KAPITEL ZWEI

Rosie Diaz war die weltbeste Mama – so lieb, so natürlich und so voller Liebe. Gideon kam nicht umhin, sie mit seiner eigenen Mutter zu vergleichen. Nadine Jones hatte ihr bestes gegeben, aber mal abgesehen von ihrem Suchtproblem, hatte sie ihre Liebe nie wirklich gezeigt. Auch wenn er wusste, dass sie ihn und Ari liebte.

Rosie hingegen zeigte Jorge ständig, wie sehr sie ihn liebte. Sie brachte ihn zum Lachen, während sie ihm nachrannte und dabei knurrende Geräusche machte, die Hände wie ein Tyrannosaurus Rex an die Körperseite gedrückt. Sie schnappte ihn, um ihm noch einen schrecklichen „Mamakuss“ zu verpassen. Das Kind würde mal ein Herzensbrecher werden. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich mit dem olivfarbenen Hautton, den tiefgründigen, gefühlvoll blickenden braunen Augen und den dichten, dunklen Locken. Eines Tages würden ihm die Mädchen zu Füßen liegen.

So wie Rosie sicher die Männer zu Füßen lagen.

So wie er ihr zu Füßen liegen würde, wenn er könnte. Wenn er auch nur ansatzweise gut genug für sie wäre. Was er nicht war. Er war sogar weit davon entfernt.

Der Rummel hatte Henri den Pfau nicht verjagt und Noah hielt Rosie einen Brotwürfel hin. Anstatt sich zu beeilen, um sich Haare und Make-up stylen zu lassen, hockte sie sich zu den Jungs und fütterte Henri. Noah lehnte sich an sie und Jorge tat es ihm auf der anderen Seite gleich. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter.

Gideon liebte Noah mit jedem gebrochenen Splitter seines Herzens. Noah war Matts Sohn von einer Frau, die Gideon nur einmal getroffen hatte. Die leibliche Mutter war flatterhaft, redete gern und flirtete viel. Wie Matt sich je auf sie hatte einlassen können, war Gideon völlig unklar. Aber Matt hatte das Glück, dass er das Sorgerecht für Noah bekommen hatte und beide hatten Ari gefunden. So war doch alles gut geworden.

Blutsverwandtschaft spielte keine Rolle. Abgesehen von seiner DNS war Noah Aris Sohn. Was bedeutet, dass Noah auch ein Teil von Gideon war. Er würde Noah gernhaben, selbst wenn er nicht Aris Sohn wäre, schlicht und ergreifend, weil er ein tolles Kind war. Er war lustig, an allem interessiert und sehr lieb. Dort, wo andere kleine Jungs einer Fliege die Flügel ausreißen würden, würde Noah sie stattdessen mit einem Glas einfangen und nach draußen bringen.

Die Jungs umarmten Rosie und überzeugten sie, den Pfau mit einem weiteren Stück Brot zu füttern. Natürlich wurde sie schwach und lachte mit ihnen.

Gideon wusste nicht viel über Jorges Vater, bis darauf, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte und Rosie mit Jorge allein gelassen hatte. Sie hatte sich am örtlichen College sehr angestrengt und einen Abschluss in Buchhaltung gemacht. Dann hatte sie einen guten Job gefunden und eine schöne Wohnung für sich und ihren Sohn. Nicht viele Frauen hätten sich so durchgeboxt wie Rosie es getan hatte.

Er wusste vom ersten Moment an, dass sie etwas Besonderes war. Es war an Thanksgiving gewesen und sie hatte ein merlotfarbenes Kleid getragen. Seine Brust hatte sich zusammengezogen, als er dachte, wie perfekt und süß sie ausgesehen hatte. Wie perfekt und süß sie immer aussah.

Sie war eher klein mit einer weiblichen Figur und dunklen Locken. Sinnlich. Er träumte davon, sein Gesicht in den schönen Locken zu versenken, ihren Duft aufzunehmen, diesen blumigen Duft, wie Orangen- und Zitronenblüten. Er träumte davon, sie auf ein großes Bett zu legen und ihre üppigen Kurven genaustens zu erkunden. Er träumte davon, sie dazu zu bringen, seinen Namen voller Lust herauszuschreien.

Es wäre zu simpel gewesen, von reiner Anziehungskraft zu sprechen. Das würde seinen Gefühlen nicht gerecht werden. Bei jeder Maverick Party, jedem Grillfest, jedem Feiertag war er fast betrunken von ihrem Anblick. Er war fasziniert von ihrer Intelligenz und diesem Gefühl von Frieden, das sie ausstrahlte.

Natürlich würde er nie mit ihr zusammen sein können. Nie würde er ihr Herz für sich beanspruchen. Nicht nach alldem, was er getan hatte.

