Obwohl sie gerade kurz vor der größten Konfrontation ihres Lebens stand, hatte Rosie keine Angst. Dank der Unterstützung aller Mavericks fühlte sie sich stark.
Und vor allem, weil Gideon direkt vor der Tür auf sie wartete.
Gideon. Er war ein wahrhaftiger Krieger – so hart, so unbeweglich, bis man den schönen und sanften Mann unter all seinen Schichten entdeckte.
Sie konnte fühlen, wie seine Liebe zu ihr den Gehweg entlangströmte und eine feste Verbindung zwischen ihnen schuf. Ein Lichtstrahl, der nicht gebrochen werden konnte. Sie wollte sich umdrehen und zu ihm zurücklaufen, ihn noch einmal küssen, seine Arme noch einmal um sie spüren.
Aber das würde ihre Belohnung sein, wenn sie die Tat vollbracht hatte.
Dieses Restaurant wartete mit den gleichen Kristallglaswaren und dem gleichen schicken Drumherum auf, die Archibald Findley schon immer gebraucht hatte. Sein Tisch stand im hinteren Bereich auf einem erhöhten Podest, das von einem kurzen Geländer umgeben war.
Archie war der gleiche polierte, verwöhnte, arrogante Widerling wie gestern. Er blickte auf die anderen Gäste, als seien sie seine Lakaien, die Augen waren dunkel und tastend. Der heutige Anzug war schwarz mit Nadelstreifen, sein dunkles Haar, das genau im richtigen Maße ergraut war, um vornehm zu wirken, war perfekt frisiert, als ob ihn jeden Morgen ein Stylist frisierte. Seine Nägel waren wie immer makellos manikürt und er hatte seinem Aussehen akribische Aufmerksamkeit gewidmet. Von weitem sah er aus, als sei er aus der Leinwand herausgetreten, um seine Fans zu verzaubern. Und genau das war es gewesen, was Rosie nicht verstanden hatte, als sie jung und naiv war. Bei Archie ging es nur um den Schein. Ihm fehlte es völlig an Substanz. Er verteilte nur blumige Worte, die keine wirkliche Bedeutung hatten. Er hatte wahrscheinlich Jahre der Übung gebraucht, um diese Persönlichkeit zu perfektionieren.
Kein Wunder, dass sie darauf reingefallen war. Männer und Frauen, die doppelt so alt waren wie sie, fielen auf die aalglatte Archibald-Findley-Fassade herein. Er trat so charmant, weltmännisch und raffiniert auf, dass es schwierig war, den Schleim zu sehen.
Jahrelang hatte sie sich selbst die Schuld dafür gegeben, dass sie ihm vertraut und ihn nicht durchschaut hatte. Aber die Wahrheit war, dass sie einfach nicht alt genug oder weltgewandt genug gewesen war, um all die Zeichen zu erkennen. Sie erkannte sie erst, als es zu spät war.
Aber nun hatte sie ihn durchschaut. Und sie würde niemals zulassen, dass er Jorge etwas antat.
Rosie lächelte den Oberkellner an, als sie an ihm vorbeikam. „Keine Sorge. Ich finde den Tisch allein.“
„Ich habe einen Drink für dich bestellt“, sagte Archie, als sie sich setzte.
Natürlich hatte er das. Es war derselbe Champagner, mit dem er sie vor sieben Jahren bezirzt hatte, obwohl sie damals noch minderjährig war.
