KAPITEL ACHT

Während die übrigen Mavericks Matt humorvoll und liebevoll in ihren Reden neckten, hätte Rosie schwören können, dass sie immer noch den leichten Druck von Gideons Hand gegen ihr Knie spüren konnte. Als sie Ari und Matt ihr Herz ausschüttete, hatte sie das Gefühl gehabt, als hätte Gideon alles komplett verstanden, was sie fühlte … und dass er direkt in ihr Herz blicken konnte.

Für wenige wunderbare Momente nach ihrer Rede und bevor sie sich wieder setzte, war zwischen ihnen etwas entflammt. Er hatte ausgesehen, als wollte er sie an sich drücken und sie bis zur Atemlosigkeit küssen.

Der Moment war natürlich vergangen. Als der DJ ankündigte, dass nun alle Reden gehalten waren, hatte Gideon seinen Stuhl zurückgestoßen und war praktisch davongerannt.

„Du siehst aus, als könntest du einen Drink vertragen.“ Chi reichte ihr ein Glas voll Champagner.

„Ich glaube, ich hatte schon zu viel“, gestand sie, als sie mit Chi anstieß.

Die Musik startete wieder und es wurde getanzt. Statt zur Tanzfläche zu gehen, schleppte Kelsey Collins Lyssa Spencer herüber. Ein Kellner kam an der kleinen Gruppe vorbei und die zwei Frauen nahmen sich Gläser.

„Was für eine tolle Party.“ Lyssa war die einzige Schwester der Mavericks und zehn Jahre jünger als ihre Brüder. Rosie konnte die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Bruder Daniel erkennen. Sie hatten die gleichen schokoladenbraunen Augen, das gleiche gewellte dunkle Haar, das in ihrem Fall aber über ihre Schultern fiel. „Und Jorge und Noah sind einfach nur süß da drüben.“

Sie ließen es auf der Tanzfläche so richtig krachen und schwoften mit jedem, der sich ihrer annahm. Süß traf es gut.

„Die werden eines Tages echte Herzensbrecher. Apropos …“ Kelsey ließ ihren Blick über die Hochzeitsgesellschaft schweifen. „Bitte sag mir, dass ich nicht die einzige bin, die bemerkt hat, wie viele attraktive Männer hier sind.“

„Oh ja“, stimmte Chi zu, „obwohl die ganzen heißen Mavericks schon vergeben sind.“

Lyssa verzog das Gesicht. „Ih. Das sind meine Brüder. So kann ich sie nicht sehen.“

„Nun, es muss doch irgendwen geben, den du ins Auge gefasst hast“, sagte Kelsey.

Wie Lyssa war Kelsey zehn Jahre jünger als ihr ältester Bruder Evan. Kelseys Zwillingsbruder Tony war auf der Tanzfläche mit einer älteren Frau, die ihn zu nah an sich gedrückt hielt. Vielleicht musste sie ihn aber auch stützen, nach zu vielen Champagner-Reden. Kelsey und Tony waren nicht eineiig, aber sahen sich vom Gesicht und der hellbraunen Haarfarbe her ähnlich. Kelseys Haare waren nur länger und hatten blonde Strähnchen. Tony und Evan hätten Zwillinge sein können, trotz ihres Altersunterschieds.

Als Lyssa nicht schnell genug antwortete, zeigte Kelsey auf einen besonders gutaussehenden Mann mit breiten Schultern und kurz geschorenen Haaren. „Wie wäre es mit ihm?“

Lyssa prustete los. „Das ist Gabe Sullivan. Er ist Feuerwehrmann in San Francisco. Und er ist definitiv vergeben. Aber das ist in Ordnung, denn ich habe ein Auge auf ihn geworfen.“ Sie deutete auf einen Mann, der gerade auf der Tanzfläche war. Er war groß, attraktiv und gut in Form – und deutlich älter als sie. „Ich mag ältere Männer“, sagte sie, um den Antworten zuvorzukommen. Lyssa seufzte, ein bisschen verträumt, ein bisschen verspielt. „Oh ja, Cal Danniger hat definitiv meinen Namen auf sich stehen. In Lippenstift.“

„Was zur Hölle?“

Lyssa wirbelte herum. Ihr Bruder Daniel stand direkt hinter ihnen.

