Sie gingen in den House of Air Trampolinpark in San Francisco. Die Jungen erhielten Unterricht fürs Springen und lernten, wie sie das Gleichgewicht halten und ein paar einfache Luftkunststücke wie Radschlagen und Purzelbäume ausführen konnten. Dann hatten sie ein paar Korbleger mit Sprung gemacht, Völkerball gespielt und sogar Klettern ausprobiert. Noah erklärte, er wolle hier seine nächste Geburtstagsfeier feiern.
„Ari wird mich umbringen“, sagte Rosie, als sie und Gideon einen Moment allein waren. „Ich habe ein Monster erschaffen.“
„Auf keinen Fall, sie wird es lieben“, versicherte er ihr. „Sie will immer neue und andere Dinge für ihn finden. Außerdem kann er jetzt, da er Unterricht hatte, auf seinem eigenen Trampolin üben, ohne dass Matt so nervös ist.“
Als Gideon an diesem Morgen aufgewacht war, hatte er sich geschworen, alles zu tun, was nötig war, um sein Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und dabei so freundlich und entspannt wie möglich im Umgang mit Rosie zu sein. Sie hatte sich schon mehr als genug Mist gefallen lassen – sie brauchte in den nächsten zwei Wochen weder sein langes Gesicht noch eine dunkle Wolke der Finsternis, die über ihnen schwebte. Es war an der Zeit, sich zusammen zu reißen. Diesmal nicht nur für Ari oder Noah, sondern auch für Rosie und Jorge.
Zum Glück gab es nichts Besseres als stundenlanges Trampolinspringen und Völkerball und Klettern, um überhaupt nicht mehr an etwas zu denken. Außer an Rosie.
Denn egal, wie sehr er es versuchte – wie sehr er es sich selbst gelobte – er konnte Rosie nicht ignorieren. Die Art, wie sie sich bewegte, wie sie lachte, wie ihr Trägertop ihre schönen Kurven umarmte, wie sie sich die Haare aus dem Nacken hob. Aus einem Nacken, den er so sehr küssen wollte, dass sein Inneres buchstäblich vor Begehren schmerzte.
„Du brauchst nicht nochmal zu kochen“, sagte er zu Rosie, als sie nebeneinander am Küchenfenster standen und den Jungs beim Spielen zusahen. „Ich kann uns Pizza holen.“
Gideon hatte ihnen ein Fadenspiel gezeigt, und nun saßen sich Noah und Jorge im Schneidersitz auf dem Gras gegenüber, unwissend, dass sie beobachtet wurden.
Rosie hatte Recht, sie waren wie Schwämme. Er hatte das Spiel, das er Ari als kleines Mädchen beigebracht hatte, nur am Rande erwähnt und sie mussten einfach auch wissen, wie man es spielt. Nach der heutigen Aktivität hätte er gedacht, sie würden direkt einschlafen, aber sie machten einfach weiter. Kinder waren erstaunlich – energiegeladene, kräftige, widerstandsfähige Schwämme.
Ihre Stimmen waren durch das Glas hörbar. „Ich glaube, es geht so.“ Jorge lehnte sich nach vorne, um die zwischen Noahs Fingern verbundene Schnur zu berühren.
„Ist das nicht megacool?“, antwortete Noah, als es ihnen gelungen war, das Muster der Schnur zu vollenden.
„Du warst ein Teenager, als du Ari all diese Spiele gezeigt hast, nicht wahr?“, fragte Rosie Gideon.
„Ja, aber ich habe gerne Zeit mit ihr verbracht.“ Er lachte mit knurrendem Unterton. „Auch wenn meine Freunde in der Highschool dachten, ich sei seltsam, weil ich mit meiner kleinen Schwester abhängen wollte.“
„Ich finde es wunderbar, wie sehr du dich um sie gekümmert hast. Wie sehr du dich immer noch um sie sorgst.“ Rosie berührte seinen Arm und zog sich dann ebenso schnell wieder zurück. Er wünschte, die Berührung hätte länger gedauert. Wünschte, es wäre mehr als nur eine Berührung gewesen.
