Sie überließ es ihm, die Jungs in die zwei Einzelbetten in Jorges Zimmer zu verfrachten, während sie den Wein öffnete. Jorges Wände waren von Bücherregalen umrahmt, die eine erstaunliche Bibliothek für einen Sechsjährigen beherbergten. Wie Noah war er eine unersättliche Leseratte. Jorges Leidenschaften waren ganz offensichtlich Lesen, Lego und der Bau von Städten in Noahs riesigem Sandkasten. Aber vor allen Dingen war es Kunst.
Genau wie bei seiner schönen, talentierten Mutter.
„Sind das alles deine Zeichnungen?“, fragte Gideon Jorge. Die Wände waren von oben bis unten damit tapeziert.
„Ja“, sagte Jorge stolz.
„Die sind gut.“ Wirklich gut. Als hätte sie ein Erwachsener gemalt.
„Danke.“ Der Junge strahlte vor Stolz.
„Ihr seid beide so talentiert“, sagte er. „Du mit deinen erstaunlichen Lego-Kreationen und Sandkastenbauten, Noah. Und du, Jorge, mit deinen Bildern.“
„Hat dir mein Bild nicht gefallen?“, fragte Noah.
„Aber klar doch, Kleiner. Ich werde es in meinem Büro an die Wand hängen.“ Obwohl Gideon die meiste Zeit des Tages unterwegs war, hatte er dennoch ein Büro am Stammsitz von Top Notch, das mit Bildern von Ari und Noah gespickt war. Wenn er zufällig ein bisschen zu lange und oft auf die Bilder starrte, auf denen Rosie abgebildet war – als eine von Aris besten Freunden war es unvermeidlich, dass sie auf Fotos war – nun, davon musste ja niemand erfahren. Am wenigsten die Frau, die gleich mit ihm im Wohnzimmer ein Glas Wein trinken wollte. „Tatsächlich werde ich dein Bild direkt neben das Lego-Raumschiff stellen, das du mir gebaut hast“, sagte er zu Noah.
„Du kannst auch eine meiner Zeichnungen haben, Gideon“, sagte Jorge mit hoffnungsvoller Stimme.
„Wow, danke. Jeder wird in meinem Büro arbeiten wollen.“ Er senkte seine Stimme. „Aber jetzt ab ins Bett mit euch beiden.“
Er gab ihnen jeweils einen Kuss, zog ihnen die Decke bis zum Kinn hoch und begann dann mit den Verhandlungen über das Vorleseprogramm.
Sie erwägten eines der Horrid Henry-Bücher von Francesca Simon oder eines der Boxcar Children- Bücher, aber am Ende waren sich Jorge und Noah einig, dass die Geschichte, die sie am liebsten lesen wollten, eines der Bücher aus der Reihe Das Magische Baumhaus von Mary Pope Osborne war.
Der Revolutionskrieg am Mittwoch spielte in der Kolonialzeit, als General George Washington gerade dabei war, seine Armee zu einem heimlichen Angriff zu führen.
Gideon setzte sich auf die Bettkante von Noahs Bett, öffnete das Buch und begann laut zu lesen.
Noah lehnte sich an seine Seite und sah sich die Bilder an. „Schau mal was die für komische Klamotten anhaben.“
„So war man damals, während des Revolutionskrieges, gekleidet“, sagte Gideon.
Natürlich musste Jorge aus dem Bett klettern, um auch mitzuschauen, sodass Gideon auf jeder Seite einen Jungen an sich geschmiegt hatte.
„Du warst in einem Krieg, nicht wahr, Onkel Gideon?“ Noah blickte ihn mit seinen unschuldigen Kinderaugen an.
„Ja, das war ich. Im Irak, im Nahen Osten.“
„Ich weiß, wo das ist“, sagte Jorge. „Wir hatten letztes Jahr eine ganz große Karte in unserem Klassenzimmer. Da haben wir alles über die Kontinente und so weiter gelernt.“
Als Gideon weiter laut vorlas, sprangen die Figuren aus dem magischen Baumhaus in die beißende Kälte eines Dezembers in Pennsylvania.
