KAPITEL VIER

Im Zelt des Bräutigams hatten alle Mavericks Kostüme über ihre Smokings angezogen, auch Noah war dabei, der die Ringe tragen würde. Matt und Ari würden die Überraschung ihres Lebens erleben, wenn die Mavericks und Noah das Zelt verließen.

Matt war mit dem Standesbeamten hinter der Bühne. Bob leistete ihm moralische Unterstützung. Matt brauchte diese zwar nicht, da er Ari ganz offensichtlich mit jeder Faser seines Körpers liebte. Für Matt gab es keine oh-verdammt-ich-mache-einen-Fehler-Situation, er würde seine Meinung nicht ändern und sorgte sich nicht um die Zukunft.

Gideon stand am Zelteingang und beobachtete Jeremy, wie er Susan und Jorge den Gang entlang führte. Dann kam Bob die Treppe der Bühne herunter und setzte sich neben sie.

Gideon spürte einen Stich in seinem Herzen. Ihrer Mutter hätte dieser Tag so sehr gefallen. Sie hätte so viele Freudentränen geweint, wenn sie ihre Tochter vor den Altar hätte treten sehen, um den Mann zu heiraten, den sie liebte. Aber es war nicht so geworden, wie ihre Mutter es geplant hatte. Sie hatte nicht geplant, dass ihr Ehemann bei einem Autounfall ums Leben kommen würde, als Gideon elf und Ari knapp ein Jahr alt waren. Sie hatte nicht geplant, drogensüchtig zu werden. Sie hatte lediglich den Schmerz ihres Verlustes etwas abdämpfen wollen. Schlussendlich hatte sie jedoch nicht nur ihr Zuhause verloren, sondern war an einer Überdosis gestorben … und hatte Ari ganz alleine gelassen.

Als Gideon dem Militär beigetreten war, war er gerade achtzehn gewesen. Rückblickend hätte er Ari nicht mit seiner Mutter alleine lassen sollen, egal wie gut seine Absichten gewesen waren. Er hätte wissen sollen, dass Nadine Jones sich nicht um seine Schwester kümmern konnte.

Wenn er doch nur einen Weg finden würde, all seine Fehler bei Ari wiedergutzumachen …

Mit einem harten inneren Ruck riss er sich zusammen. Heute war nicht der Tag, um darüber nachzudenken, was hätte sein können und was hätte sein sollen. Heute sollte der schönste Tag in Aris Leben sein. Für die nächsten paar Stunden musste er all seine Verfehlungen verdrängen. Denn nach all diesen Tagen, an denen er gedacht hatte, dass er nie wieder nach Hause zurückkehren würde, nachdem er der Hölle entkommen war und nachdem er sich so gesorgt hatte, dass er Ari nie wiederfinden würde – so waren sie doch heute zusammen.

Und heute würde er dabei zusehen, wie sie einen Mann heiratete, der sie lieben und respektieren und ehren würde. Es war genau die Art Ehe, die Ariana verdient hatte: eine in der Liebe, Respekt und Ehre nie ins Straucheln geraten würden, komme was wolle.

Da die Eltern des Bräutigams nun saßen, ging Matt endlich auf die Bühne, hinter ihm folgte der Standesbeamte.

Das war’s. Showtime.

Gideon verließ das Zelt des Bräutigams und ging hinüber zum Zelt der Braut. Mit jedem Schritt klopfte sein Herz fester. Rosie war die erste Frau, die er sah, als eintrat. Sein Herz machte einen Sprung bis in seinen Hals, als er sie erblickte.

Sie sah fantastisch aus in ihrem blass-fliederfarbenen Kleid, dessen Oberteil in weichen Falten lag. Die Träger waren so dünn, dass ihre Schultern fast nackt waren. Ihr tief ausgeschnittenes Dekolleté umschmiegte die Kurven ihrer Brüste. Er sollte es sich nicht einmal erlauben, dies zu bemerken, aber sein Blick wurde von ihr angezogen, er war praktisch hilflos. Er konnte auch nicht anders, als all diese verbotenen Dinge zu fühlen. Hinter Rosie standen Chi, Daniels Schwester Lyssa und Evans Schwester Kelsey, die das identische Kleid anhatten. Sie waren zwar auch hübsch, aber Rosie machte das Kleid zu etwas Außergewöhnlichem.

Sie griff nach seiner Hand und zog ihn in das Zelt. Ihre Berührung durchzuckte ihn wie ein Blitz und entzündete ein Feuer in jedem Nerv seines Körpers. Dazu brauchte es nicht mehr als Rosies Handfläche in seiner.

„Ist das nicht fantastisch? Kannst du es fassen, dass Ari in ein paar Minuten heiraten wird?“

Gideon hatte gedacht, er sei auf den heutigen Tag vorbereitet gewesen. Aber erst in dem Moment, in dem Rosie ihn mit einem Sternenglitzern in den Augen ansah, begriff er die Tragweite von allem. Seine kleine Schwester würde gleich heiraten .

All seine Gefühle hatten sich zu einem Kloß in seinem Hals zusammengefunden, der ihn nicht sprechen ließ.