Als Ari noch klein war, hatte er bereits Angst davor gehabt, sie mit ihrer Mutter allein zu lassen. Selbst ohne die Drogen hatte seine Mutter nie ganz gewusst, wie man eine Mama war wie Rosie für Jorge. Obwohl Nadine ihr Bestes getan hatte, wusste sie nie, was sie wann wie sagen sollte oder wann man umarmte. Umso weniger hätte er zur Army gehen und Ari mit acht Jahren allein lassen sollen. Aber sie brauchten das Geld, und er fand, dass das Militär der beste Weg sei, es zu bekommen. Die Arbeit in einem Schnellrestaurant hätte sicher nicht gereicht.
Aber mit der Zeit hatte sein Gedächtnis einige der harten Kanten abgewetzt und die schlimmsten Stellen geglättet. „Wir hatten kein Kabelfernsehen“, sagte er zu Rosie. „Nur einen alten Schwarz-Weiß-Fernseher mit abstehenden Antennen oben drauf. Wir sahen uns also alte Filme und Fernsehsendungen an wie Erwachsen müsste man sein und Vater ist der Beste , sogar Die kleinen Strolche .“
„Und deine Mutter liebte alte Western, nicht wahr?“
„Ich nehme an, das bedeutet, dass Ari dir gesagt hat, woher mein zweiter Vorname stammt?“
Rosies Augen funkelten, als sie seine Vermutung bestätigte. „Dein zweiter Vorname gefällt mir. Gideon Randolph Jones. Ich liebe es, dass du nach dem alten Westernstar Randolph Scott benannt bist. Diese alten Serien waren anders, nicht wahr? Die Kinder hüpften mit dem Springseil und spielten mit Hula-Hoops und Springstöcken statt mit iPads und PlayStations.“
Er nickte. „Es war eine einfachere Zeit.“
Stimmte das wirklich? Nichts daran war einfach gewesen, seine Mutter ins Bett zu tragen, wenn sie von ihrem Stoff eingeschlafen war. Aber darüber wollte er nicht nachdenken, nicht hier bei Rosie mit den spielenden Jungs draußen.
„Ari war ein wissbegieriges kleines Mädchen“, sagte er zu Rosie. „Als sie älter wurde und mir klar wurde, dass ich die Antworten auf ihre Fragen nicht kannte, gingen wir in die Bibliothek, um herauszufinden, was wir wissen wollten. So lernten wir viel über Geschichte und Wissenschaft und so viele Spiele. Wenn sie in der Schule von einem Spiel hörte, lernten wir es am Wochenende zusammen.“
„Ich liebe es, dass du das für sie getan hast.“
Er zuckte mit den Achseln. „Es war nicht schwer.“
Dann berührte sie seine Wange und zwang ihn, sie anzuschauen. Als er endlich seine Augen auf ihre richtete, sagte sie: „Es war vielleicht nicht schwer, aber die meisten sechzehnjährigen Jungen hätten sich nicht darum gekümmert. Du warst sehr lieb zu Ari. Und sie weiß das.“
Er schluckte. Er hatte, was seine Schwester anging, so viel falsch gemacht, dass es fast unmöglich war, das anzuerkennen, was er richtig gemacht hatte.
