KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

Sein Herz sprudelte über vor Glück und der Tag war zu glorreich für Gideon gewesen, als dass er sich mit Archibald Findley hätte beschäftigen können – oder sogar mit der Vergangenheit und der Dunkelheit, die so lange im Mittelpunkt seines Lebens gestanden hatte. Alles, was er wollte, war, sich in den Gefühlen zu sonnen, die Rosie in ihm hervorrief – das Staunen, das Verlangen, die Leichtigkeit, das Lachen, die Hoffnung. Er wollte sich in dem Wunder ihres Liebesaktes sonnen. Und er wollte sich in dieser kostbaren Zeit sonnen, mit ihr und mit den Kindern.

Rosie schlug einen Ausflug durch die Santa Cruz Mountains zum Roaring Camp vor, das sich inmitten von Mammutbäumen neben dem Henry Cowell Redwoods State Park befand. Dort gab es Dampfzüge, die Passagiere hoch in die Berge oder runter an den Strand brachten sowie Kinderschminken, Goldwaschen, Square Dance und vieles mehr. Die Jungs waren sehr aufgeregt. Als sie in der Schlange warteten, um ihre Lunchpakete für die Fahrt auf den Bear Mountain zu holen, vibrierten sie nahezu vor Freude.

Rosie war die Schönheit in Person. Gideon konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden in ihrem Tank-Top mit Blumenmuster und ihren Jeans-Shorts. Ihre Beine waren sonnengebräunt und ihr Haar glänzte in den Sonnenstrahlen, die durch die Bäume drangen.

Noah und Jorge waren ekstatisch, als der Dampfzug den Berg hinauf schnaufte. Sie hielten sich an den Seiten des Freiluftwagens fest und lehnten sich zurück, um bis zu den Gipfeln der riesigen Mammutbäume und Douglasien zu blicken, winkten den Eichhörnchen zu, die über die Äste turnten, und stellten dem Schaffner eine Million Fragen über Züge. Nach anderthalb Stunden, als sie wieder in den Bahnhof tuckerten, bettelten die Kinder darum, ihr Gesicht schminken zu lassen. Sie bestanden auf ein Totenkopfmotiv wie beim mexikanischen Tag der Toten, während Rosie sie stattdessen lieber mit Blumen übersähen lassen wollte.

„Komm schon, Mom“, stöhnte Jorge. „Blumen sind für Mädchen.“

Rosie lachte und gab nach. Als der Künstler fertig war, machte Rosie Fotos von ihrer Verwandlung, um sie Ari und Matt per SMS zu schicken. „Wir sollten einen Spaziergang auf dem Rundweg durch die Mammutbäume machen, bevor wir gehen“, sagte sie zu Gideon und deutete dabei auf einen Weg durch den State Park.

„Klar. Klingt super.“ Alles, was sie vorschlug, war super. Denn mit ihr zusammen zu sein, war alles, wovon er je geträumt hatte.

Gideon konnte immer noch kaum glauben, dass der gestrige Abend tatsächlich passiert war. Sein Herz pochte im Schnellgang. Als er Hand in Hand mit Rosie den beiden aufgeregten kleinen Jungen hinterherlief, erkannte er, was wahres Glück bedeutet. Er hatte in der Vergangenheit Momente des Glücks erlebt: als Teenager, wenn er Ari beim Seilspringen zusah, ihr Gesicht fröhlich lachend; später als Erwachsener, als er und Zach einen herrlich lächerlichen Streich gespielt hatten, der alle Kameraden zum Lachen gebracht hatte; dann, als er nach Hause gekommen war, zu Ari und Noah und sie in Matts Pool spielen sah, das kindliche Kichern, Aris Lachen. Und vor allem Aris Hochzeit. Also, ja, es hatte Momente gegeben.

Aber die Freude in seinem Herzen, als er Rosies Hand in der seinen hielt – das würde ein Leben lang anhalten.

Die Gesichter der Jungs waren bemalt mit kunstvollen schwarz-weißen Totenköpfen – und auch Rosie hatte ihren Wunsch nach Blumen und Wirbeln vom Künstler erfüllt bekommen. Die Jungs rannten bereits weiter, hinüber zum Schmied, um ihm bei der Arbeit zuzusehen.

