KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

Warum dauerte das Treffen so lange?

Es waren die längsten und schlimmsten Minuten in Gideons Leben. Er konnte fast seine Uhr ticken hören, obwohl sie digital war.

Und dann war sie da und rannte über den Bürgersteig auf ihn zu. Gott sei Dank. Er hob Rosie hoch und hielt sie fest an sich gedrückt. Er war einige lange Momente nicht in der Lage, zu sprechen, da er von einer tiefen Dankbarkeit gepackt worden war.

„Es ist perfekt gelaufen“, sagte sie, als er ihre Füße endlich wieder auf den Boden sinken ließ. „Er hat schreckliche Angst. Er wird uns in Ruhe lassen.“

Gideon strich ihr mit dem Finger über die Wange und atmete ihren süßen Duft ein. „Ich bin so stolz auf dich.“ Sie standen mitten auf dem Bürgersteig, überall waren Menschen um sie herum, aber sie musste es erfahren – er musste ihr sagen, was er vor keiner anderen Seele zugegeben hatte. „Ich habe mir Vorwürfe gemacht, dass ich Karmen nicht dazu bringen konnte, innerhalb des gesicherten Geländes zu bleiben.“

„Ich weiß.“ Ihre Stimme war so sanft, so verständnisvoll. „Auch wenn niemand sonst dir die Schuld gegeben hat.“

„Aber weißt du, was das eigentliche Problem war?“ In diesen langen, quälenden Minuten, in denen er auf Rosie hatte warten müssen, hatte er es endlich herausgefunden. „Ich habe ihr nicht vertraut, dass sie auf sich selbst aufpassen kann.“ Er hatte ihr nicht einmal genug vertraut, um ihr zu sagen, was er für sie empfand. „Wir haben darüber gestritten, dass ich sie immer gebeten habe, nicht zu gehen, ihre Arbeit nicht so zu tun, wie sie es für richtig hielt. Wir haben kurz vor dieser letzten Mission darüber gestritten.“ Er schluckte hart. „Ich weiß, dass sie nicht deshalb gestorben ist. Aber ich weiß auch, dass sie nicht gestorben ist, weil sie unachtsam war. Sie ist gestorben, weil sie tat, was getan werden musste, weil sie eine Heldin war, wie alle anderen in meinem Team. Ich werde immer den Schmerz empfinden, dass es sie getroffen hat und nicht mich. Ich kann gar nicht anders. Aber anstatt mit ihr zu streiten, hätte ich Karmen vertrauen sollen, dass sie ihrer Aufgabe als Soldatin gewachsen war.“ Ein Passant, der den Bürgersteig entlangeilte, drängte Gideon näher an Rosie heran. „Damals habe ich nicht verstanden, wie stark Frauen sein können. Aber jetzt weiß ich es, Rosie. Weil du und Ari und Chi, Paige und Harper und Charlie und Tasha, ihr Mavericks, mir geholfen habt, es zu erkennen. Aber besonders du, Rosie, wie du einfach alles für Jorge tust – und gleichzeitig lässt du dich auch von niemandem ausnutzen.“

„Ich kümmere mich schon seit langem um mich und Jorge.“ Sie legte ihre Hand um seinen Nacken und zog ihn noch enger an sich heran. „Aber zu wissen, dass du heute hier draußen warst, um mich zu unterstützen, als ich dich brauchte, hat mir geholfen im Angesicht des Bösen stark zu bleiben. Du und ich, wir sind zusammen am stärksten, Gideon. Zusammen können wir alles erreichen.“

Und in genau diesem Moment wurde ihm klar, was die wahre Bedeutung von Karmens Geschenk war. Er zog Rosie um eine Ecke, weg von der überfüllten Straße. Dann stellte er sie mit dem Rücken zur Wand. „Ich habe gerade verstanden, warum Karmen sagte, es sei Magie in dem Bild. Es geht darum, dass zwei Menschen dann so stark sind wie es nur irgend geht, indem sie sich aneinander anlehnen, sich gegenseitig helfen und einander vertrauen.“

„Das ist wirklich Magie“, stimmte Rosie zu. „Und gleichzeitig so einfach.“

Seine Stimme war durchdrungen von einer neuen Kraft und Gewissheit, als er sagte: „Ich muss das Bild verkaufen.“

Rosie sah sein Gesicht lange und ausgiebig an. „Du bist dir völlig sicher, dass du Karmens Bild jetzt loslassen kannst, oder?“ Es war nicht einmal eine Frage. Rosie kannte ihn in- und auswendig, wusste alles, was es zu wissen gab.