„Als wir in der Pflegefamilie waren, redete sie ständig von dir“, sagte Rosie. „Ich hatte mir immer gewünscht, einen Bruder wie dich zu haben.“
Aber er wollte nicht ihr Bruder sein. Nicht im Geringsten. „Hast du denn Schwestern?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich war ein Einzelkind. Ich bin hier geboren, aber die Familie meiner Eltern lebte in Mexiko. Mein Vater arbeitete als Landschaftsgärtner und meine Mutter war Putzfrau. Wir hatten nicht viel Geld. Aber sie schickten immer das Geld nach Hause, das sie erübrigen konnten.“
„Wie hast du sie verloren?“
„In einem Autounfall, als ich elf Jahre alt war.“
„Das tut mir leid.“ Ihm brach das Herz für das elfjährige Mädchen, das sie gewesen war. „Warum hat dich deine Familie in Mexiko nicht aufgenommen?“
„Ich wusste, wie sehr meine Eltern wollten, dass ich als Amerikanerin aufwachse. Deshalb waren sie hierhergekommen, um sicherzustellen, dass ich hier geboren wurde. Deshalb haben sie so viel geopfert. Deshalb habe ich niemandem von meinen Verwandten in Mexiko erzählt, für den Fall, dass die Behörden mich zurückschicken wollten. Außerdem kannte ich sie nicht. Kalifornien war meine Heimat.“ Sie erzählte ihre Geschichte wie harte Fakten, aber er wusste, wie sehr es wehgetan haben musste. Dass es wahrscheinlich immer noch weh tat. „Ich habe meine Eltern so sehr vermisst. Aber ich habe Ari und Chi gefunden. Und dann hatte ich Jorge.“ Sie lächelte. „Und jetzt habe ich mit den Mavericks eine riesige Familie.“
Er konnte seinen Blick nicht von ihrem herrlichen Mund, ihren üppigen Lippen abwenden. Er konnte fühlen, wie sein Atem in seiner Brust auf und ab stieg, spürte seinen Herzschlag. Und er konnte die Wärme ihrer Haut spüren. Ihr Duft war süß und berauschend, wie der Champagner, mit dem sie bei der Hochzeit angestoßen hatten.
„Gideon“, flüsterte sie mit diesen küssbaren Lippen.
Er wollte sie berühren, wollte mit den Fingerspitzen über die Glätte ihrer Haut streichen. Und dann teilten sich ihre Lippen, und sie war so nah, so unglaublich wunderbar nah. Es könnte so einfach sein. Oh Gott, er wollte sie küssen. Nur einmal kosten.
Einmal kosten und ein Leben lang davon zehren.
„Mom, Gideon!“, rief Jorge. „Schau mal die coolen Sachen an, die wir mit der Schnur machen!“
Gideon erwachte aus seiner Trance und trat zurück. Er hatte Rosie nicht einfach nur küssen wollen.
Er war kurz davor gewesen, sie zu verschlingen .
„Gideon.“ Ihre Augen waren die tiefste Schokolade und brachten ihn zum Schmelzen.
Er atmete schwer, als wäre er um die Häuser gerannt. „Ich werde die Jungs fragen, was für eine Pizza sie wollen. Sie können mitkommen, wenn ich sie abhole.“
Er trat den Rückzug zur Tür an. Täte er es nicht, würde er dem Blick in ihren Augen, der Versuchung ihrer Lippen, ihres Kusses nachgeben.
Und wenn er sie küsste, dann wäre er voll und ganz verloren.
* * *
Gideon und die Jungs holten die Pizzas ab und ließen Rosie eine Weile allein.
Allein und völlig verrückt von diesem Fast-Kuss.
Endlich war er im Begriff gewesen, dem Knistern zwischen ihnen nachzugeben. Sie hatte fast seine Lippen schmecken können. Hatte die Wärme seines Körpers an ihrem spüren können. Und wenn Jorge sie nicht gerufen hätte, hätte sie sich nicht zwingen können, sich zurück zu ziehen. Nicht wenn sie Gideon so sehr wollte.
Als sie mit den Pizzas zurück, tat Gideon natürlich so, als sei der Moment nie geschehen. Seine Reaktion überraschte sie nicht. Sie fühlte sich auch nicht verletzt. Wie könnte sie auch, da sie doch noch auf einer Wolke der Hoffnung schwebte, weil er sich ihr überhaupt so angenähert hatte? In erster Linie war sie immer noch seine Freundin, aber sie hatte nicht vor, sich selbst und ihn zu belügen, indem sie ihre Sehnsucht nach ihm leugnete.