„Wir nehmen eine Stange geschmolzenes Metall und erhitzen es in der Esse.“ Der Mann erklärte den Vorgang, als er mit einer Zange einen Stab aus hoch erhitztem Metall aus den brennenden Kohlen zog. „Jetzt nehme ich diesen Hammer und schlage es auf dem Amboss in Form.“

„Was machen Sie da?“, fragte Noah.

Der ältere Mann hatte einen ergrauten Bart und auch sein Haar war wie eine graue Mütze. Er hatte durchdringende, braune Augen und starke Hände. „Dies soll ein Seepferdchen werden. Es wird ein Haken sein, an dem man in einer Scheune Sattel- und Zaumzeug aufhängen kann.“ Er sprach mit einem altmodischen Akzent, als wäre er wirklich ein Schmied aus dem neunzehnten Jahrhundert.

„Wow!“ riefen die Jungs gleichzeitig aus.

Für einige lange Momente ertönte ein lautes Hämmern. Dann begutachtete der Schmied seine Handarbeit und sagte: „Mal sehen, wo wir stehen.“ Er tauchte das noch glühende Seepferdchen in einen großen Metalleimer, das Wasser zischte und sprudelte rund um das Werkstück. Er hielt es hoch, damit die Kinder es sehen konnten, und sagte: „Ich habe noch ein bisschen Arbeit vor mir.“ Obwohl Gideon den geringelten Schwanz schon erkennen konnte, sah das Teil nicht wie ein Seepferdchen aus.

„Wie lange dauert es, bis das Seepferdchen fertig ist?“, fragte Rosie.

„Kommen Sie in ein paar Stunden wieder.“ Er lächelte fröhlich und hielt dann einen Finger hoch. „Aber ich habe hier eins in Arbeit.“ Er legte sein aktuelles Werkstück wieder in die Esse und fischte dann mit seiner Zange ein weiteres Stück Metall heraus. „Ich werde es einfach abkühlen.“ Er ließ es im Eimer sprudeln und hielt dann ein schön geformtes Seepferdchen hoch.

„Das ist fantastisch.“ Rosie war genauso enthusiastisch wie die Jungs.

„Jetzt bronzieren wir es.“ Er hielt das Seepferdchen mit seiner Zange fest, legte es auf den Amboss und polierte es mit einer Metallbürste. „Seht ihr, wie die Bronze von der Bürste direkt auf das Metall kommt?“ Er hielt die Bürste und das Seepferdchen hoch, damit die Jungen es sehen konnten. „Dieser kleine Kerl ist immer noch heiß genug, damit die Zinken der Metallbürste darauf schmelzen können. Und das Seepferdchen wird aufgehellt.“

Rosie und die Jungs lehnten sich nach vorne, um die Magie zu beobachten, als sich das graue Metall unter dem Pinsel in Bronze verwandelte.

„Wie lange sind Sie schon Schmied?“, fragte Gideon.

Der Mann lächelte erneut aus seinem faltigen Gesicht. „Oh, etwa zehn Jahre. Ich war Ingenieur im Silicon Valley, aber wenn ein Mann in Rente geht, muss er sich ein Hobby suchen, sonst verkümmert er. Also begann ich mit dem Schmieden. Ich komme jetzt seit etwa sieben Jahren hierher ins Roaring Camp. Alles, was Sie hier sehen …“ Er deutete mit der Hand auf die Werkzeuge hinter sich. „… wurde genauso damals im neunzehnten Jahrhundert benutzt. Und meine Waren stehen hier zum Verkauf.“ Er wies auf eine Reihe von Seepferdchen-Haken und Waldtiere als Türstopper, daneben gab es Schlüsselanhänger, dekorative Türscharniere, Kerzenhalter und kunstvolle Kreuze. Sogar Würfel.

„Die sind cool.“ Jorge hob zwei davon hoch. „Sie sind schwer.“

„Aus reinem Metall“, sagte der Mann. „Und schaut euch das hier an. Ich habe einen Fehler gemacht – es hat auf zwei Seiten eine drei.“ Er warf einen Würfel auf seinen hitzebeständigen Handschuh und hielt ihn vor sich ausgestreckt.

Die Jungs drehten den Würfel, um den Fehler zu erkennen.

„Ihr Jungs könnt ihn geschenkt haben, da er fehlerhaft ist.“

„Wow. Jorge hielt ihn in der Faust fest. „Danke.“

Gideon kaufte jedem der Jungen ein Paar Würfel, weil sie von der Arbeit fasziniert gewesen waren und weil der Mann so viel Zeit mit ihnen verbracht hatte.