Rosie hatte seinen Gesichtsausdruck wohl gelesen. Sie nahm beide seiner Hände in ihre und drückte sie fest, als sie sagte: „Du wirst das gut machen, großer Bruder. Du bist ein riesiger Grund, warum heute einer der glücklichsten Tage ihres Lebens ist. Ari hat immer gebetet, dass du zurückkommst, damit du sie zum Altar führen kannst.“ Sie hielt einen Moment inne, bevor sie ergänzte: „Ich übrigens auch.“ Sie lächelte ihn mit diesem glorreichen, wunderschönen Rosie-Lächeln an. „Und jetzt bist du hier und siehst gleich deine Schwester in ihrem Hochzeitskleid zum allerersten Mal.“ Ihr Lächeln verzauberte ihn. „Mach dich bereit, sie sieht fantastisch aus.“

Aber nichts hätte ihn irgendwie auf die strahlende Vision vorbereiten können, die vor ihm stand. Sein Herz setzte aus und Tränen schossen in seine Augen. „Du bist so wunderschön, Ari.“

Das enge Oberteil des Kleides war mit Perlen besetzt. Dünne Perlenketten fungierten als Träger. Von der hohen Taille aus ging das Kleid in einen langen cremefarbenen Rock über, dessen Material so fein war, dass er befürchtete, dass es zerreißen könnte, wenn er es nur anfasste. Ihre blonden Haare waren hochgesteckt und rund um ihr Gesicht fielen zarte, gelockte Haarsträhnen. Sie trug einen Blumenkranz mit einem kurzen Schleier auf der Rückseite. Sie hat ihr Gesicht nicht bedeckt und ihre Freude strahlte wie ein Leuchtfeuer. Ihr Make-up war makellos, obwohl seine Schwester, wie auch Rosie, eigentlich keines brauchte. Ari war von innen genauso schön von außen.

Und obwohl ihre Mutter und ihr Vater beide nicht mehr lebten, so hätte Gideon schwören können, dass sie voller Freude über ihn und seine Schwester wachten.

„Ich bin so glücklich, Gideon.“ Ihr strahlendes Lächeln unterstrich ihre Worte.

„Ich weiß und ich bin froh. Matt und Noah sind alles, was ich mir je für dich wünschen könnte.“ Es gab noch so viel mehr, was er sagen musste. Er nahm Aris Hände in seine. „Ich bin so stolz auf dich. Du hast so viele unglaubliche Dinge erreicht, ohne die Vorteile gehabt zu haben, die die Meisten hatten.“ Sie hatte sich ein Leben aufgebaut und war zu einer schönen, intelligenten, lustigen Frau herangewachsen – und alles aus eigener Kraft. Genauso wie Rosie. Beide Frauen waren so voller Zielstrebigkeit und Charakterstärke und gleichzeitig so empathisch und mitfühlend.

„Ich bin auch so stolz auf dich.“

Doch ihre Worte brachten ihn nur dazu, an die Dinge zu denken, die er nicht für sie getan hatte. Die Dinge die er nicht für seine Mom getan hatte. Für sein Team. Und für Karmen.

Zum Glück hatte Ari einen guten Mann gefunden. Matt würde sie nie enttäuschen. Matt würde immer für sie da sein. Matt würde sie nie ihrem eigenen Schicksal überlassen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stellte sich Ari auf die Zehenspitzen und umarmte ihn. Fest. Wie an den Tag, an dem er sie verlassen hatte, als sie gerade einmal acht war.

„Ich hab dich lieb, großer Bruder“, flüsterte sie gegen sein Ohr.

Er erwiderte ihre Worte und wünschte, dass seine Liebe für sie genug gewesen war, um sie all diese Jahre zu behüten.

Außerhalb des Zelts begann „Can‘t Take My Eyes Off of You“ zu spielen. Es war das Lied, zu dem die Brautjungfern vor Ari zum Altar gehen sollten. Sie hatte es ausgesucht. Gideon wollte, dass seine Schwester den Einzug sehen konnte – insbesondere die Mavericks und Noah – aber noch mehr wollte er, ihr nicht den Tag zu ruinieren mit all den Gefühlen, die in ihm brodelten.

Er führte sie zum Ausgang des Zeltes, wo die Kosmetikerin und die Friseurin den Eingang weit offen hielten. Kelsey nahm ihren Blumenstrauß und ging langsam zur Mitte der zwei Zelte, wo sie auf Sebastian traf.

Ari schnappte nach Luft.

Die Arme und Beine von Sebastians weißen Smoking waren mit schwarzen und silbernen Blechen verkleidet, wie die Puppen auf der Bühne. Er streckte mit einer roboterartigen Bewegung seinen Arm aus und Kelsey hakte sich unter. Er ging mit ihr Richtung Altar und machte dabei steifbeinige, mechanische Schritte und bewegte seinen Kopf in einer hakenden, schnappenden Art, als würde sein Hals von Zahnrädern angetrieben. Lyssa ging als nächstes zur Mitte, wo sie auf einen maschinenartigen Daniel traf. Dann nahm Evan Chis Arm und führte sie mit staksenden Beinen nach vorne.

