KAPITEL SECHZEHN

Gideon reichte Rosie eine neue Zahnbürste und zeigte ihr dann, wo die zusätzlichen Kissen und Decken waren. „Wenn du noch etwas brauchst, melde dich einfach.“

„Danke“, sagte sie leise. „Nicht nur für dein Bett heute Nacht, sondern auch fürs Zuhören. Und dass du mich nicht für meine eventuell schlechten Entscheidungen verurteilst.“

„Du hast meine Geschichte gehört, also weißt du, dass ich dazu nicht in der richtigen Position wäre.“ Er hätte es ohnehin nicht getan. Rosie war für Jorge die beste Mutter der Welt und für Ari die beste Freundin. Nichts in ihrer Vergangenheit konnte daran etwas ändern. „Ich bin froh, dass du bleibst, Rosie.“

Es war das Höchste, was er sich je erlaubt hatte, über seine Gefühle für sie zu sagen. Wenn man bedachte, was sie heute Abend alles geteilt hatten, schien eine erneute Abgrenzung von ihr nicht mehr die einzige – oder die beste – Option zu sein. Tatsächlich war es jetzt irgendwie unmöglich. Sie waren zu weit gekommen.

„Das bin ich auch“, sagte sie. „Danke für alles.“

Sie verblüffte ihn vollkommen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn küsste, ihr Mund gegen seinen gedrückt.

Dann waren ihre Lippen weg und sie stand wieder fest auf ihren eigenen Füßen …

Und sein Herz war zum Bersten voll.

Er wollte sie in seine Arme nehmen und sie bis zur Besinnungslosigkeit küssen. Aber es war nicht so eine Art von Kuss gewesen. Es war etwas Besseres, etwas Wichtigeres gewesen. Lieb und voller Dankbarkeit und Freundschaft.

Und Vertrauen.

Er verließ den Raum und winkte dümmlich mit der Hand. „Gute Nacht.“ Er schloss die Tür. Zehn Sekunden später musste doch wieder anklopfen. „Entschuldigung. Ich brauche eine Jogginghose zum Schlafen.“ Er schnappte sich auch seine Zahnbürste, sein Rasierzeug und ein T-Shirt.

Sie lächelte, als er die Tür wieder hinter sich schloss.

„Sie denkt sicher, dass ich ein Depp bin“, murmelte er, als er sich seinen Laptop schnappte und dabei nicht aufhören konnte, den Moment immer wieder in seinem Kopf abzuspielen, als ihre Lippen die seinen berührt hatten.

Niemand würde je so verlockend für ihn sein wie Rosie. Er hatte es schon fast von dem Moment an gewusst, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Und jetzt, da er wusste, wie es sich anfühlte, sie zu küssen, auch wenn der Kuss kaum mehr als ein Lufthauch über seinen Lippen gewesen war, konnte er sich nicht vorstellen, dass er jemals für eine andere so empfinden würde wie für sie.

Er wollte all ihre Drachen töten, aber dazu musste er mehr über Archibald Findley herausfinden. Er würde dafür sorgen, dass Findley nicht einmal den Versuch wagte, Rosie Jorge wegzunehmen.

Er tippte gerade Archibald Findley Impressions Gallery Las Vegas , als ihm klar wurde, warum Rosie nur für sich selbst malte: Sie hatte Angst, dass Jorges Vater sie finden würde, wenn sie ihre Kunstwerke in die Öffentlichkeit brachte.

Umso entschlossener war Gideon, ihr zu helfen, und schwor schweigend, alles zu tun, um Jorge und Rosie in Sicherheit zu bringen.

* * *

Gideon war völlig geplättet gewesen, als sie ihn geküsst hatte, seine Augen waren noch lange danach benommen.

Rosie hatte sich tatsächlich selbst überrascht. Sie hatte den Kuss nicht geplant – aber sie konnte auch ihre Instinkte nicht ignorieren. Zumindest nicht mehr. Nicht nach allem, was sie heute miteinander geteilt hatten, von seinen humorvollen Erinnerungen an das Leben in der Army, über seine herzzerreißende Geschichte vom Tod seiner Kameraden bis hin zu ihrem komplizierten Geständnis über ihre Fehler mit Archie.

