KAPITEL ZEHN

Gideon brachte Noah am Sonntagmorgen, dem Tag nach der Hochzeit, in aller Frühe zu Rosie. Sie und Jorge lebten in einem Häuschen im hinteren Teil des Grundstücks einer netten Frau Anfang 70. In den späten 1800er Jahren hatte es als Kutschenhaus fungiert. Es war ein malerisches Häuschen mit einem kleinen Garten dahinter. Es hatte zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche mit Frühstücksecke und somit alles, was sie und Jorge brauchten.

Sie hatte lange und gründlich darüber nachgedacht, was sie tun wollten und wohin der erste Ausflug gehen sollte. Es wäre die sicherere Wahl, irgendwo hinzugehen, wo es laut und geschäftig genug war, dass Gideon nicht zu viel mit ihr interagieren musste. Es gab viele Orte, die dieser Anforderung entsprachen – die Trampolin-Turnhalle würde komplett voll mit Kindern und Eltern sein und das örtliche öffentliche Schwimmbad war in den letzten Sommertagen immer komplett überfüllt. Doch dann hatte Jorge vorgeschlagen, Noah und Gideon an einen ihrer Lieblingsorte zu bringen, an einen Ort, den die meisten Eltern nicht einmal für ein Spieltreffen in Betracht ziehen würden. Chi hatte Recht – auf Nummer sicher zu gehen, war nicht der richtige Zug. Wenn sie beim Überwinden von Gideons Mauern Fortschritte erzielen wollte, wäre der einzige Weg dahin, große Risiken einzugehen. Außerdem fühlte sich Rosie immer besser, wenn sie einige Zeit mit Farben und Pinseln arbeitete. Mit ein wenig Glück würde es Gideon vielleicht auch so gehen.

Jorge und Rosie hatten vereinbart, den Ort so lange wie möglich geheim zu halten. Zum Teil, weil es Spaß machte, Noah und Gideon zu überraschen – aber auch, zumindest was Rosie betraf, um sicherzustellen, dass Gideon keinen Weg finden würde sich aus der Verabredung herauszuwinden.

Deshalb hatte sie Jorge, Noah und Gideon direkt in den Garten geschickt, während sie die vielen Dinge zusammensuchte, die sie für den Tag benötigen würden. Sie hat sogar das Auto gepackt. Tatsächlich war es Gideons SUV, denn ihr winziges Auto war zu klein für alles, was sie brauchen würden.

Sie stand am Küchenfenster und trocknete ihre Hände mit einem Geschirrtuch ab und beobachtete dabei Gideon mit den Kindern. Seine Jeans lagen genau an den richtigen Stellen eng an und ließen ihren Puls bis in die Stratosphäre ausschlagen. Unter seinem T-Shirt spannten sich seine Muskeln an und bewegten sich, als er mit den Jungs Ball spielte. Sie musste sich Luft zufächeln, vor allem, wenn er sich tief bückte, um einen wilden Wurf zu fangen und sich seine Jeans eng über seinen Hintern spannte. Er hatte sich seit gestern nicht mehr rasiert. Ihr gefiel es, wenn er ein paar Stoppeln im Gesicht hatte. Es gefiel ihr so gut, dass sie praktisch spüren konnte, wie seine Barthaare über ihre Haut fuhren. Ihre Hand zitterte, als sie das Geschirrtuch aufhängte, und ihr Atem flatterte ein wenig.

Nachdem die Jungs keine Lust mehr auf das Spiel hatten, schubste er sie auf einer Reifenschaukel an. Ihre ältere Vermieterin hatte ihr erlaubt hatte, sie an den großen Baum zu hängen. Ihre Stimmen drangen durch das geschlossene Fenster. „Höher, Gid, höher.“

In diesem Moment waren seine Augen ozeanblau, und er lächelte das Lächeln, das immer nur die Jungs zu Gesicht bekamen. Wieder einmal sah er so aus, wie sie sich vorstellte, dass er als Teenager ausgesehen haben musste, bevor er in den Irakkrieg gezogen war.