Er blickte sie mit intensivem Bschützerinstinkt düster an. So düster hatte Rosie ihn noch nie blicken sehen. Daniel sagte: „Cal Danniger ist nicht der Richtige für dich.“

Lyssa stemmte die Hände auf ihre Hüfte und blickte ihren Bruder direkt an. Auch in ihren Augen lag eine Herausforderung. Als wollte sie, dass er etwas Falsches sagte. „Wie bitte?“

Daniel atmete tief durch, es war deutlich, dass er sich zurückhalten und nichts Harsches zurückgeben wollte. Er war sonst so entspannt. Es war deutlich, dass Lyssa seinen Schwachpunkt gefunden hatte und den roten Knopf tief drückte, um die Sprengung einzuleiten. „Cal arbeitet für mich“, knurrte Daniel, „und er ist zwanzig Jahre älter als du. Er ist für dich tabu !“

Lyssas Blick verengte sich, als sie einen Schritt auf ihren Bruder zumachte, bis sie direkt vor ihm stand. „Wenn ich sage, er ist mein Typ, dann ist das so.“

Wow. Die Mavericks waren sonst eine große, glückliche Familie. Die Brüder liebten Lyssa und umgekehrt. Allerdings war Lyssa sechsundzwanzig, hatte einen tollen Job in Chicago und stand auf eigenen Füßen. Daniel war schlicht überfürsorglich.

Insbesondere als er sagte: „Du hast mich nicht richtig gehört, kleine Schwester. Ich erlaube dir nicht, ihn zu daten.“

„Oh, oh, gleich fliegt alles in die Luft“, flüsterte Chi, als Lyssa trotzig ihr Kinn anhob und ihren Mund öffnete, um eine feurige Antwort hinauszuspeien.

Bevor es zu einem Vulkanausbruch kommen konnte, tauchte glücklicherweise Tasha Summerfield an Daniels Seite auf. Sie hatte die Szene bestimmt aus der Distanz beobachtet. „Da bist du“, sagte Tasha, als sie sich bei Daniel unterhakte. „Das ist mein Lieblingslied. Komm, tanz mit mir.“

Rosie bezweifelte stark, dass „Achy Breaky Heart“ Tashas Lieblingslied war, aber es war gerade viel wichtiger, Bruder und Schwester zu trennen, bevor etwas Übles passierte.

Daniel traf seine Schwester noch einmal mit einem Blick und sagte: „Er ist nicht der Richtige für dich“, bevor Tasha ihn wegziehen konnte.

Lyssa war stinksauer. Ihre Augen waren eng zusammengezogen auf den Rücken ihres Bruders gerichtet und die Lippen fest geschürzt. „Wie kann man nur so anmaßend sein?“

„Er passt nur auf dich auf“, sagte Chi, die immer diplomatisch agierte.

Rosie stimmte zu. Sie hätte alles dafür gegeben, einen großen Bruder gehabt zu haben, der auf sie aufpasste, als sie Jorges Vater kennen gelernt hatte.

„Ich weiß“, sagte Lyssa. „Aber es wird ja nicht nur er sein. Alle fünf werden denken, dass sie mich beschützen müssen. Sechs, wenn man Gideon mitzählt.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Man sollte meinen, ich wäre noch fünfzehn und einer von Daniels Freunden hätte mich angebaggert.“

„Versteht er denn nicht, dass du Cal jetzt nur noch mehr wollen wirst?“ Kelsey schüttelte den Kopf. „Das ist als wenn man die rote Fahne vor dem Bullen hin und her wedelt. Oder eher dem Matador, denn du bist viel zu hübsch, um ein Bulle zu sein.“

Lyssa wedelte eine imaginäre rote Flagge hin und her und sprach dann dramatisch leise. „Er ist der Bulle …“ Sie nickte in Richtung des attraktiven Cal Danniger. „… und er hat keine Ahnung, was auf ihn zukommt.“

Chi legte einen Arm um Rosies Nacken und zog sie zu sich, um in einer leisen Stimme zu sagen: „Vielleicht solltest du deine Flagge auch mal vor dem Objekt deiner Begierde wedeln.“

„Meine Flagge oder meinen Hintern?“ Obwohl er den Tisch mit Lichtgeschwindigkeit verlassen hatte, kostete Rosie nach wie vor die Ekstase aus, die sie in Gideons Armen beim Tanzen verspürt hatte, als sie sich gegenseitig gefüttert hatten und als er sie während ihrer Rede berührt hatte.