Und doch konnte sein Herz nicht anders, als sich nach ihr zu sehnen. Sein Herz schien seinen eigenen Willen zu haben. Es wollte, was es wollte, und scherte sich nicht darum, wie unmöglich alles war. Obwohl er sie nie verdienen würde. Er konnte die Zeit nicht zurückdrehen und seine Vergangenheit auslöschen. Er konnte seine Fehler nicht ungeschehen machen. Er würde keine neue Chance bekommen, alles richtig zu machen – nicht nur mit Ari, sondern mit seinem Team, das er im Nahen Osten verloren hatte.

„Ich muss jetzt wirklich weg“, hörte er sie zu den Jungs sagen, mit einer sanften Stimme, die ihn innerlich erschütterte. Die ihn dazu brachte, all diese Dinge zu wollen, die er nicht haben konnte. Als sie ihn vorhin so unbewusst berührt hatte, hätte ihn die Macht seines Verlangens und seiner Sehnsucht beinahe in die Knie gezwungen. „Ich bin da drüben in dem Zelt mit Ari und Chi und lasse mich fertigmachen“, sagte sie zu Jorge undd deutete dann hinüber zu Gideon, ihre Blicke trafen sich. Ihre kaffeebraunen Augen waren so tief, dass man sich darin verlieren konnte. „Gideon passt für eine Weile auf euch auf, während ich weg bin. Hört auf alles, was er euch sagt, okay?“

Als Gideon auffiel, dass Rosie ihm ihren Sohn anvertraute, verspürte er einen Stich in der Brust. Er hatte ihr Vertrauen nicht verdient, umarmte es aber, als würde er sie umarmen. Und als sie ihm mit den Fingerspitzen zuwinkte, um ihm zu signalisieren, dass sie sich auf den Weg machte, machte sein Herz einen Satz.

Er konnte es sich nicht erlauben, sie zu berühren. Jede Berührung wäre sein Untergang.

Wenn er sie berührte, dann würde er sie küssen wollen.

Und wenn er sie küsste, dann könnte er niemals wieder aufhören.

Er war während seiner Dienstzeit in der Hölle gewesen. Und obwohl er wieder zurück in Kalifornien war, hatte er diesen brennenden Abgrund nie hinter sich gelassen. Er würde niemals jemand so außergewöhnliches und wunderbares wie Rosie in diesen brutalen Abgrund mitreißen.

Während sie zum Zelt der Braut ging, erinnerte er sich an ihren Kommentar über die Stylisten, die noch etwas vor sich hätten. Dabei brauchte Rosie keine Farbe im Gesicht oder einen riesigen Aufwand um ihre wunderschönen Haare. Rosie war schön wie sie war mit ihrer zierlichen Statur und ihren heißen Kurven, die Männer dazu brachte, den Verstand zu verlieren. Sie ließ ihn den Verstand verlieren. Ihm war nicht klar, warum nicht irgendein super Typ sie sich schon längst geschnappt hatte.

Wenn doch nur er dieser Typ sein könnte.

Aber das ging nicht. Nicht jetzt. Niemals.

Er war immer noch erstaunt darüber, dass die Mavericks ihn aufgenommen hatten. Matt hatte Gideon ein Dach über dem Kopf angeboten, als er sich sein neues Leben in Kalifornien aufbaute. Daniel Spencer hatte ihm einen verantwortungsvollen Job angeboten und ihn schließlich bei seiner Top Notch Baumarktkette befördert. Gideon war zuerst für die Lieferungen verantwortlich gewesen, dann für den Einkauf und jetzt hatte Daniel ihn zum Lagerchef gemacht – von allen Top Notch Lagern, darunter die fünf neuen, die gerade in der Bay Area gebaut wurden. Er war jetzt zuständig für den Bau dieser Lager. Er war sich nicht sicher, warum Daniel ihm diese Verantwortung übertragen hatte – vielleicht, weil Gideon in der Army Team Leader gewesen war oder weil er als Bauunternehmer gearbeitet hatte, nachdem er die Armee verlassen hatte –, doch was auch immer der Grund sein mochte, er würde Daniel nicht enttäuschen.

Es gab immer noch einen Teil von Gideon, einen riesigen Teil, der nicht ausmachen konnte, warum die Mavericks ihm halfen. Er hatte schließlich seine Schwester sechzehn Jahre lang im Stich gelassen und zugelassen, dass sie im Pflegefamiliensystem aufwuchs. Soweit er sehen konnte, hatte er nichts getan, womit er das verdient hätte, was sie für ihn taten. Außer, dass er Aris Bruder war. Klar, er arbeitete hart und versuchte alles bestmöglich zu erledigen, was Daniel ihm anbot. Er würde Daniel das nie wieder zurückzahlen können. Auch Matt würde er es nicht zurückzahlen können. Er würde es keinem der Mavericks je wieder zurückzahlen können, wie sie Ari bei sich aufgenommen hatten.

Wie sie sich um sie gekümmert hatten, als Gideon sie nicht finden konnte.

Die Jungs rannten zu ihm herüber und Jorge schnappte sich seine Hand. „Komm schon, Gid. Die Pflegerin lässt uns den Pfau mit Käfern füttern.“ Gideon lächelte über das Staunen in Jorges Stimme, beim Gedanken daran, Käfer zu essen.