„War es so kalt, wo du warst?“, wollte Noah wissen.
„Nein. Es war heiß“, sagte er. „Wirklich heiß. Und sandig. Staubig. Der Schmutz war einfach überall.“ Er lehnte sich nah heran und sagte: „Sogar in der Unterhose.“
Sie kicherten zusammen.
„Man gewöhnt sich daran.“ Er zuckte mit den Achseln. „Man kann sich an alles gewöhnen.“ Am Ende hatte er den Staub und den Schmutz kaum mehr bemerkt. Erst als er wieder zu Hause war und sich nicht mehr den Sand aus seiner Kleidung und seinen Poren herauswaschen musste, bemerkte er den Unterschied wieder.
Sie widmeten sich wieder der Geschichte von Annie und Jack. Die Figuren trafen auf ein Regiment von patriotischen Soldaten in zerlumpter Kleidung, einige von ihnen hatten nicht mal Stiefel an den Füßen, nur Lumpen.
„Hattest du Stiefel, Gid, als du dort drüben warst?“ Sorge klang in Jorges Stimme mit, als hätte er Angst, dass Gideon barfuß durch den heißen Sand marschiert sei.
Gideon unterdrückte ein Lächeln. „Ja, Kleiner, wir hatten Stiefel. Wir hatten alles, was wir zum Überleben brauchten. Du würdest staunen, was man alles in einem Rucksack verstauen kann. Der war dann schwer, aber dein Rucksack ist dein Lebensretter.“ Seine Ausrüstung hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet.
„Können wir deinen Rucksack mal sehen?“, fragte Noah mit Aufregung in seiner Stimme.
„Ich würde ihn euch zeigen.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich habe ihn nicht mehr.“
„Schade“, sagten sie beide.
Er brachte sie weiter in der Geschichte, zu den Truppen am Ufer des Delaware.
„Musstest du die Kanonen so schieben, wie die im Buch?“ Jorge lehnte sich zurück und schaute zu ihm hoch.
Gideon lachte dieses Mal laut auf. „Wir hatten Lastwagen, um die Artillerie zu transportieren. Und wir hatten Sturmgewehre anstelle von Musketen. Aber wir mussten sie nicht oft benutzen. Meistens waren wir auf Patrouille oder hatten Dienst auf dem Wachturm oder wir haben den Dorfbewohnern geholfen. Und wir hatten unseren Spaß auf dem Stützpunkt.“
Erst als die Worte aus seinem Mund kamen, wurde ihm klar, was er gesagt hatte. Immer wenn er zurückblickte, war es, als hätte es jeden Tag ein Feuergefecht gegeben, als hätte jeden Tag ihr Leben auf dem Spiel gestanden, als wäre an jedem Tag eine improvisierte Bombe explodiert. Aber vielleicht hatte ihm sein Gedächtnis einen Streich gespielt. Denn obwohl er immer angespannt gewesen war und all seine Sinne geschärft waren – weil verdammt nochmal jeder da drüben bewaffnet war – war in Wirklichkeit die meiste Zeit nichts passiert.
Tatsächlich erinnerte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an die Streiche, die er und sein Kumpel Zach einigen der anderen gespielt hatten. Er erinnerte sich an die Kartenspiele und das Herumalbern mit seinen Kumpels in der kleinen Auszeit, die sie ab und zu hatten.
Die Jungs und ihre Fragen ließen ihn zum ersten Mal seit Ewigkeiten über die guten Dinge nachdenken, nicht nur über die schlechten.
Er küsste Noah auf den Kopf, dann Jorge, dann las er weiter über Jack und Annie, die in George Washingtons Boot festsaßen, das gerade den Delaware überqueren sollte. Als ihre Fragen endlich aufhörten, bemerkte er schließlich, dass die Augenlider der Jungen schwer geworden waren.