„Warum nicht beides?“, schlug Chi vor und lachte dabei frech.

„Und was tuschelt Ihr?“ Kelsey stieß mit ihrer Hüfte an Chis, was sie in Rosie schubste.

„Wir suchen uns unsere eigenen Bullen aus.“ Chi lächelte verschmitzt.

„Ohhh, dann schießt mal los.“ Kelsey beugte sich zu Rosie. „Gibt es denn hier einen Typen, den du mit nach Hause nehmen würdest, um den süßen Jorge kennen zu lernen?“

Der DJ änderte just in diesem Moment die Musik und kündigte an, dass nun der Brautstrauß geworfen würde. Es war Rosies Rettung, nicht zugeben zu müssen, dass der Typ Jorge schon kannte und dass Jorge ihn schon längst lieb hatte.

* * *

Gideon stand am Rand neben dem Kreis von Leuten, die um die Tanzfläche herum standen, auf der Ari ihren Strauß hoch hielt. Rosie war mitten im Gedränge zwischen bunt angezogenen Damen. Jorge tanzte aufgeregt um sie herum und sagte ihr wahrscheinlich, dass sie hochspringen musste, um den Strauß zu fangen, weil sie kleiner war als die anderen Frauen.

Sie hatte ihre Hochsteckfrisur gelöst und ihre Locken fielen ihr zart über die Schultern. Gideon verzehrte sich danach, seine Finger durch die Weichheit gleiten zu lassen.

Er verzehrte sich nach vielen Dingen, die er nie haben würde. Und das musste in Ordnung für ihn sein. Er hatte immerhin schon so viel: seine Schwester war wieder in seinem Leben, er hatte einen fantastischen Neffen, einen guten Job, einen tollen Chef und eine gute Firma, für die er arbeitete.

Wenn das doch nur bedeuten würde, dass er aufhören könnte, über die Vergangenheit nachzudenken. Dass er aufhören könnte, ständig die Hölle wieder aufleben zu lassen, die er durchlebt hatte, und sich endlich Rosie annähern könnte, statt nur am Rand ihres Lebens zu stehen.

„Okay, meine Damen“, rief Ari. „Macht euch bereit!“

„Komm schon, Mom, du kriegst ihn.“ Man konnte Jorges Stimme aus der Mitte der ganzen Frauen heraus hören.

Was für ein tolles Kind. Er war nicht schüchtern, er hatte keine Angst vor dem Leben. Er hatte Spaß am Leben, war stolz und wunderbar. Genau wie Noah.

Ari warf den Strauß hoch und wild nach oben, die Blütenblätter regneten auf seinem Flug durch die Luft. Es war ein wahrer Tumult, als die Frauen in ihren hohen Schuhen hochsprangen, um ihn zu fangen.

Gideons Magen zog sich kurz zusammen, als er daran dachte, dass Rosie ihn fangen könnte. Er dachte an die Tradition, dass diejenige, die den Strauß fing, als nächstes heiraten würde. Dass sie endlich ihren perfekten Helden finden würde … und dass er es nicht sein würde. Er sollte sich einen tollen Mann für sie wünschen, jemanden, der für Jorge ein guter Vater sein würde. Aber seine Brust schmerzte, wenn er nur an Rosie mit einem anderen Mann dachte . Seltsamerweise hatte er sie trotz ihrer Schönheit und Intelligenz noch nie mit einem anderen Mann gesehen. Hatte nicht einmal davon gehört, dass sie ein Date hatte. Das Gleiche galt für ihn. Aber seine Gründe waren sicherlich anders als ihre.

Einfach gesagt hatten alle anderen Frauen ihren Reiz verloren, seitdem er sie letztes Jahr kennengelernt hatte.

Am Schluss fing Rosie den Strauß nicht. „Ich kann nicht glauben, dass ich ihn gefangen habe.“ Lyssa Spencer hielt die bunten Blumen von sich weg und sah dabei leicht schockiert aus.