Auch wenn er wohl nie wirklich ein unbeschwerter Teenager gewesen war. Nicht mit der Last einer drogenabhängigen Mutter und einer kleinen Schwester, für die er zu sorgen hatte, auf seinen Schultern.

Niemand hat ein einfaches Leben, dachte Rosie bei sich, als sie das Mittagessen in eine Kühltasche packte. Sie war als Einzelkind in einem verwahrlosten Viertel in einem heruntergekommenen Haus aufgewachsen, das ihre Mutter immer blitzsauber gehalten hatte – sie war so glücklich gewesen. So sorgenfrei. Sie wusste nicht, dass ihr überhaupt etwas fehlte. Wie konnte sie es wissen, wo sie doch die Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Eltern hatte? So viel man als Kind eben bekommen konnte. Als ihre Mutter und ihr Vater sahen, wie gerne sie mit ihren Kreidestücken auf dem Bürgersteig malte, hatten sie das Geld zusammengekratzt, um ihr Pinsel und Farben zu kaufen. Und sie hatten mit ihr Stunden in der Bibliothek verbracht und über großformatigen Kunstbüchern gegrübelt, so begeistert wie sie davon war, von den Werken der alten Meister zu lernen, obwohl keiner von beiden ein leidenschaftliches Interesse an der Kunst hatte. Sie hatten sie an den freien Tagen in die Museen mitgenommen, auch wenn ihre Füße von den langen Tagen sicherlich schmerzten. Sie hatten sie ermutigt, so viel Zeit wie sie wollte damit zu verbringen, ihre Lieblingsbilder eingehend zu studieren.

Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben waren und es keine weiteren Angehörigen im Bundesstaat gab, gab es für die elfjährige Rosie keinen anderen Ort als eine Pflegefamilie. Ihr Leben hatte sich auf eine Art und Weise verändert, die sie sich nie hätte vorstellen können. Sie hatte keine schrecklichen Erfahrungen in ihren Pflegefamilien gemacht, obwohl sie sich nie ganz dazugehörig gefühlt hatte. Dennoch hatte sie immer ihre Erinnerungen an ihre liebevollen Eltern und die Lebenslektionen, die sie von ihnen gelernt hatte: dass man freundlich zu anderen sein und sich selbst treu sein sollte, und natürlich ihre Liebe zur Kunst, die sie gefördert hatten.

Nachdem sie das Mittagessen eingepackt hatte, wischte Rosie den Küchentresen ab. Ihr Haus war ebenfalls makellos, eine Angewohnheit, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte. Und das von ihr zubereitete Mittagessen – Empanadas mit zart gekochtem Rindfleisch – war köstlich. Das Rezept hatte sie an der Seite ihres Vaters gelernt. Er hatte immer gerne gekocht.

Sie war bereit und hielt an den Doppeltüren, die in den Garten führten, inne. Noch eine Minute, um Gideons Lächeln zu beobachten, noch ein weiterer Blick auf den wahren Gideon Jones.

Auch wenn er zeitweise schroff oder verschlossen mit anderen umging – einschließlich ihr selbst – so zeigte ihr doch die Art und Weise, wie er im Beisein der Jungs lächelte, den Mann, der in ihm steckte. Einen Mann, den sie sehr gerne kennenlernen wollte. Wenn er es nur zulassen würde …

Gideon stand mit dem Rücken zu ihr und hätte über die Schreie und das Lachen der Jungen eigentlich nicht hören dürfen, wie sich die Tür öffnete. Doch seine Schultern versteiften sich und noch bevor er sich ihr zuwandte, war sein Lächeln verschwunden und Schatten verdunkelten seine Augen. Offensichtlich war er wieder auf der Hut vor ihr, so wie in den vergangenen neun Monaten.

Nur hatte sie sich gestern auf Aris Hochzeit verändert. Rosie war mit Gideons Ein-Wort-Antworten und ausdruckslosen Blicken nicht mehr zufrieden. Sie wollte das Lächeln, das er den Jungen schenkte. Sie wollte das Glück, das in seinen Augen glühte, wenn er sie ansah. Sie wollte, dass Gideon all das auch mit ihr teilte.

Zumindest wollte sie wissen, dass sie auf jeden Fall eine Freundin war.