Er nickte und war sich nie zuvor einer Sache sicherer gewesen, abgesehen von der Tatsache, dass er Rosie und Jorge mit jeder Faser seiner verloren geglaubten Seele liebte. „Mit dem Erlös des Verkaufs kann ich den Menschen helfen, die Kraft in sich selbst zu finden. Die Stiftung, die wir gründen können, wird so auftreten, als ob wir vor ihrer Tür stünden und ihnen eine helfende Hand reichten.“

„Das finde ich wunderbar, Gideon. Es ist so perfekt. Du kannst so viel Gutes damit tun.“

Wir , Rosie.“ Er strich über ihre Wange. „Ohne dich hätte ich das nie verstehen können, wo ich doch so lange nur am Rande gestanden habe.“ Denn genau das hatte er zehn lange Jahre lang getan. Er hatte abseits der Gesellschaft gelebt, sich in den Schatten versteckt. Selbst nachdem er Ari wiedergefunden hatte, hatte er nicht wirklich Anteil genommen, hatte nicht wirklich gelebt, abgesehen von den Zeiten, in denen er sich im Umgang mit den Jungs gehen ließ. „Wirst du mit mir zusammenarbeiten, um eine Stiftung zu gründen, in der wir Veteranen und ihren Familien helfen können?“ In seinem Kopf wirbelten allerhand Möglichkeiten herum. „Wir könnten auch Kinder im Pflegefamiliensystem unterstützen. Menschen wie mir und Kindern wie dir und Ari und Chi. Wir könnten Menschen helfen, die ein Team zur Unterstützung brauchen, und sie zusammenbringen. Was sagst du, Rosie? Wirst du mein Team sein, mit dem ich die Sache ins Rollen bringe?“

„Ja“, sagte sie und hielt ihn fest. „Ja zu jeder einzelnen deiner tollen Ideen.“

„Ich liebe dich. Ich liebe dich so so sehr.“ Er hob sie hoch, wirbelte sie herum und brachte sie so zu einem freudigen Lachen. „Das möchte ich dir jeden Tag für den Rest unseres Lebens sagen. Du bist mein Herz. Du bist meine Seele. Du hast mich befreit.“

* * *

Gideon war ein neuer Mensch. Er lächelte mit dem ganzen Gesicht, sogar mit seinen schönen, himmelblauen Augen.

Er war immer stark gewesen. Treu. Fantastisch. Aber jetzt konnte Rosie zum ersten Mal sehen, dass er wirklich glücklich war.

So glücklich wie sie auch. Er würde der beste Vater für Jorge sein – ein Mann, zu dem Jorge würde aufschauen können, die Art von Mann, die auch aus Jorge werden sollte. Und der beste Lebenspartner für sie.

Sie waren wirklich stark, weil sie zusammen waren, weil sie sich gegenseitig Kraft gaben, anstatt sich zu schwächen. Sie war durch diese Anrufe gelähmt gewesen. Aber als sie ihre Angst mit Gideon geteilt hatte, war sie auf die Lösung gekommen. Es mit ihm zu teilen und ihm zu vertrauen, hatte ihr Kraft gegeben. Genauso wie Gideons Erzählen der ganzen Geschichte rund um die Ereignisse im Nahen Osten und sein Vertrauen zu ihr ihm die Kraft gegeben hatte, sich endlich selbst zu verzeihen – und sein Herz erneut aufs Spiel zu setzen.

Als sie zu Evan und Paige zurückkamen, nahm sie Jorge sofort in die Arme. Ihr war nicht einmal bewusst gewesen, wie angespannt sie in den letzten Tagen gewesen war, seit sie den ersten Anruf erhalten hatte. Nun, da sie ihren Sohn mit Küssen überdeckte und in ihrer Seele wusste, dass er in Sicherheit war, konnte sie endlich alles loslassen.

„Ich liebe dich, mein lieber Junge.“

„Ich dich auch, Mom.“ Dann rannte er blitzschnell zurück zur gigantischen Lego-Stadt, die er und Noah auf dem Esstisch mit den neuen Lego-Steinen bauten, die Paige wohl bestellt hatte.

„Ich nehme an, es ist gut gelaufen?“, fragte Evan.