Sie war nicht die einzige, die schockiert aussah, wie Gideon feststellte. Alle fünf Mavericks hatten sofort schützende Haltungen angenommen, für den Fall der Fälle, dass irgendein Mann auf der Party es wagen würde, ihre kostbare kleine Schwester anzusprechen. Gideon beneidete den Mann nicht, der versuchte mit Lyssa Spencer auszugehen. Kein vernünftiger Mann würde sich diesem Erschießungskommando stellen wollen.

Gideon stellte sich jeden Tag einem: einem Erschießungskommando voller brutal düsterer Erinnerungen, denen er nie entkommen können würde.

Jorge quetschte sich durch die Ansammlung von Frauen und rannte zu ihm hinüber. „Ich wollte wirklich, dass Mom den Strauß fängt, aber sie ist nicht hoch genug gesprungen. Hast du es gesehen, Gid?“

Rosie kam zu ihnen, bevor er antworten konnte. „Ich hätte den Strauß fangen können, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, dass ich das bräuchte. Aber ich war schon immer der Auffassung, dass die wahre Liebe passiert, wenn es so sein soll, und dass man dann keine göttliche Fügung braucht.“ Ihre Augen glitzerten, als sie ihrem Sohn durch die Haare strich.

Gideon musste von ihrem strahlenden Lächeln wegsehen. Es bot zu viele Dinge, die er nicht haben konnte. Nicht nur ihre Schönheit und ihre angeborene Sinnlichkeit, sondern auch ihren Glauben an die wahre Liebe. Der Glaube war noch in ihrem Herzen vorhanden, obwohl Rosie, wie Ari angedeutet hatte, die Hölle mit Jorges Vater durchlebt hatte.

Auf der Tanzfläche umarmte Ari Lyssa fest, während der Fotograf Bilder davon machte. Der Hochzeitsplaner brachte einen Stuhl und der DJ kündigte an, dass jetzt die Zeit gekommen war, dass Strumpfband zu entfernen.

Rosie erklärte Jorge: „Das ist ein Stück Stoff, das traditionell den Strumpf einer Braut am Bein festhielt. Heute wirft es der Bräutigam den ledigen Männern genauso zu wie die Braut ihren Strauß den Frauen.“

Ari saß auf dem Stuhl, während sich ihr neuer Ehemann vor ihr bückte und ihren Rock hoch hob. „Schicke Turnschuhe“, sagte Matt vor dem gespannten Publikum.

„Danke.“ Sie hob einen Fuß hoch, damit jeder ihre mit Strasssteinen besetzten Nike-Turnschuhe sehen konnte. „Ich wollte einfach sicherstellen, dass ich zum Altar rennen konnte, um in deinen Armen zu liegen.“

Als sie sich küssten, seufzten die Frauen, die Männer klatschten und Jorge rief laut: „Igittigitt“ und zog sein Gesicht mit den Händen runter. Gideon stimmte ihm zu. Er war sich nicht sicher, ob er damit zurecht kam, zuzusehen, wie seine Schwester über und über geküsst wurde, selbst von ihrem Ehemann.

Und als Matt begann, seine Hand auf ihren Beinen in Richtung Strumpfband nach oben zu bewegen, wusste Gideon, dass er seinen Beschützerinstinkt zurückhalten musste, zumindest für heute. Aber das war immerhin seine Schwester, verdammt noch mal.

„Jetzt mach schon, Mann“, rief er mit barscher Stimme.

Rosie griff sofort nach seiner Hand und überschritt damit schon wieder die Grenzen, die er zwischen ihnen gezogen hatte. Es wäre eine Lüge zu sagen, dass ihm das Gefühl ihrer Handfläche gegen seine nicht gefiel, ihre Weichheit, die seine schwielige Haut zart berührte.

„Du machst das toll, großer Bruder“, sagte sie sanft. „Nicht mehr lange.“

Aris Kleid war so hochgezogen, dass man sehen konnte, dass das Strumpfband ein paar Zentimeter über ihrem Knie saß. Als er es sah, begann Matt zu lachen. „Da sind Roboter drauf.“

Ari nickte. „Ich musste jeden einzeln annähen.“

Natürlich begann Matt wieder, sie zu küssen, während beide lachten.