Was hätte er getan, wenn sie ihn gebeten hätte, das Bett mit ihr zu teilen? Es war so verlockend gewesen, als ihre Lippen auf seinen und seine Muskeln hart und verlockend unter ihren Fingerspitzen lagen. Sie hatte sich danach gesehnt.

Aber sie hatte sich beherrscht. Gideon war dafür noch nicht bereit. Und ehrlich gesagt, war sie es auch nicht.

Gideon seinerseits hatte gerade erst begonnen, ihr zu vertrauen. Es bedeutete ihr so viel, dass er es tat, aber sie durfte nicht den Fehler machen, mit ihren Körpern zu schnell zu gehen, wo die Herzen noch aufholen mussten. Vor allem, da er nicht der Einzige war, der mit seinen Entscheidungen aus der Vergangenheit rang.

Seit sie vor sieben Jahren erfahren hatte, dass sie mit Jorge schwanger war, hatte sich Rosie vom Dating zurückgezogen. Schließlich hatte sie eine wirklich bescheidene Entscheidung getroffen, als sie sich in Jorges Vater verliebt hatte. Jetzt hatte sie einen Sohn großzuziehen, da konnte sie es sich nicht leisten, einem anderen Mann zu vertrauen, wenn sie ihn und seine Absichten nicht wirklich kannte. Gideon war anders. Trotz seines Schweigens und seiner versteinerten Gesichtsausdrücke, interessierte er sie von Anfang an. Durch all die tollen Dinge, die Ari über ihren Bruder gesagt hatte, und jeden Moment, in dem Rosie ihn mit ihrem Kind und mit Noah beobachtet hatte, hatte sie gelernt, durch Gideons Mauern hindurch den Mann zu sehen, der er wirklich war.

Ein guter Mann. Ein ehrenwerter Mann. Ein fürsorglicher, treuer Mann.

Auch wenn er selbst nicht mehr an diese Dinge zu glauben schien.

Nach dem Kuss, bei dem ihre Lippen und ihr Körper noch kribbelten, war sie nicht müde. Mit ihrem iPad auf dem Schoß wusste sie genau, was sie für Gideon zu tun hatte: weitere Informationen über das Bild finden. Im Laufe der Jahre hatte sie viel über Miguel Fernando Correa gelernt, denn sowohl sie als auch Jorge liebten das Bild im Museum der Legion of Honor. Heute Abend würde sie speziell nach Gideons Gemälde recherchieren, da es sich so sehr von Correas anderen Werken unterschied.

Glücklicherweise war eines ihrer Wahlfächer am College Kunstforschung gewesen – welche Ressourcen verlässlich waren, nach welchen Hinweisen man suchen sollte, wie man in die Untiefen der Herkunft eines Werkes eintauchte.

Endlich konnte sie all dieses Wissen anwenden. Für Gideon.

* * *

Die Jungen waren noch nicht aus Noahs Zimmer gekommen, als Gideon am nächsten Morgen hörte, wie sich seine Schlafzimmertür öffnete. Sein Herz blieb beim herrlichen Anblick von Rosie stehen. Ihr wunderschönes lockiges Haar umspielte wild ihr hübsches Gesicht, ihr verführerischer Mund lockte ihn zu einem weiteren Kuss hinüber.

Als er gestern Abend versucht hatte einzuschlafen, hatte er immer wieder an ihr Lächeln gedacht, an ihr Lachen, daran, dass sie in seinem Bett lag … und an Schlaf war kaum noch zu denken gewesen, da er wusste, dass sie nur eine Wand entfernt war.