Nachdem sie Pizza gegessen hatten, spielten sie Karten. Gideon war eine Quelle alter Spiele aus vergangenen Epochen – Spitz, pass auf und Schlafmütze und Mau-Mau – und die Jungen waren fasziniert von jedem neuen Spiel, das er ihnen beibrachte. Wer brauchte ein iPad oder ein Videospiel oder selbst einen Fernseher, wenn man Gideon hatte?
Er war so gut im Umgang mit Jorge und Noah, genau so, wie sie sich vorgestellt hatte, dass er es mit Ari gewesen war, als sie sechs Jahre alt war. Und auch wenn er so weit wie möglich von ihr entfernt saß und fast all seine Kommentare an die Kinder richtete, hatte sie Spaß.
Dann gähnte Noah. Davon angesteckt gähnte auch Jorge.
„Ich glaube, es ist Schlafenszeit“, sagte sie.
Gideon nickte und sammelte die Karten zu einem Stapel zusammen. „Wir lassen euch mal in Ruhe.“
„Kann ich mit euch kommen, Gid?“, bettelte Jorge.
„Ja, Onkel Gideon, können wir nochmal zusammen übernachten?“
Zum Glück las Gideon den Ausdruck in ihrem Gesicht und sagte: „Heute Abend nicht, Jungs.“
„Aber, Gid“, begann Jorge, bis Rosie ihm einen Blick zuwarf, der ihn sofort die Lippen aufeinanderpressen ließ.
Der Telefonanruf von gestern Abend hatte sie verstört. Und obwohl sie wusste, dass Gideon besonders gut auf die Jungs aufpassen würde, wollte sie Jorge bei sich haben. Sie wollte in sein Schlafzimmer gehen können, nachdem er eingeschlafen war, um ihn komplett zuzudecken, obwohl er die Decke unweigerlich wieder wegstrampeln würde, und ohne den Schatten eines Zweifels wissen, dass er in Sicherheit war.
„Wir treffen uns morgen früh zu einer Wanderung“, sagte sie zu den Kindern. Sie und Gideon hatten das bereits geplant. „Ihr werdet euch also sehr bald wiedersehen.“ Was bedeutete, dass sie Gideon wiedersehen würde. Sehr bald. Obwohl es sich irgendwie nicht nach bald genug anfühlte.
Jorge wusste, wann sich Drängeln gar nicht lohnte. „Okay.“ Den kleinen Schmollmund konnte er sich aber nicht verkneifen. Noah konnte es auch nicht, als er und Gideon seine Legosteine in seinen Rucksack packten.
„Danke für die Pizza“, sagte sie. Sie tippte Jorge auf den Rücken, und er wiederholte: „Ja, danke, Gid, es war lecker.“
Die Jungs schüttelten sich zum Abschied kompliziert die Hände, dann küsste sie Noah auf die Wange und schloss mit einer Umarmung ab. Gideon hob Jorge hoch, um ihn fest zu drücken. Dann rannten die Jungs zur Tür und folgten dem Piepton von Gideons Autoschlüssel, als er die Tür aufschloss.
Einen Moment lang waren Rosie und Gideon allein. Sie spürte die Hitze der Nacht um sie herum, den Duft von Lavendel in der Luft und die anhaltende Süße ihres Fast-Kusses.
Sie konnte fühlen, wie er mit sich selbst kämpfte, als er überlegte, ob er etwas sagen sollte oder nicht. Schließlich sagte er: „Mein Apartment-Komplex hat einen Pool. Du und Jorge könntet nach der Wanderung zum Schwimmen kommen, wenn Ihr möchtet.“
Sie strahlte. Sie würde so schnell voranschreiten, wie er sich wohlfühlte – aber sie würde ihre Freude an seiner Anwesenheit nicht verbergen. „Klingt großartig. Ich werde unsere Badesachen mitbringen.“ Einen Moment lang hätte sie schwören können, Hitze in seinen Augen zu erspähen, die sie rauchig machten.