Er half Jorge zurück in sein eigenes Bett, küsste ihn ein letztes Mal und beugte sich dann vor, um Noah zuzudecken. Erst als er das Buch wieder auf das Bücherregal stellte, bemerkte er, dass Rosie mit je einem Weinglas in jeder Hand in der Tür stand.
„Du bist ein sehr überzeugender Vorleser“, sagte sie leise. Und dann: „Du kannst die hier mit ins Wohnzimmer nehmen, während ich selbst ein paar Küsse verteile.“
Er musste hart daran arbeiten, seine verzweifelte Sehnsucht nach Küssen von ihr zu ignorieren, als er beide Gläser nahm. Seine Finger streiften ihre, ihre beider Körper waren eng beieinander, weil der Flur so schmal war, und ihr Duft machte seine Knie schwach.
Das leise Murmeln ihrer Stimmen drang in das kleine Wohnzimmer, als er die Gläser auf den Couchtisch stellte. Er beschloss, das Buch für seinen Kindle zu kaufen, damit er und Noah weiterlesen konnten und es für Übernachtungen zur Verfügung stand. Die Geschichte war gut für die Jungs gewesen. Und ehrlich gesagt, war sie auch gut für ihn gewesen. Er hatte nie darüber gesprochen, wie der Krieg gewesen war. Aber die Fragen der Jungs zu beantworten, hatte ihn dazu gebracht, seine Erfahrungen zu überdenken. Vielleicht war das gar nicht so schlecht.
Heute Morgen, vor ihrem Museumsausflug, war er direkt in den Garten gegangen und hatte nicht die Möglichkeit gehabt, viel vom Häuschen zu sehen. Nun stellte er fest, dass die Wohnzimmerwände mit Jorges Zeichnungen bedeckt waren, einige davon gerahmt, andere an den Putz geheftet.
Aber Jorges Bilder waren nicht die einzigen, die dort hingen. Auch Rosies hingen hier.
Von dem, was er heute auf ihrer Staffelei im Museum gesehen hatte, wusste er, dass sie künstlerische Fähigkeiten besaß. Doch nun erkannte er, wie tief ihr Talent wirklich war.
Sie arbeitete mit Dispersionsfarbe, Acryl, Öl und einigen wenigen Aquarellen. Sie bevorzugte Gesichter und Landschaften. Es gab eine Serie, die in einem Hafen entstanden war, von dem er dachte, er könnte in der Nähe von Santa Cruz sein. Es gab Bilder von Jorge und Noah, Ari und Matt und ihrer Freundin Chi. Rosie hatte auch ihrer Fantasie freien Lauf gelassen mit Darstellungen von Jorge als jungem Mann und Ari als alter Frau. Aber es war das Bild eines Mannes, der einer Gruppe von Menschen beim Lachen zuschaute, das Gideon wirklich ins Auge fiel. Obwohl der Betrachter den Ausdruck des Mannes nicht klar erkennen konnte, sah er aus wie ein Mann auf einer Insel, der vergessen hatte, wie man lacht, wie man sich amüsiert.
Es war fast so, als hätte sie ihn gemalt.
Unabhängig davon, wer Rosies Motive waren, konnte er bei jedem einzelnen Gemälde sehen, wie sie das Leben sah. Das Bild von Ari in hohem Alter war keine Darstellung des Verfalls gewesen, sondern zeigte eine Frau, die ein langes, interessantes Leben gelebt und jede Sekunde davon genossen hatte. Ihre Darstellung von Jorge als Mann zeigte einen jungen Mann mit Hoffnung im Herzen.