„Das war eine großartige Lektion“, sagte Rosie. „Den Jungs hat es gut gefallen. Danke.“

„Gern geschehen, Ma‘am“, sagte der Hufschmied, als er mit seiner Zange das unfertige Seepferdchen auf seinen Amboss legte. „Kommen Sie wieder, wenn Sie sehen wollen, wie dieses hier fertig wird.“

„Machen wir. Danke.“ Gideon nahm Rosies Hand in seine, als sie weggingen. Sie zu berühren war so notwendig wie zu atmen.

„Können wir jetzt Gold waschen?“ Noah hüpfte auf den Zehenspitzen, die Aufregung pulsierte in jeder seiner Zellen.

„Klar doch“, sagten er und Rosie zur gleichen Zeit. Und so rannten die Jungs los und sie schlenderten gemütlich hinterher.

„Kannst du dir vorstellen, ein Hobby wie Schmieden aufzunehmen nachdem du in Rente gegangen bist?“ Rosie sah ihn mit vor Staunen hochgezogenen Augenbrauen an.

In der Army waren sie immer beschäftigt gewesen. Beschäftigt sein war gut, weil es geistig und körperlich auslastete. „Wenn du dir als Künstlerin deinen Lebensunterhalt verdienen könntest und nicht mehr als Buchhalterin arbeiten müsstest …“ Sein Ziel war es, Rosies Leben als Vollzeitkünstlerin zur Realität zu machen, weil sie so talentiert war. „… was würdest du als Hobby wählen? Oder würdest du die ganze Zeit malen, ohne aufzuhören?“

Sie überlegte ernsthaft. „Ich würde auch ein Hobby haben wollen. Kunst kann anstrengend sein, besonders wenn man seine ganze Seele hineinsteckt.“

„Ich weiß genau, was du meinst.“ Erinnerungen an den Tag im Legion of Honor huschten unausgesprochen zwischen ihnen hin und her.

Sie drückte seine Hand. „Ich weiß.“ Dann sah sie ihn an, ihr Blick plötzlich begierig. „Ich würde etwas wie Glasmalerei wählen. Und ich würde meine eigenen Muster erstellen.“

Die Jungs eilten zurück, um Geld für das Goldwaschen zu bekommen, während Rosie und Gideon langsam aufholten. Unter den Bäumen standen vier große Goldwaschstationen mit Pfannen voll Wasser und Schmutz, die bei Kindern und Eltern gleichermaßen beliebt zu sein schienen.

„Willst du Gold waschen?“, fragte sie.

„Nein.“ Er wollte die Freude der Jungs beobachten. Und er wollte Rosies Stimme hören, alles Erdenkliche über sie erfahren. „Glasmalerei passt gut zu dir. Ich kann mir all deine Fenster in brillanten Farben vorstellen.“

„Ich auch“, sagte sie. Dann lachte sie und fügte hinzu: „Oder vielleicht würde ich Kochkurse besuchen.“

„Aber du bist eine großartiger Köchin. Die Empanadas, die du für das Picknick im Legion of Honor gemacht hast, waren großartig.“ Er war sich ziemlich sicher, dass er es ihr damals vergessen hatte zu sagen. Er war an dem Tag in einer dunkleren Welt gewesen.

Sie lächelte ihn mit leuchtenden Augen an. „Ich bin froh, dass du das so siehst. Aber ich würde gerne verschiedene Küchen ausprobieren. Mein Papí hat mir mexikanische Spezialitäten beigebracht, aber was ich sonst so koche ist eher Standard. Ich würde gerne wirklich authentisches, indisches oder chinesisches Essen kochen.“

Die Jungen jubelten laut, als sie einen Goldfetzen fanden. „Es tut mir leid“, sagte der Betreuer, „aber das ist Pyrit. Man nennt es auch Katzengold.“ Der Enthusiasmus der Jungs beim Waschen wurde dadurch allerdings nicht getrübt.

„Was würdest du machen?“ Rosie stupste Gideons Arm freundschaftlich an. Er liebte die Leichtigkeit zwischen ihnen.

