15 :30 ab und erzähl’s dir

Die Uhrzeiger hatten sich besonders langsam bewegt, während ich den Rest des Nachmittagsunterrichts durchhalten musste, ehe ich erfuhr, was seine Nachricht bedeutete.

Er hatte vor dem Schultor geparkt mit einem Wagen, den ich noch nicht kannte.

»Hast du wieder einen geklaut?«, neckte ich ihn, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

»Ist ’ne Testfahrt, um zu sehen, ob die Reparatur erfolgreich war«, antwortete er mit einem Lächeln auf den Lippen, die ich gerade geküsst hatte. Am liebsten hätte ich es gleich wiederholt.

»Also, was meintest du eben, von wegen das mit den Blumen wäre geregelt?«, fragte ich und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass wir einen Teil der Stadt ansteuerten, wo ich mich nicht so gut auskannte.

Wir mussten an der Ampel anhalten, und Jamie nahm eine Hand vom Lenkrad, griff an meinen Rücken und berührte das Stück nackte Haut zwischen dem T-Shirt und dem Bund meiner Levis-Jeans, aber das war nicht sein eigentliches Ziel, sondern er fasste in meine hintere Hosentasche. So angenehm es war, seine forschenden Finger an dieser Stelle zu spüren, kapierte ich doch nicht, was er vorhatte.

»Suchst du was Bestimmtes?«

Die Ampel sprang um, und er legte die Hand wieder aufs Lenkrad. »Die Karte, die dir diese Frau gegeben hat.«

Ich sah ihn einige Sekunden lang verständnislos an und erinnerte mich dann an das durchnässte Kärtchen, das ich letztens aus der Hosentasche meiner frisch gewaschenen Jeans gefischt hatte, weil ich es vor der Wäsche versehentlich nicht herausgenommen hatte. Mir klappte die Kinnlade herunter, da mir zu spät aufging, wie wichtig diese Visitenkarte hätte sein können. »O Mist, diese Frau, der wir geholfen haben, hatte einen Blumenladen, stimmt’s? Das hab ich total vergessen.«

»Glück für dich, dass sie unsere Begegnung nicht vergessen hat«, sagte Jamie und klang dabei ein wenig selbstgefällig. Ich beschwerte mich nicht, denn jetzt dämmerte mir, wohin uns unsere Spritztour führen würde.

»Heute früh stand sie nämlich in der Werkstatt auf der Matte, um was am Wagen machen zu lassen, was seltsam war, weil sie gar nicht Stammkundin bei uns ist, aber noch seltsamer war, dass sie mich sofort wiedererkannt hat. Ich hab keine Ahnung, wieso.«

Ich schmunzelte, weil ich es so süß fand, dass er überhaupt nicht merkte, dass sich Frauen jeden Alters immer an sein Gesicht erinnern würden.

»Und da hab ich mir gedacht, egal, fragen kostet nichts. Und hab ihr erzählt, dass du die Hochzeit deiner Grandma organisierst und das mit dem Blumenschmuck noch nicht gelöst hast, und sie sagte, sie würde sich gern darum kümmern. Und jetzt fahren wir zu ihrem Laden. Besser gesagt, wir sind schon da.« Er hielt auf einem freien Parkplatz vor dem Geschäft mit dem ungewöhnlichen Namen Crazy Daisy.

Ich wollte ihm seinen Traum nicht kaputtmachen, doch ich ahnte, dass wir es uns selbst bei einem großzügigen Rabatt nicht würden leisten können, in dieser Gegend Blumen zu kaufen.

»Sie hat gesagt, wir sollen uns um die Kosten keinen Kopf machen«, erklärte Jamie mit solchem Selbstvertrauen, dass ich ausstieg und mich von ihm zum Laden führen ließ, auch wenn ich glaubte, dass das hier für alle Beteiligten nur Zeitverschwendung war.

Beth, die Besitzerin, war wirklich lieb. Offenbar hatte Jamie ihr schon den Hochzeitstermin genannt, und obwohl es nur noch wenige Tage bis dahin waren, versicherte sie mir, das würde kein Problem darstellen. Sie führte uns zu einer rustikalen Bank unter einem wunderschönen abstrakten Gemälde, auf dem Mohnblumen zu sehen waren, und reichte mir ein in Leder gebundenes Album mit der Aufschrift »Hochzeitsschmuck«. Ich schlug es auf und verliebte mich sofort in den ersten Strauß, aber dann folgte die herbe Enttäuschung, als ich das kleine Preisschild neben dem Foto entdeckte.

Ich klappte das Album zu und gab es der Frau zurück, da ich ihr nicht weiter die Zeit stehlen wollte.

»Das ist alles wunderschön, aber nichts davon kann ich mir leisten, auf keinen Fall, selbst wenn Sie mir einen Rabatt geben würden.« Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe nur noch zwanzig Pfund.« Dann stand ich auf, doch bevor Jamie mir folgen konnte, reichte mir Beth erneut das Album.

»Schau nicht auf die Preise«, sagte sie freundlich. »Such dir einfach aus, was dir gefällt. Wenn du die Summe erreichst, die ich hätte bezahlen müssen, wenn ich für den Reifenwechsel einen Notdienst gerufen hätte, dann gebe ich dir Bescheid, und wir sind quitt.«

Ich wählte zwei identische Brautsträuße, Anstecksträußchen für die Gäste und sogar noch Tischschmuck, und die Besitzerin vom Crazy Daisy sagte nicht, dass ich das Limit erreicht hätte.

Nachdem ich das alles Gran erzählt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass diese Hochzeit etwas fast Magisches hatte, weil sich am Ende alles so gut fügte. Das Kleid, der Hut und nun die Blumen waren uns so einfach zugeflogen, als wäre es irgendwie vorherbestimmt gewesen.

Nur eine Sache fehlte noch, um den Tag für Gran vollkommen zu machen. Mein Blick wanderte Richtung Küche. Es trübte meine Freude ein wenig, mir eingestehen zu müssen, dass manche Wünsche selbst von einer Armee von Flaschengeistern nicht erfüllt werden konnten.