Sie blieb in der Mitte des Wohnzimmers stehen, als sie den Schlafsack sah, der auf die zusammengeschobenen Sitzsäcke gelegt war. Sie zeigte entsetzt darauf. „Du hast nicht etwa darin geschlafen, oder?“

Er war im Badezimmer auf dem Flur schnell duschen gegangen, bevor alle wach waren und hatte das Wohnzimmer noch nicht in Ordnung gebracht. Er schnappte sich den Schlafsack und fing an, ihn in seinen Tragesack zu stopfen. „Das ist nicht schlimm. Ich habe schon an schlimmeren Orten geschlafen.“

„Okay.“ Ihr hübsches Lächeln war nirgends in Sicht, als sie, ihr iPad an die Brust gedrückt, dastand. „Natürlich.“

Sie musste sich gerade vorstellen, wie es im Nahen Osten gewesen sein musste, mit dem Staub und dem Sand und dem Wind und dem Tod. Aber er wollte nicht, dass sie es thematisierte, so wie er selbst nicht mehr thematisieren wollte. Er wollte, dass sie sich beide nur an die guten Dinge erinnerten, die er ihr gestern über sich und Zach erzählt hatte, über den Bau von Schulen, über die Hilfe für die Dorfbewohner.

„Die Jungs spielen in Noahs Zimmer“, sagte er. Er lächelte, als er an sie dachte. Mit Rosie und den Kids zusammen zu sein, brachte ihn mehr zum Lächeln, als er es gewohnt war. Viel mehr, wenn man bedachte, dass kein Lächeln sein Standardausdruck war. „Sie sagten, keine Eltern erlaubt.“

Gott sei Dank brachte die Erwähnung der Jungs Rosies gute Laune zurück. „Sie bauen wahrscheinlich ein erstaunliches, drei Meter hohes Lego-Bauwerk, um dann damit vor uns anzugeben.“

„Wahrscheinlich.“ Und schon wieder merkte er, dass er lächelte, nur wegen des Blicks auf ihrem Gesicht, als sie über ihren Sohn sprach.

„Nun, ich habe dir ein schönes Frühstück versprochen.“ Sie klatschte leicht in die Hände. „Zeit, loszulegen.“

„Ich habe schon Kaffee gemacht.“

„Der Mann meiner Träume.“ Ihre Lippen zogen sich nach oben, und sein Herz schlug schneller, weil er sich so sehr wünschte, dass ihre Aussage wahr sei.

In der Küche goss sie Kaffee in die Tasse, die er für sie auf den Tresen gestellt hatte. Sie musste mehr als nur einen Badeanzug in ihrer Tasche gehabt haben, denn sie trug ein anderes T-Shirt als gestern, und nicht eines von seinen. Die durchsichtige, bunte Tunika mit Blumenmuster wurde durch ein helles Tanktop untendrunter aufgepeppt, was ihre nackten Schultern zu einem heißen Anblick unter dem dünnen Material machte.

Er musste sich unter Kontrolle bekommen. Vor allem das Bedürfnis, wirklich der Mann ihrer Träume zu sein. In ihrem Bett, in ihrem Leben, in jeder möglichen Weise …

Als sie sich umdrehte, sich mit dem Rücken an den Tresen lehnte und ihre Augen durch die Wirkung des Koffeins funkelten, musste er gestehen, was er gestern Abend getan hatte. Ihr Vertrauen bedeutete ihm alles. Er würde es jetzt nicht kaputtmachen, nie.

„Hör mal, ich muss dir was sagen …“, begann er.

Exakt im gleichen Moment sagte sie: „Du solltest wissen, dass…“

Als sie beide aufhörten zu sprechen, verlor er sich in ihren kaffeefarbenen Augen, in ihrem Duft in seiner Küche, in der Vision von ihr – nackt – in seinem Bett schlafend.

„Du zuerst“, schlug er vor.

„Okay.“ Sie hielt inne, bevor sie sagte: „Ich habe dein Gemälde im Internet gesucht. Ein wenig nachgeforscht.“ Sie hielt die Hand hoch, als wolle sie mögliche Einwände abwehren. „Ich weiß, ich hätte dir vor meiner Tiefenrecherche im Internet Bescheid sagen sollen, aber du weißt ja, wie sehr ich die Kunst liebe. Und ich habe da so ein Gefühl, dass dein Bild selten und absolut fantastisch ist.“ Ihre Augen strahlten vor Aufregung.

So war Rosie. Sie stürzte sich stets voll und ganz in alles, sei es das Blinde-Kuh-Spiel im Pool mit den Jungs, sich im Trampolinpark völlig zu verausgaben oder in einem Museum ein unglaubliches Gemälde zu schaffen. Er war sich sicher, dass sie ihre Buchhaltung genauso enthusiastisch anging. Rosie würde niemals etwas halbherzig machen.