„Alles ist fertig“, rief sie. „Wir können jetzt losfahren.“

Gideon half Jorge und Noah, von der Reifenschaukel herunterzuklettern. Dann rannten die Jungs über den kleinen Rasen zu ihr.

„Was ist die Überraschung, Rosie?“, fragte Noah. „Jorge sagt, du hast für heute etwas ganz Tolles geplant. Er wollte es uns nicht sagen, aber du schon, wenn du wolltest.“

Sie lächelte ihn an. „Wenn ich es dir sage, ist es ja keine Überraschung mehr.“

„Weißt du, was es ist, Onkel Gideon?“, fragte Noah.

„Ich weiß nur, dass Rosie weiß, wie man Spaß hat. Ich bin also sicher, dass die Überraschung großartig sein wird.“

Es war eines der nettesten Dinge, die er je über sie gesagt hatte. Rosie leuchtete förmlich, als sie auf ihr Überraschungsziel zusteuerten. Okay, vielleicht waren sie noch nicht offiziell „nur Freunde“ – und sie waren sicherlich nicht „mehr als nur Freunde “, beim besten Willen nicht – aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.

Auf dem Rücksitz plauderten die Jungs über Noahs Videoanruf an diesem Morgen mit Ari und Matt in Island. Sie fragten, was es zum Mittagessen gab, wiesen auf Sehenswürdigkeiten hin und klebten sich an das Fenster auf der Beifahrerseite, als sie am Flintstone-Haus entlang des Highway 280 vorbeifuhren. Das Haus, das aus frei geformten Kuppeln bestand, war schon solange Rosie sich erinnern konnte ein Wahrzeichen. Früher war es lehmfarben gestrichen, jetzt war es dunkelviolett, orange und rostrot.

„Da sind Dinosaurier“, rief Jorge vom Rücksitz aus, als er die riesigen Metallskulpturen betrachtete, die den Hinterhof füllten.

„Schaut mal!“, rief Rosie. „Das ist der Tyrannosaurus Rex von Charlie.“ Sie hatte fast vergessen, dass Charlie ihre Skulptur an die Besitzer des einmaligen Hauses verkauft hatte. „Sieht er nicht toll aus?“ Alle waren sich einig, dass dies eindeutig der Fall war.

Sobald sie in der Stadt waren, sagte sie Gideon, wo er langfahren sollte. Als sie nach Lincoln Park kamen, begann Jorge auf dem Rücksitz auf und ab zu hüpfen. „Mom, kann ich es ihnen jetzt sagen?“

Sie grinste ihn über den Rückspiegel an. „Ja, jetzt wäre gut.“

Sie fuhren den Hügel hinauf und vor ihnen tauchte ein prächtiges klassisches Bauwerk auf. „Die Legion of Honor. Das ist ein Museum“, erklärte Jorge, „mit ganz vielen echt coolen Bildern. Mom und ich kommen ständig hierher, wie sie früher mit ihren Eltern. Und wir gehen auch ins de Young Museum.“

„Erzähl doch Noah und Gideon mal von der besonderen Aktivität, die wir im Museum durchführen“, schlug Rosie vor.

„Wir werden malen!“ Er war unglaublich aufgeregt und saß, gegen seinen Sicherheitsgurt gepresst, auf der Sitzkante. „Es gibt einen Raum, wo man Staffeleien aufstellen und die Gemälde abmalen kann. Dann vergleichen Mom und ich unsere Bilder. Es macht so viel Spaß“, sagte er zu Noah und Gideon. „Es wird euch auch so gut gefallen wie uns!“

„Darf man wirklich berühmte Gemälde abmalen?“ fragte Noah.

„Ja. Das ist kein Diebstahl oder so. Man albert nur herum und tut so, als wäre man ein berühmter Maler. Obwohl Mom gar nicht so tun muss, denn ihre Bilder sind so toll, dass sie wirklich berühmt werden könnte, wenn sie wollte:“

Als Gideon auf dem letzten freien Platz in der runden Einfahrt parkte, sagte er endlich etwas: „Ich wusste nicht, dass du gerne malst.“

„Es ist nur ein Hobby.“ Einmal, vor langer Zeit, hatte sie davon geträumt, ihre Bilder in Galerien hängen zu sehen. Damals, als die Malerei alles war, woran sie dachte, alles, wonach sie sich sehnte. Bis sie schwanger wurde und sich alles änderte. Dennoch war Jorges Glaube an ihre künstlerischen Fähigkeiten rührend.