Rosie drückte Gideons Hand, bevor er auf die Bühne stürmen konnte, um sie voneinander wegzuziehen. „Sie passen so gut zusammen“, sagte sie. „Ich liebe es, dass sie immer lachen.“

Sie hatte Recht. Matt würde bis ans Ende der Welt gehen, um dafür zu sorgen, dass Ari nie wieder einen traurigen Tag in ihrem Leben erleben musste. „Als ich im Einsatz war, habe ich nur daran gedacht, dass ich wieder zurückkommen will, um meine Schwester lachen zu sehen.“ Er hatte ohne nachzudenken gesprochen, aus tiefem Herzen.

Es hatte so viele dunkle Tage und Nächte gegeben, in denen er gedacht hatte, er würde nie wieder nach Hause kommen, nie die endlose Hitze und den Sand und den nagenden Hunger verlassen, Ari nie wiederfinden.

Gott sei Dank hatte er es zu ihr zurückgeschafft. Und Gott sei Dank hatte sie einen Mann, eine Familie, einen Freundeskreis gefunden, die sie so glücklich machten.

Während all diese Emotionen durch ihn tobten, hielt Rosie seine Hand, was ihm so viel Liebe und so viel Trost gab. Obwohl er wusste, dass er sie loslassen sollte, konnte er nicht anders, als alles von ihr in sich aufzunehmen. Nur für ein paar kostbare, gestohlene Momente.

Matt zog das Strumpfband mit Schwung vom Bein und hielt es mit einer Siegergeste hoch. Das war Gideons Stichwort, um Rosies Hand loszulassen. Nachdem Matt nun damit fertig war, Aris Bein zu berühren, brauchte Gideon Rosie nicht mehr, um ihn davon abzuhalten, dem Kerl die Hölle heiß zu machen. Aber in ihm tobte ein höllischer Kampf, tatsächlich loszulassen.

„Okay“, sagte der DJ, „alle Single-Männer, kommt her und fangt das Strumpfband.“

Es ging ein Gemurmel durch die Menge, als Männer nach vorne geschubst wurden. Daniel trat in den Kampf ein, bald darauf schlossen sich Sebastian und Evan an.

„Ich hoffe, du hast ein Hochzeitskleid fertig, wenn ich es erwische“, rief Evan Paige zu, die lachte und ihm einen Luftkuss zuwarf.

Rosie drehte sich um, um Gideon anzusehen. „Du bist Single. Solltest du nicht mit den anderen da drüben sein?“

„Ich bin ganz zufrieden hier.“

„Komm schon, Gid.“ Jorge packte Gideons wieder frei gewordene Hand. „Ich gehe, wenn du gehst.“

„Sei kein Spielverderber, Gideon“, neckte Rosie. „Ich hab‘s auch gemacht.“

Gideon hätte sicher wieder protestiert, aber zusätzlich zu Jorges Bitten, begann Noah an seiner anderen Hand zu ziehen. Er musste es für sie tun.

„Wenn ich hoch genug springe“, sagte Noah, „kann ich es vielleicht fangen. Die Roboter sind cool. Ich will sie unbedingt haben.“

„Wenn ich es fange, teilen wir“, bot Jorge an.

„Wenn ich es fange“, sagte Gideon, „gebe ich es euch beiden zum Teilen.“

Jeremy schloss sich ihnen an. „Ich möchte euch helfen, es zu fangen.“ Jeremy ging immer so toll mit den Jungs um.

„Und wenn ich es fange, gebe ich es euch.“ Ein Neuankömmling grinste die Jungs an.

„Onkel Cal!“ Noah klatschte ihn ab.

Gideon hatte Cal Danniger schon ein paar Mal in Daniels Büro getroffen. Er war der Geschäftsleiter der Maverick Group. Gideons Einschätzung nach, war er ein anständiger Kerl – und obendrein noch hochintelligent. Was es mehr als nur ein wenig seltsam machte, dass Daniel ihn gerade durchdringend anstarrte. Was zum Teufel hatte Cal wohl angestellt, um sich Daniels Zorn zuzuziehen?

Mit einem Trommelwirbel des DJs begann Matt seinen Wurf, und Gideon machte sich bereit, das Strumpfband für Noah und Jorge zu fangen. Es segelte ein weites Stück nach links, gerade außerhalb seiner Reichweite, aber glücklicherweise konnte Cal Danniger es aus der Luft schnappen, bevor es an ihm vorbei und in Daniel Spencers offene Handfläche flog.