Nun schien es, als hätte sie sich ihn als neuestes Projekt vorgenommen. Oder zumindest sein Bild.

Wie sollte er wütend sein, sie wollte ihm nur helfen. „Was hast du herausgefunden?“

„Ich bin mir noch nicht ganz sicher“, gab sie zu, „obwohl mein Bauchgefühl mir sagt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Miguel Fernando Correa signierte seine Werke immer nur mit seinen Initialen. Und da er 1705 in Mexiko-Stadt geboren worden war und 1798 starb, gibt es sehr viele Werke. Einige davon könnten noch unbekannt sein.“

„Ich bin ziemlich sicher, dass Karmens Familie aus Mexiko-Stadt stammt.“

„Das ist gut zu wissen“, sagte sie. Und dann: „Er hat viele Stadtszenen gemalt wie die in der Legion of Honor. Auch Szenen in Tavernen oder Menschen in Salons oder Kirchen sind dabei. Es gibt sogar eine Serie mit Stierkämpfen. Und auch normale Menschen, die ihren Tätigkeiten nachgehen, wie Frauen, die Wasser tragen. Er war ein Typ für Menschen, nicht für Landschaften.“

Gideon dachte an das Gemälde, das er im Museum gesehen hatte. Es hatte eine erstaunliche Detailvielfalt, von der Kleidung bis zu den Gesichtern, sogar die Gebäude und Bäume.

„Er hat auch Porträts angefertigt, vor allem von berühmten Persönlichkeiten der damaligen Zeit.“ Rosie öffnete ihr iPad und tippte auf ein Foto eines Gemäldes, das er noch nicht gesehen hatte. „Das hier ist ein Porträt von Diego und Catalina Sanchez. Ich nehme an, dass sie eine prominente Familie waren, sonst hätten sie ihn nicht beauftragen können.“

„Karmen hat nie etwas über prominente Vorfahren gesagt.“ Obwohl sie extrem wohlhabend gewesen war. Sie hatte ihm gesagt, ihr Vater wäre ein wichtiger Geschäftsmann. Aber das war damals einfach nicht wichtig gewesen, als es nur darum ging, es von einem Tag zum nächsten zu schaffen. Zum ersten Mal fragte sich Gideon, ob die besonderen Wurzeln von Karmen viel weiter zurücklagen als zwei Generationen. Wie lange war das Bild der Engel schon weitergegeben worden?

„Der einzige Bruch in Correas üblichem Stil war in einer Periode um 1775, als er eine Reihe von religiösen Gemälden schuf. Engel, mystische Themen, die Gott oder Jesus darstellten, der von den Wolken herabblickte. Ich habe ein Foto eines riesigen Gemäldes gefunden, das einen Kampf zwischen den Engeln und Satan zeigt, das Battle of Angels heißt. Es hängt im Metropolitan Museum of Art in New York.“

„Warst du schon mal da?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich war noch nie außerhalb Kaliforniens.“

Das hätte er sich denken können. Jeder Cent floss in das Großziehen ihres Sohnes, wie hätte sie also ein Flugticket nach New York kaufen und ein paar Nächte in einem Hotel verbringen können, nur um in ein Museum zu gehen?

Aber er könnte sie dorthin bringen. Er hatte das Geld. Er könnte für Rosie und Jorge Flüge und ein Hotelzimmer buchen, wenn sie sofort gehen wollten. Wenn er nur so etwas vorschlagen könnte, ohne sie zu erschrecken oder sie glauben zu lassen, er wolle etwas von ihr, das über Freundschaft hinausging.

Vor allem, weil er unbedingt mehr wollte. Immerhin konnte er nicht aufhören, daran zu denken, sie wieder zu küssen, ob er Rosie verdient hatte oder nicht.