„Als ich in Riverside gearbeitet habe, habe ich in einem Wohnheim gewohnt, in dem der Garten voller Obstbäumen stand. Meine Vermieterin hatte Orangen, Avocados, Pflaumen und Kirschen. Und dazu noch einen überquellenden Gemüsegarten. Ich durfte alles pflücken, was ich wollte. Ich denke, das würde ich gerne machen. Mein eigenes Obst und Gemüse anbauen.“

„Ich könnte alle möglichen köstlichen Arten der Zubereitung lernen.“

Er grinste. „Ich könnte Fensterrahmen für all deine Glasmalereien bauen.“

„Was für ein Team.“ Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest.

Er wollte sie nie wieder loslassen. Rosie in den Armen zu halten, fühlte sich an, wie die Sterne und den Mond festzuhalten. Als würde man eine schöne, erstaunliche Blume in der Hand halten und sie aufblühen sehen.

Sie lehnte sich gegen ihn und mit seinem Arm um ihre Schultern beobachteten sie zusammen die Jungs. „Alle deine Hobbys sind wie du“, sagte er. „Künstlerisch, fantasievoll, kreativ.“

„Und deine finden alle unter freiem Himmel statt und du arbeitest mit deinen Händen.“

„Ich würde sagen, wir tun, was wir lieben. Es wäre irgendwie auch cool, Möbel zu schreinern.“

Sie löste sich aus der Umarmung, um ihn anzusehen. „Ich habe dich noch nie so viel reden gehört.“ Sie streichelte mit der Hand über sein Gesicht. „Ich finde es super.“

„Ich hatte noch nie so viel zu sagen.“ Es war so, als ob seine Erzählung von Karmen, von dem Gemälde mit den Engeln, von diesem Tag, dem schlimmsten seines Lebens, den Korken aus der Flasche herausgestoßen hatte, in der alles gespeichert gewesen war, was er in sich hineingefressen hatte. Und nun sprudelte alles hervor.

Für Rosie.

* * *

Es war der beste Tag aller Zeiten.

Rosie fühlte sich, als ob sie von innen heraus leuchten würde. Die letzte Nacht hatte alles verändert. Die letzten von Gideons Mauern waren eingestürzt. Es war nicht nur ihr Liebesakt gewesen, es war alles, was sie geteilt hatten, alles, was sie durchgemacht hatten. Gemeinsam.

Wenn er die Jungs ansah, war er der große Bruder, von dem Ari immer gesprochen hatte, lachend, redend, liebevoll, lehrend.

Und wenn er sie ansah, war er der Liebhaber und Beschützer, von dem sie immer geträumt hatte, ein wunderbarer, fürsorglicher, liebenswerter Mann.

Noah und Jorge rannten zu ihnen, jeder hielt einen winzigen Beutel mit Goldschnetzeln in der Hand.

„Manches davon ist Pyrit“, sagte Jorge weise.

„Aber etwas davon ist Gold“, sagte Noah aufgeregt.

Gideon zerzauste sein Haar. „Super. Wir müssen es aufheben, um es deiner Mom zu zeigen. Jetzt lasst uns einen Spaziergang auf dem Rundweg durch die Redwood-Bäume im Park machen.“

Die Jungen wollten Fotos von sich in einem riesigen Loch eines Baumes und mit gelben Nacktschnecken und dann noch eins auf einem hohen Baumstumpf. Dann wollten sie noch Bilder von Rehen, Eichhörnchen und einem Waschbären. Ihre Freude schien nie zu versiegen.

Gideon war unendlich geduldig, fürsorglich, interessiert. Und in den Momenten, in denen die Jungen nach vorne eilten, drückte er einen schnellen Kuss auf Rosies Haar, hielt mit ihr Händchen oder legte seinen Arm fest um sie.

Es war idyllisch. Es war eine Fantasie. Es war ihre neue Realität.

Dann piepte Gideons Handy. Er las die SMS und sah sie dann an. Und sein Blick wurde zu einem dunklen und stürmischen Blau. „Von Evan. Die Jungs haben einige Informationen für uns.“ Er hatte Archies Namen nicht erwähnt. Das musste er auch nicht.

„Gut. Ich will das mit ihm zu Ende bringen. Ich will, dass er für immer verschwindet.“ Sie wollte, dass ihr neues Leben mit Gideon sofort beginnen konnte. Sie ging auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um ihn. „Das war der beste Tag aller Zeiten.“

Er hielt sie fest. „Morgen wird noch besser sein.“

Es fühlte sich an wie ein Gelöbnis, das er für ihre Zukunft ablegte. Eine Zukunft, die sie fest entschlossen haben wollte.