Als er und Noah einige Minuten später wegfuhren, konnte sie nur hoffen, dass ihn der Gedanke an sie in einem Badeanzug endlich in Flammen aufgehen lassen würde.
* * *
Gideon wusste, dass er mit dem Feuer spielte. Er hätte Rosie nicht beinahe küssen dürfen. Aber er wusste nicht, wie er hätte aufhören sollen. Nicht, wenn jeder Selbstkontrolltrick in seinem Arsenal versagt hatte.
Zurück in seiner Wohnung bat er Noah, sich bettfertig zu machen. Der Junge brauchte ein wenig Unabhängigkeit und keinen Onkel, der hinter ihm stand, während er sich die Zähne putzte. Außerdem wollte Noah alle seine Lego-Kreationen und die mitgebrachten Spielzeuge und Bücher arrangieren. Er war nach der ganzen Aufregung der Hochzeit so müde gewesen, dass es dazu nicht gekommen war und gestern Abend war er bei Jorge geblieben.
Gideon hatte jahrelang in schäbigen Wohnungen gelebt. Es war ihm egal gewesen, wo er lebte – wo doch seine Schwester und Karmen für ihn verloren waren. Aber als Ari ihn gebeten hatte, auf Noah aufzupassen, während sie und Matt in den Flitterwochen waren, wurde ihm klar, dass er Noah nicht in eine verranzte Bude in einer schlechten Gegend mitnehmen konnte.
Also hatte er diesen Apartment-Komplex gefunden mit einem Pool und einer Wohnung im zweiten Stock mit zwei Schlafzimmern, zwei Bädern, einem Wohnzimmer mit hoher Decke und einer funktionsfähigen Küche. Die Hausverwaltung weigerte sich, Noahs neuen Welpen aufzunehmen, aber auf alle anderen Arten hatte er versucht, die Wohnsituation für seinen Neffen großartig zu machen. Er hatte Kochgeschirr, Metallbesteck und Porzellangeschirr gekauft, weil Pappteller und Plastikgabeln einfach nicht mehr angemessen waren. Kochen konnte er zum Glück bereits – er hatte es schon als Kind lernen müssen, als seine Mutter nicht mehr dazu in der Lage gewesen war.
Er hatte ein großes Smart-TV gekauft, damit er und Noah Filme sehen und Videospiele spielen konnten. Das zweite Schlafzimmer hatte er mit zwei Einzelbetten ausgestattet, in Erwartung eines möglichen Übernachtungsbesuchs von Jorge. Er hatte auch ein Zweisitzersofa besorgt, das zum Gästebett ausgezogen werden konnte, und ein paar Sitzsäcke, denn welches Kind mochte keine Sitzsäcke? Außerdem hatte er ein Waffeleisen, einen Mixer für Smoothies und einen Grill für getoastete Käsesandwiches besorgt.
Leider vermochte die geistig durchgeführte Inventur seiner Küche die Gedanken an Rosie nicht zu verdrängen. Wie er sie fast geküsst hätte. Wie er sie mit zügellosem Begehren haben wollte. Ein Begehren, dass er nicht fühlen durfte.
Nicht nach dem, was er zugelassen hatte, dass seinen Kameraden geschehen war. Nicht nach dem, was mit Karmen passiert war.
Wie immer, wenn er an Karmen dachte, war es mit einer Mischung aus Schuld und Trauer. Und wie immer griff er nach dem letzten Ding, das sie ihm gegeben hatte. Das einzige Stück von ihr, das er hatte.
Er bewahrte das Bild im unteren Schrank des Bücherregals auf, weggeschlossen, als ob er alle Emotionen, die damit einhergingen, wegschließen könne. Als sie es ihm gegeben hatte, hatte Karmen erklärt, dass es ihrer Großmutter gehört hatte. Er konnte immer noch hören, wie sie ihm die Geschichte erzählte.