Schließlich schloss sich die Tür zum Zimmer der Jungen, und ihre Schritte bewegten sich durch den Flur. „Ich geb den beiden noch zehn Minuten Flüstern und Kichern, dann werden sie beide wegnicken.“ Sie nahm ein Weinglas vom Couchtisch, das mit den weichen Lippenstiftspuren am Rand, und reichte ihm das andere, wobei sie ihr Glas an seins stieß. Sie nickte in Richtung der Wohnzimmergalerie. „Jorges Bilder sind großartig, nicht wahr?“
„Das sind sie.“ In ihrer Gegenwart war er immer so vorsichtig mit seinen Worten. Wehe er sagte mehr, als beabsichtigt. Zum Beispiel, wie sehr er sie wollte. Oder wie er nicht aufhören konnte, an sie zu denken. Aber er wollte ihr etwas Wichtiges sagen. „Du hast ein enormes Talent. Warum bist du Buchhalterin und nicht Vollzeitkünstlerin?“
Sie kuschelte sich am Ende des Sofas ein. „Zunächst einmal, danke. Zweitens, ich mag Zahlen. Die Arbeit als Buchhalterin ermöglicht es mir, mir die Dinge zu leisten, die Jorge und ich brauchen, um in der Bay Area leben zu können.“
Er hatte großen Respekt vor allem, was Rosie erreicht hatte – nicht nur, dass sie ihren Sohn großartig erzogen hatte, sie sparte auch für Jorges Kunstunterricht und einen Ausflug in den Louvre. Gideon hatte bereits eine Menge Geld, das er gerne verwenden würde, um ihr zu helfen. Er hatte alle Boni gespart, die er für seine weitere Verpflichtung in der Army bekommen hatte. Einiges hatte er auch gut investiert und während er durch das Land von Baustelle zu Baustelle getingelt war, hatte er nicht viel ausgegeben. Er hatte für Ari gespart, in der Hoffnung, dass er sie eines Tages finden würde. Als er seine Schwester dann gefunden hatte, hatte sie sein Geld nicht mehr gebraucht. Selbst die Hochzeit hatte seine Ersparnisse nicht sonderlich beansprucht.
Er hatte weit mehr als genug, um den Kunstunterricht zu bezahlen. Und er könnte ihnen auch Flugtickets nach Paris kaufen. Wenn ihm nur eine Möglichkeit einfallen würde, ihr das Angebot zu machen, ohne dass es als Almosen angesehen würde, was es definitiv nicht war.
Aber sein Hirn war so verwirrt von diesem Tag, an dem er sie so oft angesehen, sich nach ihr gesehnt, ihren verlockenden Duft eingeatmet und ihr Lachen beobachtet hatte, dass ihm nur noch Folgendes einfiel: „Mir scheint, wenn du den Buchhaltungsjob aufgeben und nur noch malen würdest, hättest du hier ein Vermögen.“ Er deutete auf die Wände des Wohnzimmers.
Sie schüttelte den Kopf. „Hast du eine Ahnung, wie viele Künstler es da draußen gibt, die am Hungertuch nagen? Jorge braucht die Stabilität, die ich ihm durch eine gute, feste Arbeit geben kann. Er ist meine oberste Priorität.“
Alles drehte sich um Jorge, und er sah immer wieder, was für eine erstaunliche Mutter sie war. Wenn die Jungen rannten, wenn sie hätten gehen sollen, oder kurz davor standen, eine schlechte Entscheidung zu treffen, schimpfte sie nicht, sie korrigierte. Sie baute ihre zerbrechlichen Klein-Jungs-Egos auf und machte sie nie runter.
Auf die selbe Art und Weise, wie sie ihn nicht runter gemacht hatte, trotz dessen, was sie in seinem Bild gesehen hatte und seinem völligen Kontrollverlust, als er dabei war, es zu zerreißen.
Er hatte Rosie immer als unbesiegbar angesehen. Aber jetzt erkannte er, dass sie jemanden brauchte, der sie aufbaute.