Sie schob das Glas unberührt zur Seite. „Als ich gestern gefragt habe, was du von mir willst“, sagte sie, ohne dabei um den heißen Brei zu reden, „hast du eine Bemerkung fallen lassen, dass du mir die Last nehmen willst, die Alleinerziehende tragen müssen. Aber ich weiß, was du wirklich willst.“ Sie wartete einen Augenblick. „Du willst mir meinen Sohn wegnehmen.“
„Ihn wegnehmen? Ich würde niemandem je etwas wegnehmen.“ Archie warf ihr einen so offensichtlich falschen Unschuldsblick zu, dass er das durchscheinende reine Böse nur noch verstärkte. „Ich habe mein Bestes getan, um deiner Kunstkarriere zu helfen. Erinnerst du dich nicht?“
„Natürlich, Archie, ich erinnere mich an alles.“ Sie genoss die Grimasse auf seinem Gesicht, als sie den verhassten Spitznamen benutzte. „Ich erinnere mich, dass du mir überhaupt nicht geholfen hast. Wie du mich sabotiert hast. Wie du mich belogen hast. Und wie du in den sieben Jahren, seit dem Tag, an dem ich dir von seiner Existenz erzählt habe, nie auch nur eine einzige Sache für meinen Sohn getan hast, nie auch nur ein Quäntchen Hilfe angeboten hast. Ich weiß noch, wie du einfach verschwunden bist. Puff. “ Sie machte eine Geste mit ihren Fingern wie Rauch, der sich verflüchtigte. „Also, nein, ich brauche deine Art von Hilfe nicht. Was bedeutet, dass es wirklich keinen Grund für dich gibt, mich noch einmal anzurufen.“ Sie gab ihm eine letzte Chance, seinen guten Ruf wiederherzustellen, indem er zustimmte.
Aber natürlich nahm er sie nicht an. Sie hatte es auch nicht erwartet.
„Rosie.“ Er schüttelte den Kopf, als wäre sie eine große Enttäuschung für ihn. „Unabhängig davon, wie du über die Vergangenheit denkst, kannst du nicht leugnen, dass ich mir bessere Schulen, eine bessere Krankenversicherung, bessere Chancen und all die wichtigen Dinge, die unser Sohn wirklich braucht, leisten kann.“
Das Wörtchen unser machte sie richtig wütend, aber es gelang ihr, weiterzumachen, ohne ihm den Champagner ins Gesicht zu kippen. „Aber nur, wenn er nach Las Vegas kommt, um bei dir zu leben, nicht wahr?“
Seine Augen leuchteten auf. Er war sich so sicher gewesen, dass er sie in die Enge getrieben hatte. Der aufgeblasene Bastard. „Wenn Jorge bei mir und meiner Frau in Las Vegas einziehen würde, würde das die Dinge so viel leichter machen, meinst du nicht? Natürlich kannst du auch in die Stadt ziehen, wenn du ihm näher sein willst.“
Da war es. Er hatte es tatsächlich ausgesprochen. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst, aber es war ein gutes Gefühl, ihren Verdacht bestätigt zu bekommen. Aber es war ein ebenso schreckliches Gefühl, daran zu denken, dass Jorge jemals mit Archie und seiner Frau zusammenleben würde. Galle schoss ihr in den Hals. Niemals. Das würde sie niemals zulassen.
„Nun“, sagte Rosie und lehnte sich nach vorne, „ich sage dir mal, was leichter sein wird. Du wirst dich zurückziehen. Für immer.“
Er sah sie an, als hätte sie weniger Gehirnzellen als eine Fliege. „Rosie, Schätzchen, das kann ich nicht guten Gewissens tun. Du weißt, dass er mich braucht.“
Sie zwang sich, das eklige Schätzchen zu ignorieren. Sie kam nicht umhin, sich zu fragen, wo sein gutes Gewissen wohl gewesen war, als er ihr damals gesagt hatte, sie müsse ihre Schwangerschaft allein bewältigen. Sie hätte ihn fragen können. Aber er hatte sicher eine aalglatte Antwort darauf fertig einstudiert. Und sie hatte keine Lust mehr auf seine aalglatten Antworten. Stattdessen sagte sie: „Er braucht niemanden wie dich.“
Sie griff in ihre Oversize-Handtasche und holte Kopien der Mappe hervor, die die Mavericks zusammengestellt hatten. Sie legte die Mappe auf den Tisch, verschlossen. Wie eine riesige, unangenehme Wahrheit im Raum. Wie das Stückchen Spinat zwischen den Zähnen, das sich keiner anzusprechen traute. Wie eine tickende Bombe, die niemals rechtzeitig entschärft werden konnte.
Archies Blick schoss direkt darauf. Er blieb einige Sekunden darauf hängen. Dann blickte er hoch und lächelte, als gäbe es keinen Grund zur Sorge. Als könne ihn nichts aus einer von ihr mitgebrachten Mappe möglicherweise verletzen.