„Ihr seid die Gewinner, Jungs“, rief Cal, als sie freudig rufend auf- und absprangen und im Kreis herumhüpften.

Cal war gerade dabei, das Strumpfband zu übergeben, als Lyssa mit dem Brautstrauß in der Hand in die Runde trat. „Moment mal.“ Sie hakte sich bei Cal unter. „Wir müssen erst Fotos machen lassen.“ Sie grinste Noah und Jorge an. „Dann gehört es euch, versprochen.“

Es wurde viel gelacht und gutmütig geneckt, als Lyssa auf dem Stuhl Platz nahm, den Ari gerade geräumt hatte. Dann hob sie ihren Rock an und streckte ihr Bein aus, damit Cal ihr die Ehre erweisen konnte, wobei überall um sie herum Kameras blitzten. Nur die fünf Mavericks – allen voran Daniel – sahen nicht glücklich aus. Nicht im Geringsten. Es war eindeutig, dass sie genau wie Gideon den Instinkt hatten, ihre Schwester zu beschützen.

Nachdem Cal das Strumpfband an Lyssas Bein hochgeschoben hatte, jubelte die Menge wieder.

Noahs laute Stimme durchbrach den Applaus. „Aber jetzt, wo es auf ihrem Bein ist, wie bekommen wir es zurück?“

Jorge zuckte mit den Achseln und hielt die Hände in einer Keine-Ahnung-Geste hoch.

Überall wurde gelacht. Nur Daniels Gesicht blieb ungerührt, sein Blick klebte an Cal Dannigers Hand am Strumpfband, als er Lyssa dabei half, es wieder auszuziehen und zu den Kindern zu werfen.

Wenige Sekunden später hielten Noah und Jorge das Strumpfband zwischen sich. „Wird der Kuchen bald angeschnitten?“, fragte Jorge.

Gideon fand es toll, wie schnell und glücklich die Kinder von einer Sache zur nächsten sprangen. Sie schmollten nicht, zerflossen nicht in Selbstmitleid, hegten keinen Groll und wurden nicht von Reue zerfressen.

Er war auch einmal so gewesen.

„Zuerst wird noch mehr getanzt“, sagte Rosie.

„Getanzt?“, stöhnte Noah. „Aber wir sind jetzt bereit für den Kuchen.“

„Ich auch“, sagte sie lachend. „Aber wenn wir feste genug tanzen, vergessen wir vielleicht den Nachtisch für eine Weile.“

Sie war so nah, so liebenswürdig … ihre Wärme überwältigte Gideons Sinne. Bevor er jedes letzte Bisschen Selbstbeherrschung verlor, gelang es ihm, unbemerkt wegzutreten.

„Okay“, hörte er Jorge sagen, „aber nur, wenn Gid auch mit uns tanzt.“ Und einen Augenblick später: „Wo ist Gid?“

Aber Gideon verschmolz mit den Schatten.

Er hatte Rosie heute schon zu oft berührt – und sich von ihr berühren lassen. Er konnte nicht mit ihr tanzen, auch nicht mit den Jungs.

Wenn er sie wieder in seine Arme ziehen würde, wenn er sie festhielte, wenn er seine Augen schloss und seinen Gedanken freien Lauf ließ, würde er sie nie mehr loslassen können.

* * *

Rosie sah wie Gideon sich davonstahl, als er dachte, dass niemand hinsah. Er würde für die Jungs wieder herauskommen, wenn sie ihm nachgingen, aber sie verstand, dass der heutige Tag für ihn sehr wichtig war – Ari zum Altar zu führen, sie zu übergeben, zu lächeln und mit so vielen Fremden plaudern zu müssen.

Also nahm sie die Jungs an den Händen und sagte: „Lasst uns mit Ari und Matt und Chi tanzen. Ich wette, Lyssa und Kelsey werden auch mitmachen.“

Als sie auf der Tanzfläche waren, entdeckte sie Gideon am Rand des Geländes. Er nippte an seinem Bier, das er scheinbar nie zu Ende brachte. Er beobachtete alle. Er versteckte sich. Als ob er nicht verstünde, dass er genauso zur Familie gehörte wie Sebastian oder Will oder Daniel – wo es für Rosie doch so offensichtlich war, dass er dazu gehörte.