„Während ich meine Buchhaltungskurse am College belegt habe…“, mit Buchhaltung konnte sie ihre Rechnungen bezahlen, „… habe ich auch so viele Maltechnik- und Kunstgeschichtskurse belegt, wie ich in meinen Stundenplan hineinquetschen konnte.“ Es machte sie überglücklich, dass Jorge die Kunst so sehr liebte wie sie selbst. „Jorges Zeichnungen sind toll. Wenn du das nächste Mal bei mir daheim bist, zeige ich sie dir.“ Sie hätte es heute getan, aber sie wollte nicht versehentlich ihr geheimes Ziel oder die Tatsache verraten, dass sie geplant hatte, dass heute alle malen würden.

„Werden Gideon und ich euch nur beim Malen zusehen?“, fragte Noah mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Es war eindeutig, dass ihm diese Idee nicht gefiel.

„Auf keinen Fall“, sagte sie zu Noah. „Wir alle werden malen.“ Sie lächelte Gideon an und versuchte, angesichts seiner Reaktion die Nerven zu bewahren. Die Chancen standen schlechter als 50:50, dass er es völlig bereuen würde, ihrem Spieltreffen zugestimmt zu haben, insbesondere als sie hinzufügte: „Auch du, Gideon.“

Wie erwartet, sah er mehr als nur ein wenig geschockt aus. Trotz ihrer zitternden Nerven benahm sie sich gelassen und ruhig, als sie aus dem SUV ausstieg und den Kofferraum öffnete. Gideons Kompassnadel zeigte definitiv Richtung Bedauern .

„Unsere Staffeleien. Juhu!“ Jorge hüpfte in die Luft und Noah tat es ihm natürlich gleich. Sie waren wahre Kumpels. Was immer den einen in Aufregung versetzte, versetzte auch den anderen in Aufregung.

Nur Gideon schwieg, als er ihr half, die Skizzenblöcke und Staffeleien herauszuholen, die sich auf die Größe von Rucksäcken zusammenfalten ließen.

Nachdem sie alles zusammengesammelt hatten, einschließlich Farbpaletten und Pinsel, überquerten sie die Straße und marschierten den langen, breiten Weg durch die zentralen Säulen und weiter zu Rodins berühmter Skulptur, dem Denker , entlang. Rosie machte ein Dutzend Fotos von den Jungs, die die Pose nachahmten, und dann vor der Miniaturnachbildung der Louvre-Pyramide in der Mitte des Hofes. Während der ganzen Zeit blieb Gideon ein paar Meter hinter ihnen, seine Kompassnadel zeigte immer stärker in Richtung Bedauern .

Als sie durch den Ticketschalter gingen, winkte ihr ihre liebste Museumsführerin. „Hey, Cherise“, rief Rosie.

„Schön, dich zu sehen, Süße.“ Cherise war Mitte sechzig und schon Museumsführerin gewesen, als Rosie mit ihren Eltern hierher kam. „Du hast Freunde dabei.“ Sie musterte Gideons beeindruckende Gestalt von oben bis unten und hielt mit ihrer eindeutigen Anerkennung seiner Form nicht hinter dem Berg. „Wie schön. Du weißt, wie sehr unsere Besucher es lieben, Künstler bei der Arbeit zu sehen.“

Nachdem sie an ihr vorbeigegangen waren, sprach Gideon schließlich wieder. „Die Leute werden unsere Bilder sehen?“ Sein Tonfall hatte einen Hauch Panik.