Noah griff seine andere Hand. „Ja. Echte, lebendige Käfer.“ Seine Wangen vor Aufregung gerötet. „Die Pflegerin hat gesagt, dass Pfauen Käfer sogar lieber mögen als Brot. Sie verbringen den ganzen Tag damit, in der Erde und in Pflanzen nach ihnen zu suchen.“

„Und wir dürfen sie auch anfassen!“, sagte Jorge.

„Klingt cool. Dann schauen wir uns das mal an.“ Sie führten Gideon zurück zu Henri dem Pfau und den bald-zu-verspeisenden Käfern.

Noah würde zwei Wochen lang bei ihm wohnen, während Ari und Matt in Island waren. Gideon nahm an, seine Schwester hätte ihren Sohn mitgenommen, wenn nicht jeder betont hätte, dass es die Flitterwochen waren. So sehr liebte sie Noah. Gideon liebte ihn ähnlich innig – und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dem kleinen Jungen irgendetwas zustoßen könnte. Insbesondere nicht unter seiner Aufsicht.

„Hier bitte.“ Die Tierpflegerin öffnet eine Plastiktüte voller Käfer.

Sie bewegten sich nicht viel und Gideon war sich ziemlich sicher, dass sie frisch aus dem Kühlschrank kamen und somit nicht sehr lebendig waren. Dennoch waren Jorge und Noah ganz begeistert. Wörter wie wow und super fielen, als sie ihre Handvoll Käfer ausgeteilt bekamen.

Gideon bekam ebenfalls eine Handvoll und bevor er die Erinnerung aufhalten konnte, war er wieder da drüben. Im Sand. Wo sein Team gezwungen war, Käfer zu essen, weil es nichts anderes gab.

Aber als er die Kinder dabei beobachtete, wie sie beim Pfauenfüttern ein bisschen durchdrehten, kam Gideon zurück in die Gegenwart, den sonnigen Tag in Kalifornien, an dem seine kleine Schwester „Ja, ich will “ sagen würde.

Als der Pfau endlich satt war, stolzierte er davon. Seine majestätischen Federn zeichneten seinen Weg nach. Jorge verzog das Gesicht und sagte: „Scheinbar sind wir jetzt uninteressant.“

Die Tierpflegerin lachte mit einem Gesicht voller Lachfalten. Gideon gestatte sich ein kleines Lächeln und vermutete, dass Jorge diesen Satz von Rosie gelernt hatte.

„Ihr wart wirklich gute Jungs“, sagte die Frau und nach Gideons Zustimmung gab sie jedem einen Lolli. „Meine besten Kinder des Tages.“

Noah blinzelte sie an. „Wir waren heute ihre einzigen Kinder.“

„Ja, aber ihr wart dennoch die Besten.“ Sie winkte, drehte sich um und folgte dem Pfau langsam.

Jorge zupfte an Gideons Hand. „Können wir die Lamas streicheln gehen?“

„Klar, Kleiner. Und auch die Esel.“

„Es gibt Esel?“ Noah war im Streichelzoo-Himmel. „Ich habe noch nie einen Esel gefüttert oder gestreichelt.“

Als er sie zu den Eseln führte, hatte Gideon einen Jungen an jeder Hand und gestattete sich, die Freude zu genießen, Zeit mit Kindern zu verbringen. Nur in ihrer Gegenwart hatte er das Gefühl, tief durchatmen zu können. Irgendwie gelang es ihnen immer, den Teil von ihm zu erreichen, der nicht von Bombenschlägen, Schuld und Verlust zerstört worden war.

Daniel hatte ihm zwei Wochen frei gegeben, um sich um Noah zu kümmern. Gideon hatte schon allerhand Pläne für sich und ihn gemacht. Doch nun hatte Rosie Spieltreffen für die Jungs vorgeschlagen. Es war ihm sehr unangenehm gewesen. Natürlich hätte ihm klar sein müssen, dass die beiden Jungen Zeit miteinander verbringen wollen würden.

Er wollte, dass Noah einen tollen Urlaub hatte, während seine Eltern weg waren. Und mit niemand anderem hatte er so viel Spaß wie mit Jorge. Sie waren die allerbesten Freunde, beinahe wie Brüder. Nur war Gideon sich nicht sicher, wie er es aushalten sollte, stundenlang Zeit mit Rosie zu verbringen, während die Jungs spielten …

Er musste eine Möglichkeit finden, sie zu überzeugen, dass es sinnvoller war, die Aufsichtspflicht aufzuteilen. Er könnte mit den beiden an einem Tag in San Francisco ins Exploratorium gehen und sie an einem anderen ins Mumienmuseum in San Jose.

Er würde nämlich schlichtweg vollkommen durchdrehen, wenn er zu viel Zeit mit Rosie verbringen musste. Sie war zu schön, zu verführerisch, zu klug und zu gut in ihrer Mutterrolle.

Zu verdammt gut für ihn in jederlei Hinsicht.