Sie tippte erneut auf das iPad und riss ihn aus seinen verrückten Gedanken. „Das hier hängt im Metropolitan Museum of Arts.“

Das Gemälde war ein Meisterwerk mit gepanzerten Engeln, die gegen Satan und seine Dämonen kämpfen. Obwohl er kein Kunstkenner war, konnte Gideon leicht die stilistische Ähnlichkeit mit dem Porträt von Diego und Catalina Sanchez und dem Gemälde in der Legion of Honor erkennen. Aber wie war das mit Karmens kleinem Gemälde verbunden?

Rosie zoomte hinein und deutete. „Siehst du die Initialen? Siehst du, wie ähnlich die Buchstaben aussehen?“ Sie las deutlich seine Gedanken und fügte hinzu: „Ich weiß, es erscheint verrückt zu denken, dass Karmens Engelgemälde von einem Künstler stammt, der so berühmt ist, dass seine Werke im Metropolitan Museum of Art hängen. Aber schau doch mal.“ Sie tippte auf einen weiteren offenen Tab in ihrem Browser. „Hier ist ein weiteres aus Correas religiöser Periode.“

Eine gottgleiche Gestalt mit einem fließenden, grauen Bart und einem schneeweißen Gewand, die auf einer rosa-grauen Wolke von ihrem Platz hinabdeutete.

„Es ist nicht sehr groß“, sagte sie. „Dreißig auf dreißig Zentimeter, wie bei deinem.“ Dann blätterte sie zur Überschrift des Nachrichtenartikels: Verlorenes Gemälde entdeckt. „Das war erst letztes Jahr.“ Sie senkte ihre Stimme und flüsterte: „Dieses Gemälde wurde bei einer Auktion verkauft.“ Sie hielt einen langen Moment den Atem an. „Für fünfzig Millionen Dollar.“

Sein Magen fühlte sich an, als sei er von einem Hochhaus gesprungen. „Fünfzig Millionen?

„Ich bin kein Experte, Gideon. Du müsstest das Gemälde von jemandem authentifizieren lassen. Wahrscheinlich von mehr als einer Person. Aber nach allem, was ich online gefunden habe, sieht es aus wie die Arbeit von Miguel Fernando Correa. Und“, fügte sie hinzu, indem sie auf das iPad zeigte, „seine typische Signatur sieht genauso aus wie die auf deinem Bild.“

Obwohl er keine ihrer Nachforschungen widerlegen konnte, gelang es Gideon kaum, sich das vorzustellen. „Fünfzig Millionen“, wiederholte er mit heiserer, ungläubiger Stimme.

„Alle seine Werke sind wertvoll. Aber die religiösen Gemälde sind noch wertvoller, weil sie selten sind. Er malte acht, die bekannt sind. Aber seine Tagebucheinträge deuten auf die Möglichkeit eines neunten hin.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Deins könnte das neunte Gemälde sein.“

Er schüttelte langsam den Kopf, an Sprechen war gar nicht zu denken. Jahrelang hatte er Karmens Bild in seinem Rucksack von einer heruntergekommenen Wohnung zur nächsten getragen. Die beste Behandlung, die er dem Gemälde hatte zugute kommen lassen, war, es nach seinem Umzug in den Schrank seines Bücherregals einzuschließen.

Hatte Karmen auch nur eine Ahnung vom Wert des Bildes gehabt? „Warum hat sie es mir nur gegeben?“, fragte er mit leer klingender Stimme.

Er brauchte nicht mehr Geld. Die Wahrheit war, dass er mehr Geld hatte, als er realistisch auszugeben wusste. Er hatte alle seine Boni für die Wiederverpflichtung auf die Bank gebracht und das Geld investiert. Seit seiner Entlassung aus der Army hatte er praktisch von nichts gelebt und alles in Investitionen gesteckt, die er eines Tages nutzen wollte, um Ari zu helfen. Die Wahrheit war, dass er sich bereits ein schickes Auto, ja sogar ein schickes Haus leisten konnte. Nichts in der Größenordnung von Matts Villa, aber ein verdammt schönes Zuhause.

„Vielleicht wusste sie nicht, was es wert war. Oder …“ Rosie sah aus als würde sie Platzen, als sie sagte: „Vielleicht wusste sie, wie vielen Menschen du damit helfen könntest. Du könntest Stipendien für Leute einrichten, die sich kein Studium leisten können, oder Häuser für Menschen bauen, die sie brauchen.“ Sie machte eine weite Geste mit ihren Armen, als ob sie alle Möglichkeiten der Welt darin hielt.