„Ich glaube, du hattest einen Grund, nach Vegas zu ziehen“, sagte sie und drängte ihn nach vorne. In Richtung einer Falle, die er sich ganz allein gestellt hat.
„San Francisco war viel zu trostlos.“ Er schauderte dramatisch, immer noch überheblich, immer noch nichtsahnend, immer noch glaubend, er habe die Oberhand. „Das ganze Jahr über Sonne zu haben, ist viel attraktiver.“
„Das glaube ich gern“, stimmte sie zu, „aber ich glaube, du hattest auch einige Geschäftspartner, die eine größere Nähe zu ihnen verlangten.“ Sie tippte auf die Mappe. „Deine Galerie ist reiner Betrug.“ Sie wollte keine Szene machen und vermeiden, dass viele mithören konnten, also hielt sie ihre Stimme gesenkt, damit sie durch den Lärm der Mittagsgespräche überdeckt wurde. Sie lehnte sich näher heran, so nahe, wie sie konnte, ohne sich wegen des Geruchs seines überwältigenden Parfüms übergeben zu müssen, und sagte: „Um genauer zu sein, deine Galerie ist eine Strohfirma. Eine Front für Betrug. Bilder wechseln den Eigentümer. Geld wechselt den Eigentümer. Und dann lässt du es für Gauner so aussehen, als sei ihr Geld sauber.“ Sie öffnete die Mappe, las einen Namen vor, einen großen, bösen Namen, einen, von dem selbst sie schon gehört hatte.
Endlich war sein Lächeln verschwunden. Und seine Augen waren sehr kalt und sehr dunkel geworden. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Aber er schluckte hart genug, dass sein Adamsapfel auf und ab wippte.
Sie fuhr mit einer glättenden Handbewegung über die Mappe. „Die Beweise waren recht leicht zu beschaffen. Mein Ermittler brauchte tatsächlich weniger als vierundzwanzig Stunden, um sie zusammenzustellen.“
„Ermittler?“ Er wurde blass unter seiner Las-Vegas-Bräune.
„Du glaubst, dass du mich so gut kennst, Archie. Du denkst immer noch, ich sei das naive achtzehnjährige Mädchen, das du einst ausgenutzt hast. Aber es zeigt sich, dass du mich überhaupt nicht kennst. Und was du nicht bedacht hast, ist, dass ich Freunde habe, sehr mächtige Freunde. Und sie wissen genau, wie man mit einem Wiesel wie dir umgeht.“
„Verdammte …“ Das Schimpfwort wollte nicht herauskommen, als er sich umsah und dann die Stimme senkte. „Ich habe nichts getan. Du kannst nichts beweisen.“
„Das sehe ich anders. Du hast viel gemacht. Mehr als ich je gedacht hätte, dass du dazu fähig bist, um ehrlich zu sein. Es steht alles hier drin.“ Sie streichelte die Mappe liebevoll. „Und heute Nachmittag geht alles an die Staatsanwaltschaft.“
Er atmete schwer und schnell bei dem Gedanken, den Preis für all die schmutzigen Geschäfte, die er gemacht hatte, tatsächlich zahlen zu müssen. „Wie kannst du es wagen, du kleine …“
Sie hielt eine Hand hoch, um seine leise Tirade zu beenden. „Die Sache ist so. Solche Fälle können auf zwei Arten und Weisen verhandelt werden. Es kann milde ausgehen. Oder es kann schlimm werden. Wirklich schlimm. Vor allem, wenn sie sich dazu entschließen, an dir ein Exempel zu statuieren für all die anderen Möchtegern-Geldwäscher durch Kunstverkäufe da draußen.“
Er öffnete seinen Mund, schloss ihn wieder. Vielleicht war es Angst. Vielleicht glaubte er nicht, dass sie tatsächlich in der Lage war, ihre Drohungen zu verwirklichen. Aber damit läge er völlig falsch.
Sie war äußerst fähig. Schon immer.