„Ich kann nicht glauben, dass sie das gemacht haben.“ Ari hing an Gideons Arm und lachte, während Rosie die kurze Schleppe ihres Hochzeitskleides gerade zog und es in perfekte Falten legte. „Ich liebe es.“

Als Ari beschlossen hatte, ein Puppentheaterauf­führung mit Robotern vorführen zu lassen, hatten die Jungs beschlossen, die gesamte Hochzeit unter das Motto Roboter zu stellen, um sie zu überraschen. Zum Glück gefiel es seiner Schwester. Sie hatte eine Hand auf ihren Mund gelegt und kicherte.

In der grauenvollen Hölle der Wüstensonne hatte Gideon nicht nur all die Jahre verpasst, in denen sie erwachsen und zu der einmaligen Frau geworden war, die sie jetzt war. Er hatte auch das Lachen verlernt.

Er arbeitete hart daran, die düsteren Gedanken zu verbannen, als Rosie an ihm vorbeiging und dabei mit ihrer Hand über seinen Arm fuhr. Es war, als wüsste – und verstünde – sie all das, was in ihm vor sich ging.

Natürlich konnte sie es nicht. Er hatte niemandem die ganze Geschichte erzählt. Nicht einmal Ari. Aber Rosie schein zu wissen, dass er dringend eine Berührung brauchte, ihre Berührung, um ihn ins Hier und Jetzt und zum magischen Hochzeitstag seiner Schwester zurückzubringen.

Wenige Sekunden später verließ Rosie das Zelt, um sich in Wills robotisch ausgestreckten Arm einzuhaken und mit ihm nach vorne zu gehen. Gideon sollte sich auf seine Schwester neben sich konzentrieren, aber im Moment konnte er nichts anderes sehen als Rosie.

Ihr liebliches Lächeln.

Ihre Kurven unter dem fließenden, fliederfarbenen Chiffonstoff.

Ihre nackten Schultern.

Ihre wunderschöne Haut, die von dem weiten Rückenausschnitt des Kleides entblößt wurde, als sie davonging.

Wäre da nicht Noah gewesen, hätte er still gestanden und hätte Rosie beobachtet, bis sie die Bühne erreicht hatte. Aber als Noah wie ein kleiner Zinnsoldat zum Mittelgang marschierte, die Beine fest durchgedrückt und das kleine Ringkissen wie einen Schatz haltend, zog er sämtliche Aufmerksamkeit – auch Gideons – auf sich. Noah trug einen weißen Smoking in Kindergröße, der wie die der Mavericks mit schwarzen Blechen verkleidet war. Sein Gesicht war weißgold angemalt, die Lippen schwarz und auf seinem Kopf trug er als Krönung des Kostüms einen Roboterhelm mit Antennen. Er trug weiße Handschuhe an den Händen, in denen er das kleine Kissen mit den daran befestigten Ringen hielt.

Er war so glücklich, so stolz, die Ehre zu haben, und strahlte Ari an, als er an ihr vorbeiging.

Ari legte ihre Hand auf den Mund, in ihren Augenwinkeln glänzten Tränen der Liebe und Freude. „Er ist so zuckersüß. Ich liebe ihn so sehr, das bringt mich zum Weinen.“

Gideon griff nach Aris Hand und drückte sie fest. Er wusste genau, wie sich seine Schwester fühlte.

Normalerweise würde der Ringträger in der ersten Reihe Platz nehmen, aber Noah marschierte weiter und folgte Will und Rosie. Wenn er an der Reihe war, würde er zwischen Matt und seinem Trauzeugen Will stehen. Es war genau richtig so, denn Ari würde sie beide für immer in ihr Herz aufnehmen.

Der Klavierspieler stimmte ein neues Lied an, das Signal, dass nun Ari dran war. Sein Herz pochte in seinem Hals, als Gideon seine Schwester zum Beginn des Mittelgangs führte. Dort wartete er auf das Signal des Hochzeitsplaners. In wenigen Momenten, würde er sie an ihren zukünftigen Mann übergeben. Es war eine fantastische Verantwortung. Eine, die ihm mehr bedeutete, als Ari oder Matt je wissen würden.

Schließlich erreichten Rosie und Will die Bühne und teilten sich auf. Sie gingen auf der jeweils gegenüberliegenden Seite der Bühne die Treppe hinauf und stellten sich je neben den Standesbeamten und den Bräutigam. Als Rosie sich umdrehte, um ihre Position einzunehmen, trafen sich ihre Blicke über die recht weite Distanz hinweg. Und obwohl er wusste, dass es verrückt war, stellte er sich vor, dass er den Gang entlanggehen würde, um sie zu treffen. Als wäre sie seine Zukunft. Sein für immer.

Natürlich war sie das nicht. Das könnte sie nie sein.

Aber selbst Gideon, ein Mann mit einer Vergangenheit, die zu groß erschien, um überwunden zu werden, hatte seine geheimen Träume.