Er erinnerte sich an die Worte von Karmen: Du wirst es wissen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um es weiter zu geben.

Seit so vielen Jahren hatte er auf ein Zeichen gewartet. Nun fragte er sich, ob er in Wirklichkeit auf Rosie gewartet hatte. Nicht nur, damit sie das Bild sah und den Künstler erkannte, sondern, was noch wichtiger war, um ihn mit der Art von Hoffnung zu erfüllen, von der er nicht geglaubt hatte, dass er sie jemals wieder empfinden würde.

„Ich muss Evan anrufen“, sagte er. „Kunst ist doch sicher Teil des Anlageportfolios vieler reicher Leute. Da wird er wahrscheinlich wissen, an wen man sich wenden muss, um herauszufinden, ob Correa das wirklich gemalt hat.“

Und wenn es sich wirklich um ein Gemälde von Miguel Fernando Correa handelte, würde das bedeuten, dass Gideon Pflegekindern wie Ari und Rosie und Chi helfen können würde. Er könnte Kriegsveteranen mit schrecklichen Verletzungen helfen oder denen, die es nicht schafften, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, denjenigen mit post-traumatischer Belastungsstörung. Er könnte den Familien der Soldaten helfen, die nie mehr zurückkommen würden.

Du wirst es wissen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um es weiter zu geben.

Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, wenn das Bild fünfzig Millionen verdammte Dollar wert war.

* * *

Rosie betete, dass sie Gideons Hoffnungen nicht völlig umsonst geweckt hatte. Aber ihr Bauchgefühl hatte es als richtig empfunden .

Sie wollte ihn nicht mit den Informationen überrumpeln. Aber sie war so überdreht und geradewegs lächerlich aufgeregt über das Bild – und all die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben könnten –, dass sie letzte Nacht kaum hatte schlafen können.

Natürlich war da auch die Tatsache gewesen, dass sie in Gideons Bett lag. Die Berührung seiner Lippen schlich sich in ihre Träume, als sie endlich eingeschlafen war. Und Junge oh Junge, es waren erotische Träume.

In sein Bett gekuschelt hatte sie sich weitere Gedanken darüber gemacht, wie sie sich nach Jorges Geburt von Männern ferngehalten hatte. Sie hatte nicht gewollt, dass Jorge sich an einen Mann band, nur um dann festzustellen, dass er sich als Widerling oder Lügner oder unzuverlässig oder mit mangelndem Durchhaltevermögen und Integrität entpuppte.

Aber Gideon war anders als alle Männer, die sie je kennengelernt hatte. Er war wie die Mavericks – gut, stark, fürsorglich. Obwohl es sich also richtig angefühlt hatte, nach ihrem Kuss gestern Abend die Pause-Taste zu drücken, war sie sich überhaupt nicht sicher, ob sie die Taste weiterhin gedrückt halten musste.

In einem Punkt war sie sich sicher. Genau in diesem Moment hatte Gideon den Blick eines Mannes, der von einem Elektroschocker erwischt worden war, seine Augen waren in seiner Überraschung hellblau – und in seiner aufkeimenden Hoffnung.

„Du wolltest mir doch auch etwas sagen?“, stieß sie leicht an.

Er nickte, seine Augen änderten erneut ihre Farbe, diesmal zu einer Kreuzung zwischen verblasstem und stürmischem Blau. „Ich habe ein wenig über Archie recherchiert. Ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich.“

„Hättest du nicht recherchiert, wärst du nicht der Mann, den ich …“ Sie brach ab, bevor sie die Ungeheuerlichkeit ihrer Gefühle für ihn ausplaudern konnte. Gefühle, die weitaus tiefer gingen als nur Begehren oder Freundschaft. Gefühle, die ihn sehr wohl zum Ausflippen bringen könnten, wenn er wüsste, wie stark sie waren. „Der Mann, den ich in den letzten Monaten kennen gelernt habe“, beendete sie den Satz. „Nun, dann erzähl mal, was du gefunden hast.“

Die Jungen waren noch in Noahs Zimmer und arbeiteten an ihrer Lego-Überraschung, und das Frühstück konnte noch einige Minuten warten.