„Du weißt wirklich nicht, wie gut du bist, oder?“ Er setzte sich neben sie, weil er nicht über ihr stehen wollte, als ob er einen Vortrag halten würde. Nun saß sie so dicht neben ihm auf dem Zweisitzer, dass der Duft ihrer Haare eine Million Mal berauschender war als der Wein. Es ließ etwas in ihm geschehen. Es weckte Bedürfnisse. Den Wunsch, sie zu berühren, zu küssen, in seinen Armen zu halten. Unmögliche Dinge. Er musste sich auf ihre Kunst konzentrieren, sonst nichts. „Hast du Ari gebeten, deine Arbeit Charlie und Sebastian zu zeigen?“ Die beiden waren ebenfalls Künstler. Sie würden wissen, welche Galerien in Frage kämen.
Rosie bewegte sich unruhig auf der Couch, streckte die Beine aus, drehte sich um und setzte sich wieder darauf. „Nein. Ari ist genauso pragmatisch wie ich. Sie weiß, dass die Buchhaltung der beste Weg ist, alle Rechnungen zu bezahlen.“
Rosie hatte nichts für Ausreden übrig. Aber dies hier klang nach einer. Er fragte sich, wie er an eines ihrer Bilder kommen konnte. Er könnte es dann Daniel geben, der es Charlie und Sebastian zeigen könnte. Sie würden ihr sicher zu verstehen geben, wie erstaunlich sie war.
Aber selbst während er darüber nachdachte, wusste er, dass er sie nicht so hintergehen konnte. Genauso wenig konnte er ihr das Geld für den Kunstunterricht von Jorge geben. Rosie hatte ihr eigenes Leben sehr gut in der Hand – sie brauchte keinen Versager wie ihn, der mit Ratschlägen und Almosen einsprang.
„Wo wir es gerade von erstaunlich haben“, sagte sie sanft, „das Bild, das du heute gemalt hast, war so emotional, so herzzerreißend. Es hat mich wirklich bewegt.“
Jeder Muskel in seinem Körper versteifte sich. Jeder Knochen fühlte sich an, als könnte er gleich brechen.
Plötzlich war er wieder im Museum und klatschte wie ein Verrückter Farbe auf das Papier. Dann war er noch weiter zurück – im Irak. Gefangen im Feuer und im Schmerz. Er sah die Gesichter seiner Männer. Er sah den Tod.
Er sah Karmen ein letztes Mal.
Und diese merkwürdige Leichtigkeit, die er empfand, als er mit den Jungen gesprochen und ihre Fragen beantwortet hatte, als sie das Buch lasen? Sie brach unter der Last dieser eindringlichen Erinnerung zusammen.
„Ich muss jetzt gehen.“ Er hätte fast den Wein verschüttet, als er versuchte, das Glas auf den Tisch zu stellen.
Sie lehnte sich nach vorne und streckte die Hand aus. „Aber …“
Er gab ihr keine Chance, den Satz zu beenden. Oder ihn zu berühren. „Es ist schon spät.“
Es war schon zu spät für ihn, um mit jemandem zusammen zu sein, der so lieb und wunderbar war wie Rosie. Nicht nach alldem, was er gesehen hatte. Nach alldem, was er getan hatte.
Er war schon fast zur Tür hinaus, als sie wieder sprach. „Das Trampolinspringen morgen steht aber noch?“
Er hatte fast vergessen, dass sie den Jungen einen weiteren Ausflug versprochen hatten. Er konnte weder Noah noch Jorge im Stich lassen. „Na klar.“
* * *
Rosie hasste wie Gideon gegangen war, so abrupt, sein Ausdruck so dunkel und gequält. Und doch …
Er hatte den Jungen beigebracht, wie man das Hüpfspiel spielte. Er hatte sich beim Abendessen entspannt. Er hatte stundenlang gespielt. Er hatte gelächelt. Er hatte gelacht. Er würde aus seinem Schneckenhaus herauskommen. Er hatte den Jungs einen Gutenachtkuss gegeben. Er hat ihnen vorgelesen. Er hatte ihre Kunst gelobt.