„Nun, meine Freunde“, fuhr sie fort, „haben Kontakte. Zu mächtigen Menschen. Zu wichtigen Menschen. Menschen, die es dir leichter machen können.“ Sie zuckte die Achseln. „Oder sie können die Daumenschrauben anziehen, bis es wirklich, wirklich weh tut.“
„Was zum Teufel willst du?“
„Lustig, als ich dich das gestern gefragt habe, habe ich keine Antwort bekommen.“
Archie war ein Wurm im Gras, der sich wand und krümmte. „Was willst du?“, fragte er erneut. Seine Worte waren so gedämpft, so voller Angst und Schock, dass sie fast seine Lippen lesen musste.
„Lass mich und meinen Sohn in Ruhe. Er war nie dein Sohn. Du hast ihn schon vor seiner Geburt abgelehnt. Du hast ihn verleugnet. Du hast ihn ignoriert, bis du plötzlich Verwendung für ihn hattest. Ich würde nie wollen, dass ein Mann wie du der Vater von jemandem ist. Ruf uns also nicht an, komm nicht in unsere Nähe, lass dich nicht mal im gleichen Bundesstaat nieder wie wir. Nie wieder. Und aus keinem Grund.“
„Und wenn ich tue, was du verlangst, wirst du die Informationen nicht weitergeben?“
Sie schnaubte leise und schüttelte den Kopf, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Natürlich werde ich die Daten weitergeben. Es ist meine Bürgerpflicht. Aber da ich weiß, wie raffiniert du schon immer warst, bin ich sicher, dass du einige wichtige Leute verraten kannst, eine Verständigung erzielen und wahrscheinlich mit wenig bis gar keiner Gefängnisstrafe davonkommen wirst.“ Sie wartete einen Augenblick. „Wenn du die Hilfe meiner Freunde willst zumindest.“
„Du …“ Er nannte sie nicht so, wie er sie nennen wollte. Er hatte jetzt Angst. Mächtig Angst.
War es böse von ihr, dass sich das gut anfühlte?
Kein bisschen, entschied sie.
„Wenn du meinen Sohn nicht in Ruhe lässt“, fuhr sie fort, „werden meine Freunde dafür sorgen, dass du keine Verständigung erzielen kannst. Und dann kannst du mit einer extrem langen Gefängnisstrafe rechnen. Ich habe so viel geredet, dass ich doch glatt meinen Champagner vergessen habe.“ Sie nahm einen Schluck, und nie hatte Champagner besser geschmeckt. Dann schob sie die Mappe über den Tisch. „Das kannst du übrigens haben. Nur damit du weißt, dass ich nicht bluffe. Aber die Originale gehen an die Behörden.“
Er öffnete die Mappe, blätterte ein paar Seiten um, hielt inne, las wieder weiter. Dann sah er sie an. Sein übliches selbstgefälliges Gesicht war gezeichnet von tiefen Falten, die nur wenige Minuten zuvor noch nicht da gewesen waren. Seine Haut war grau, und er war um zehn Jahre gealtert. Er schaute sich noch einmal die Papiere in der Mappe an, alle Absätze, alle Sätze, alle Worte, die ihn zu Fall brachten. „Wenn ich euch in Ruhe lasse, schwörst du mir, dass du dafür sorgst, dass ich nicht ins Gefängnis komme?“
„Wenn du mich und Jorge in Ruhe lässt und als Kronzeuge aussagst, bin ich sicher, dass du in der Lage sein wirst, eine Art Übereinkunft zu erzielen. Aber das liegt an dir.“
In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wie so etwas tatsächlich funktionierte. Ein großer Teil von ihr hoffte, die Mavericks würden ihn verrotten lassen. Das war nicht weniger als Archie verdient hatte.
Aber sie wusste, dass die Mavericks Männer ihres Wortes waren, und wenn Archie in jeder Hinsicht kooperierte, würden sie ihr Versprechen halten.
„In Ordnung“, sagte er. „Du hast gewonnen.“
Da sie ihr Ziel erreicht hatte, erhob sich Rosie und sagte: „Lebwohl, Archie.“ Dann drehte sie sich um und verließ ihn zum allerletzten Mal.
Sie lief zu Gideon, der an der Stelle auf sie wartete, an der sie ihn verlassen hatte.
Ihr Krieger.
Ihre Liebe.
Ihr für immer .