Bevor Rosie antworten konnte, sagte Jorge: „Ich mag es, wenn die Leute unsere Bilder anschauen. Sie sagen immer nette Dinge über sie, darüber, wie talentiert ich und Mom sind. Ich wette, Ihr bekommt auch viele Komplimente.“

Gideon schien nicht überzeugt, nicht einmal von Jorges enthusiastischer Reaktion. Rosie hätte die Wogen glätten können, indem sie ihm gesagt hätte, dass das Treffen nur für die Jungs sei und dass er nur seinen Pinsel auf das Papier tupfen und so tun müsse, als ob er malte. Aber sie hatte sich bereits entschieden, ihn nicht mehr mit Samthandschuhen anzufassen – auch wenn er offensichtlich überhaupt nicht von der Malerei begeistert war. Außerdem hoffte ein Teil von ihr immer noch, dass er sich darauf einlassen würde, anstatt sich zurückzuhalten, wie er es normalerweise tat.

Es waren schon verrücktere Dinge passiert.

Als sie die Gruppe in den letzten Raum führte, in dem die Impressionisten untergebracht waren, hatte sie bei jedem der Bilder das Gefühl, zu guten Freunden nach Hause gekommen zu sein. „Ich liebe Die russische Braut im Hochzeitsgewand . Und die von Renoir und Anthony van Dyck auch. Diese Bilder, sie geben mir so ein Gefühl …“ Sie atmete tief ein, als könne sie ihre Essenz aus der Raumluft herausziehen. „Ein erstaunliches Gefühl. Auch nach all den Malen, die ich hier gewesen bin, kann ich immer noch kaum glauben, dass dieses Museum Van Gogh und Manet und Monet und Salvador Dali und Degas ausstellt. Dass ich nicht nach Frankreich oder Spanien reisen muss, um sie zu sehen.“ Sie wandte sich an Gideon. „Wusstest du, dass van Gogh die meisten seiner ursprünglichen Gemälde zerstört hat, weil er dachte, sie seien nicht gut genug?“ Sie schüttelte den Kopf. „Stell dir vor, es gäbe diese Bilder noch. Nicht, weil sie so viel wert wären, sondern weil sie sicherlich wunderschön wären.“

Jorge zog am Saum ihres T-Shirts. „Ich will den Salvador Dali malen, Mom.“

„Der Dali klingt toll, Schatz.“ Sie wandte sich an Gideon. „Aber wie wäre es, wenn du zusammen mit Noah Monets Seerosen probierst? Sie gehören zu meinen Favoriten. Fast jeder mag sie.“

„Monet war der Lieblingsmaler meiner Mutter“, sagte Gideon. „Sie hatte ein Buch über die Seerosen als ich klein war.“

Jetzt war Rosie plötzlich völlig erstaunt. Nachdem er sich am Malen in der Öffentlichkeit gestört hatte, hatte sie am allerwenigsten erwartet, dass er sich ihr gegenüber in irgendeiner Weise öffnen würde.

Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. „Es gibt einen Grund dafür, dass die Malereien der Seerosen in seinem Garten in Frankreich weltweit so beliebt sind – sie sind zweifellos schön, in jeder Jahreszeit.“ Als er nichts mehr über seine Mutter sagte, bot sie ihm an: „Ich helfe euch beiden, euch einzurichten.“

Obwohl er sich bei ihr bedankte, wusste sie, dass das Malen in einer Galerie das Letzte war, was er in seiner Freizeit tun würde. Wären die Jungs nicht dabei gewesen, wäre er vermutlich aus dem Museum heraus und zurück zum SUV gesprintet.

Nachdem sie die Staffeleien von Noah und Gideon sowie Skizzenblöcke und Paletten aufgestellt hatte, brachte sie Jorge in Fahrt. Ihr Sohn arbeitete gerne mit Buntstiften, manchmal auch mit Kohle. Er begann oft an der Staffelei, ging dann auf eine Bank und arbeitete mit seinem Skizzenblock auf dem Schoß.

Sie stellte ihre Staffelei so auf, dass sie Noah und Gideon sehen konnte, ohne dass es offensichtlich war, dass sie die beiden beobachtete.

Jorge rannte hinüber und flüsterte Noah etwas ins Ohr, als sein Freund große, farbige Striche über seinen Block machte.