Dann war Rosie naiv geworden und hatte angenommen, dies bedeute, dass der Vorfall im Museum seinen Schrecken verloren hatte und dass man jetzt darüber reden könne. Sie hatte gedacht, da die Jungen mit ihren einfachen Fragen zu einer Geschichte zu ihm hatten durchdringen können, würde es ihr vielleicht auch gelingen. Sie dachte daran, wie nahe sie sich gestern bei der Hochzeit gekommen waren, als sie getanzt hatten, als sie ihr Abendessen gemeinsam gegessen hatten, als sie mit den Jungs auf der Tanzfläche herumgewirbelt waren, als sie gedacht hatte, sie müsse nicht mehr auf Zehenspitzen um ihn herumgehen wie alle anderen, sogar die Mavericks.
Sie hatte also aufgehört, Freiraum zu geben … und gedrängt.
Er hatte sich bei den Jungs nicht zurückgezogen, als er ihnen ein wenig über das Leben in einem Kriegsgebiet erzählt hatte. Und vielleicht war es genau das, was Gideon brauchte: einfache Fragen von neugierigen Jungen. Bei denen er sich nicht gezwungen sah, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Das einzig Gute daran, dass er gegangen war, war, dass er schon weg war, als das Telefon klingelte. Zumindest musste sie dann die beiden vorherigen Aufrufe nicht mehr erklären. Oder wie sehr sie sich vor diesem dritten heute Abend fürchtete.
Die Anrufe kamen von einer unterdrückten Rufnummer und am anderen Ende der Leitung atmete jemand. Mehr nicht. Sie hatte aufgelegt. Es könnte unbedeutend sein. Es gab keinen einzigen Hinweis darauf, dass es sich um Jorges leiblichen Vater handelte. Nicht nach all der Zeit, seit dem letzten Tag an dem sie von ihm gehört hatte, nachdem er ihr gesagt hatte, dass ein Kind nicht zu seinem Lebensplan gehörte.
Aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie das leise Flüstern ihres Namens in all dem Atmen nicht gehört. Sie konnte nicht anders als Angst davor zu haben, dass, wenn Jorges Vater wieder auftauchte, nichts Gutes daraus entstehen würde. Sie würde einen obszönen Telefonanruf deutlich bevorzugen.
Rosie hatte noch nicht einmal Ari und Chi von den Anrufen erzählt, da die Hochzeit so kurz bevorstand. Aris perfekten Tag und Flitterwochen mit Sorgen zu ruinieren, kam nicht in Frage.
Und wenn Gideon es herausfinden würde, konnte sie sich nur zu gut vorstellen, wie er reagieren würde. Gideon war ein Beschützer. Wie alle Mavericks. Er wäre ausgeflippt.
Genau so, wie sie ausflippte.
Natürlich hatte sie Archibald Findley im Auge behalten. Hatte ihn alle paar Monate ein paar Mal im Internet gesucht. Sie wusste also, wo er war.
Als er heiratete, war sie tatsächlich erleichtert darüber gewesen, zu wissen, dass er diesen Teil seines Lebens komplett hinter sich gelassen hatte und nun mit einer anderen Person eine Familie gründen würde. Aber diese Erleichterung hatte sich vor einem Monat verflüchtigt, als sie das Fernsehinterview fand, in dem Archie und seine perfekte Vorzeigefrau der Interviewerin von ihrer herzzerreißenden Erfahrung mit der Unfruchtbarkeit erzählt hatten.
Rosie drückte die Knie an ihre Brust und nippte an ihrem Wein. Sie sagte sich wieder, dass sie und Jorge hier sicher seien. Dass Archie sie nicht finden würde. Dass er nicht einmal versuchen würde, sie zu finden. Dass er sich keine Mühe geben würde, nicht nachdem er sie aus seinem Leben geworfen hatte, als sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger war.
Aber sie konnte die Anrufe nicht ignorieren. Genauso wenig wie sie die Tatsache ignorieren konnte, dass seine Frau ihm kein Kind schenken konnte.
Während Rosie es konnte.
Und getan hatte.