„Der Versager hat eine Impressions Galerie in Las Vegas eröffnet. Es ist in den Forum Shops im Caesars Hotel. Er hat keine große Webpräsenz – nur eine Website mit nur einer Seite für Kontaktinformationen. Und er scheint nicht viel zu tun, um Werbung für seine Künstler zu machen. Nach dem, was ich finden konnte, wurde alles, was er verkauft hat, für riesige Geldsummen versteigert. Und er ist überall auf den Gesellschaftsseiten der Zeitschriften und Zeitungen, geht zu Galas und Eröffnungen. Ich kann mir nicht ganz zusammenreimen, warum er eine Galerie in einem Einkaufszentrum in Vegas eröffnet hat, statt in L.A. auf dem Rodeo Drive.“

Rosie hatte keine Ahnung, warum Archie nach Vegas gegangen war. Sie war einfach nur froh, dass er die Bay Area verlassen hatte. „Hast du den Ausschnitt des Fernsehinterviews mit seiner Frau gesehen?“

Gideon nickte. „Er ist aalglatt. So aalglatt, dass mein Instinkt schreit, dass da unter der Oberfläche noch etwas anderes vor sich geht.“ Genauso wie sein Bauchgefühl ihm gesagt hatte, seine Kameraden – und Karmen – an diesem schicksalhaften Tag in Ramadi zurückzuhalten. Er wollte nie wieder seinen Bauch ignorieren. „Etwas Zwielichtiges.“

Rosie öffnete wieder ihr iPad. „Weißt du noch einen der Namen seiner Künstler? Einen, dessen Bilder er verkauft hat?“

Er gab ihr einen Namen, den sie nicht kannte. Rosie tippte ihn ein. „Das ist wirklich seltsam.“

„Was?“

„Es gibt diesen einen riesigen Verkauf.“ Sie zeigte auf den kurzen Artikel, den sie gefunden hatte. „Aber sonst nichts. Gib mir einen anderen Namen.“ Und das gleiche Ergebniss tauchte auf. „Es ist nur ein einziger Verkauf. Und es ist seltsam, dass er für keinen der beiden Künstler eine Ausstellung hatte.“

„Sehr dubios“, stimmte Gideon zu und beugte seinen Körper vor, um sie anzusehen und nicht das iPad. „Wir wissen nicht sicher, ob diese Anrufe, die du bekommen hast, von ihm stammen. Aber wir müssen aufpassen.“ Er streckte einen Finger nach ihr aus und hob damit ihr Kinn an. „Du sagst mir doch Bescheid, wenn er wieder anruft, oder?“

Natürlich konnte sie auf sich selbst aufpassen. Das hatte sie schon seit Jahren getan. Aber sie liebte es, dass Gideon auch auf sie aufpasste. Genauso wie sie die süße Empfindung seiner Berührung liebte.

„Ich sage es dir“, versprach sie.

In diesem Moment warfen die Jungs die Tür von Noahs Zimmer auf und rauschten wie ein Mini-Tornado in die Küche. „Was gibt es zum Frühstück?“, fragte Noah.

Jorge gab von sich: „Ich bin am Verhungern.“

„Und wann können wir Mama anrufen?“, fragte Noah. „Wir haben einen riesigen Lego-Turm gebaut. Ich möchte ihn ihr über FaceTime zeigen.“

„Er ist auch für dich“, sagte Jorge und lächelte Rosie an.

„Gideon kann dir beim Telefonieren helfen, während ich das Frühstück mache“, schlug Rosie vor. „Wie wäre es mit Waffeln?“

Während sie kochte, fühlte sich Rosies Herz zum ersten Mal seit langem leichter an, obwohl eigentlich alles in ihrem Leben in der Luft zu hängen schien. Gideon würde nicht nur niemals zulassen, dass ihrem Sohn etwas Schlimmes zustieß, sondern die beiden bauten endlich eine Beziehung auf, die sich realer anfühlte als jede andere, die sie je gehabt hatte.