Als Jorge zurückrannte, erinnerte sie ihn daran: „Langsam, mein Schatz. Sei respektvoll.“

„Tut mir leid, Mom.“

Aber seine Aufregung war ansteckend. Sie wollte zu Gideon rennen, ihm etwas ins Ohr flüstern, als er seinen Pinsel in die Hand nahm und das Papier, gefolgt von den Farben, ansah. Er stand so lange da und bewegte sich nicht, dass sie dachte, er würde es doch nicht tun. Dass er vielleicht einfach wegging.

Bis er plötzlich nach einem Pinsel griff und anfing, Farbe auf den Block zu spritzen.

Das Museum war für einen Sonntag überraschend leer. Das lag vermutlich daran, dass draußen herrliches Wetter war. Gelegentlich hielten die Besucher an, um ihnen beim Malen zuzusehen, bevor sie weitergingen. Aber die Person, die die meiste Aufmerksamkeit erhielt, war Gideon. Und Rosie wusste genau, warum.

Obwohl er eindeutig keine künstlerische Ausbildung hatte, schienen sowohl Gideon als auch seine Malerei vom ersten Pinselstrich über das Papier an vor Energie zu vibrieren.

Zuerst verwendete er die gleichen Farben wie die Seerosen – Blau und Grün, ein wenig Violett, ein wenig Rot. Aber als er weiter malte, wurden die Farben immer dunkler und überdeckten die helleren Töne, mit denen er begonnen hatte, bis sein Bild keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem ursprünglichen Monet hatte.

Doch in jedem Tropfen Farbe steckte etwas so Tiefgründiges, Herzzerreißendes, als ob die Blumen, die er malen wollte, direkt vor seinen Augen starben. Er wirbelte Schmerz und Kummer und Wut und Reue über das Papier. Seine Hand blitzte, strich, stürzte über den Bogen des Skizzenblocks, die Farben vermischten sich, bluteten, verliefen.

Er bewegte sich wie in Trance, als würde alles ohne bewusste Anstrengung aus ihm herauskommen. Er weihte das Bild mit reinen, ungezügelten Emotionen.

Und was er schuf war erstaunlich .

* * *

Farbschläge flogen über Gideons Vision, flammendes Rot und brennende Orangetöne, dazu intensives Gelb über dunkles, blutunterlaufenes Blau und schuldbeladenes Braun und heulendes Schwarz. Und aus dem Farbwirbel erhoben sich die Gesichter von Hank Garrett … Jonny Danzi … Ralph Esterhausen … Ralphs Frau und Kinder … Und Karmen. Die loyale, engagierte Karmen, die von vornherein nicht hätte dabei sein sollen.

Gideons Team.

Gideons Verantwortung.

Gideons Versagen.

„Onkel Gideon.“ Noah griff nach seiner freien Hand. „Komm und schau dir an, was ich gemacht habe!“

Gideon blinzelte. Einmal, dann noch einmal. Bis die Gesichter, das Feuer, verschwunden waren und nichts mehr da war als noch rote, orange und gelbe Farbkleckse auf einem blauen, braunen und schwarzen Hintergrund.

Dennoch spürte er immer noch das Grauen. Und er konnte die Schreie noch immer hören.

„Onkel Gideon!“ Noah zog fester an seiner Hand.

Die beharrliche Stimme seines Neffen half ihm, seine zerbrochenen Teile wieder zusammen zu setzen, zumindest lange genug, um sich auf das zu konzentrieren, was Noah sagte. „Hey, Kleiner, was gibt’s?“

„Komm und schau dir mein Bild an. Es wird dir wirklich gefallen.“ Noahs Gesicht, seine Hände und seine Kleidung waren über und über mit Farbe beschmiert. „Dein Bild ist auch super cool!“, sagte er mit einem riesigen Lächeln im Gesicht.

Gideon bewegte sich, seine Glieder fühlten sich gummiartig an und bewegten sich ruckartig, als müssten sie neu lernen, wie sie funktionieren. Langsam kehrte er ins Hier und Jetzt zurück – in das gut beleuchtete Museum, auf den kühlen, glatten Boden unter seinen Füßen, zu den cremefarbenen Wänden voller Meisterwerke. Und vor allem zu Noah, der erwartungsvoll auf eine Antwort auf sein Bild wartete.