„Abuela sagte, es sei etwas ganz Besonderes, mit magischen Kräften, und dass ich wegen seiner mächtigen Magie eines Tages gezwungen sein würde, es zu verschenken. Sie sagte, die Macht darin müsse weitergegeben werden, und ich würde den richtigen Zeitpunkt erkennen, um loszulassen.“ Sie hatte es ihm hingehalten. „Und jetzt bist du derjenige, der es am meisten braucht.“
Er erinnerte sich, wie er über ihre Geschichte gelacht, sie abgetan und sich gefragt hatte, was er überhaupt mit einem Bild im verdammten Wüstensand anfangen sollte. Vor allem, wo er doch Karmen nie geküsst, sie nie berührt und ihr nie gesagt hatte, dass er Gefühle für sie hatte. Gefühle, die für eine Frau, mit der er arbeitete, unangemessen schienen. Aber weil sie befreundet waren und sie so darauf bestanden hatte, hatte er das kleine Bild an sich genommen und in seinem kleinen Versteck mit persönlichen Gegenständen untergebracht.
Zwei Tage später waren sein gesamtes Team und Karmen tot.
Und alles, was ihm von ihr blieb, war das Gemälde.
Er wünschte, sie hätte ihm mehr erzählt, ihm erklärt, was er zu tun hatte, anstatt einen Haufen magischen Hokuspokus von sich zu geben. Er hätte getan, was immer sie wollte, das Vermächtnis erfüllt, aber er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte. Da es von Karmens Großmutter kam, vermutete Gideon, dass der Künstler aus Mexiko sein könnte, aber es war nur mit Initialen signiert.
Was genau könnte das Bild bedeuten? Worin lag seine Kraft, seine Magie? Oberflächlich betrachtet handelte es sich um die religiöse Darstellung zweier Engel, einer mit dunkler Haut und Haaren, der andere hellhäutig und hellhaarig, die Arme zueinander ausgestreckt, die Zeigefingerspitzen sich berührend.
Er wusste nur, dass die Engel Karmen nicht gerettet hatten. Das Bild hatte sie nicht gerettet. Und auch Gideon hatte sie ganz sicher nicht gerettet.
Das Kunstwerk in seinen Händen ließ sein Herz wehtun, seine Augen schmerzen und jeder Knochen in seinem Körper fühlte sich an, als würde er brechen. Karmen hatte gesagt, es sollte bei ihm bleiben, bis er den Moment für richtig hielt, es weiterzugeben. Aber was, wenn er niemals loslassen konnte? Nicht nur das Bild, sondern auch Karmen und seine Schuld am Tod seiner Kameraden? Seine ganze Schuld, seine ganze Verantwortung.
Warme Finger berührten seinen Hals, und Gideon bemerkte mit Verzögerung, dass Noah ihm seinen Arm um die Schulter legte. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sein Neffe da war. Er war von seinen Erinnerungen, seiner Schuld begraben worden.
„Es ist okay, Onkel Gideon, ich bin auch manchmal traurig.“
Ehrfurcht durchzog ihn, dass dieses erstaunliche, schöne, wunderbare Kind genau die Worte auszusprechen wusste, die Gideon hören musste.
So oft hatte er das Bild von Karmen in der Hand gehabt. So oft hatte er die Tränen zurückgehalten und sich trotz der Scham, der Schuld und der Unwürdigkeit nie gestattet, zu weinen. Aber in diesem Moment, als Noahs sanfte Worte in seinem Kopf erklangen, legte er das Bild zur Seite und nahm das Kind in seine Arme.
Dann ließ er endlich die Tränen heraus, die er sich so lange verwehrt hatte.
Er wusste nicht, wie stark er Noah drückte oder wie lange Noah ihn festhielt. Bis sein Neffe sagte: „Ich bin bettfertig. Deckst du mich zu, Onkel Gideon?“
„Ja, klar doch, Kleiner.“ Gideon hob ihn hoch.
Und als er den Jungen in sein Zimmer trug, griff Noah hoch, um Gideon die Tränen von den Wangen zu wischen.