„Echt cool, Kleiner.“ Die Arbeit seines Neffen war wirklich gut und die im Wasser schwimmenden Seerosen waren klar und deutlich sichtbar. Doch Gideons Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, das rau in seinem Hals steckte. Er legte seine Hand auf Noahs Schulter und drückte sie. „Du machst das wirklich großartig. Genau wie ich es erwartet hatte. Willst du noch etwas anderes malen?“ Obwohl er einen großen Teil der letzten zehn Jahre hauptsächlich still verbracht hatte und normalerweise nur sprach, wenn er angesprochen wurde, musste er heute mehr reden, um die Explosionen in seinem Kopf zu übertönen. „Wir könnten den Van Gogh oder den Manet machen, wenn du willst.“

Noah schüttelte den Kopf. „Nein, ich helfe Jorge bei seinem. Bis gleich!“

Sein Neffe raste davon und ließ Gideon mit Rosie allein. Und mit dem Grauen, das er gemalt hatte. Die Schreckenstat, das Blut und die Eingeweide und die Schuld und die Angst und der Schmerz, die er auf der ganzen Seite vergossen hatte.

Sie stand vor seiner Staffelei und studierte seine Malerei mit intensiver Konzentration. „Es ist fantastisch, Gideon.“

Da wusste er, dass sie alles sah. Alles, was er so dringend in seinem Inneren versucht hatte, zu verbergen. All die Dinge, die er nie jemand anderem gezeigt hatte, nicht einmal Ari.

Nur Rosie hatte jemals klar erkennen können, aus welcher Hölle er zurückgekehrt war. Nur Rosie hatte die Dunkelheit je wirklich gesehen, die an ihm nagte. Die Dunkelheit, die immer da sein würde – bestehend aus Schuld und Bedauern und Kummer und dem verzweifelten Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, um diesmal alles richtig zu machen. Ein verzweifelter Wunsch, der nie wahr werden könnte.

Rosie nannte seine Malerei fantastisch , aber sie war nur nett. Denn so war Rosie, eine der nettesten und liebsten Frauen, die er je kennen gelernt hatte.

Er verdiente ihre Freundlichkeit nicht. Nicht nach all dem Schmerz, den er so vielen Menschen zugefügt hatte.

Beschämt über alles, was er auf der Staffelei losgelassen hatte – die Tiefe der Dunkelheit im Inneren, die nun in dicker Farbe auf Papier gespritzt war, verblüffte selbst ihn –, griff er an ihr vorbei und riss das Blatt ab. Er wollte es in eine Million kleine Stücke reißen. Bevor die Jungs zu lange darauf starren und den wahren Horror erkennen konnten. Bevor Rosie einen genaueren Blick darauf werfen und sehen konnte, wie düster Gideons Erinnerungen wirklich waren.

Aber Rosie hielt ihn auf. „Nein.“ Sie legte ihre Hände über seine. „Ich lasse Jorge nie seine Bilder zerreißen. Ich habe ihm schon ein Dutzend Mal gesagt, dass alles, was er schafft, gut ist – ob technisch perfekt oder nicht, ob einfach oder kompliziert, ob es an der Oberfläche bleibt oder in die Tiefe geht. Ganz besonders dann. Und das sage ich dir jetzt auch, Gideon. Was du geschaffen hast, ist gut. Ich lasse nicht zu, dass du es zerstörst.“

Die jahrelange Erziehung eines willensstarken, kleinen Jungen hatten ihr einen festen Griff verschafft, fest genug, um ihm das Bild wegzunehmen, bevor er sie aufhalten konnte. Obwohl es noch nicht getrocknet war, rollte sie es zusammen und schob es in eine der mitgebrachten Pappröhren.

Sein Inneres schrie danach, es zurückzubekommen. Aber er bewegte sich nicht.

Jorge rannte zu ihnen. „Mama, ich bin am Verhungern .“

Und als hätte sie nicht gerade Gideons Bild aus seinen Händen reißen müssen, lächelte sie ihren Sohn an und sagte: „Ich auch. Lasst uns jetzt zusammenpacken und uns auf dem Rasen vor dem Gebäude unser Picknick machen.“