Die Freude spiegelte sich in ihrem nicht enden wollenden Lächeln wieder. „Auf jeden Fall. Mein Ex ist zu hundert Prozent neutralisiert.“

„Ausgezeichnet. Ich werde alle Beweise, die Rafe gefunden hat, an meine Kontaktperson bei der Staatsanwaltschaft weiterleiten.“

„Und nochmals vielen Dank“, sagte Gideon. „Für alles.“ Er schüttelte Evan die Hand, und im nächsten Moment wurde daraus eine dieser Männer-Umarmungen, bei denen sich beide auf den Rücken klopften. Es war ziemlich niedlich. Rosie und Paige schlossen sich an, so dass sich alle vier in einer Gruppenumarmung wiederfanden.

„Okay“, sagte Paige, „ich muss euch um den allergrößten Gefallen bitten. Ich weiß, dass ihr viel durchgemacht habt, und ihr seid wahrscheinlich besorgt, wenn Jorge nicht bei euch ist. Aber besteht die Möglichkeit, dass die beiden bei uns über Nacht bleiben dürfen? Wir haben heute einfach so viel Spaß. Ich wollte den beiden gerne zeigen, wie man Eis macht. Ich hab diese neue Eismaschine.“ Paige konnte ihre Aufregung kaum zurückhalten, während Evan liebevoll zuschaute. „Wir haben neue Gästezahnbürsten, und ich verspreche, dass es ihnen an nichts mangeln wird, wenn sie hier sind.“

„Paige, du bist so ein Schatz.“ Rosie hatte ihren Sohn berühren, küssen und umarmen müssen, als sie zurückkam. Aber er war hier bei Paige und Evan sicher. Sicher bei seiner Maverick-Familie. Und bei Gideon würde er immer sicher sein.

Bevor sie antwortete, sah sie zu Gideon. Schließlich waren sie jetzt ein Team. Als er nickte, lächelte sie und gab ihren Segen.

„Das ist so wunderbar.“ Paige klatschte in die Hände und Evan umfasste mit einer Hand ihren Nacken und zog sie an sich, sein Ausdruck so liebevoll, so zärtlich. „Evan und ich werden eine tolle Zeit mit den beiden haben.“

Evan nickte zustimmend, dann schaute er Gideon an. „Nochmal wegen des Gemäldes. Ich will dich keinesfalls zu einer Entscheidung drängen …“

Gideon hielt eine Hand. „Ich muss nur zuerst ein paar Dinge bestätigen, aber wenn alles so klappt, wie ich hoffe, können wir die Auktion durchführen. Und wenn wir mal mehr Zeit haben, würden Rosie und ich gerne mit dir darüber sprechen, wie wir die Erlöse für die Gründung einer gemeinnützigen Stiftung verwenden können, um Veteranen und Pflegekindern zu helfen.“

„Ich helfe euch wirklich gerne bei der Gründung einer gemeinnützigen Organisation. Wenn du dich aber entscheiden solltest, einen Teil des Auktionserlöses zu behalten, würde dir das niemand missgönnen.“

Gideon schüttelte den Kopf. „Ich brauche das Geld nicht.“ Er hob Rosies Hand und küsste ihre Knöchel. Dann schaute er hinüber zu Jorge im Esszimmer, seine Augen strahlten himmelblau. „Ich habe bereits alles, was ich mir jemals wünschen oder brauchen könnte.“

Rosie strahlte, als sie Paige umarmte, dann die Jungs, die sie umarmten und küssten, nachdem sie die tollen Neuigkeiten erfahren hatten, dass sie die Nacht mit Paige und Evan verbringen würden.

Rosie und Gideon gingen Hand in Hand zu seinem SUV. Im Auto winkte Rosie zum Abschied und sagte: „Paige ist schwanger.“ Nach all den schrecklichen Dingen, die Whitney, Evans Ex-Frau, getan hatte, würde es so wunderbar sein, wenn Evan und Paige endlich die Familie hätten, nach der sie sich beide so sehr gesehnt hatten. „Sie ist tief im Nestbau, backt Kekse, kauft Puzzles und Lego-Sets, besorgt sich eine Eismaschine und bittet darum, dass die Kinder übernachten dürfen.“

„Ich freue mich wirklich für die beiden“, sagte Gideon. „Sie haben beide einen harten Weg hinter sich gebracht, bevor sie endlich dort ankamen, wo sie sein sollten.“ Er drehte sich zu ihr und sah ihr in die Augen. „Genau wie mein Weg zu dir.“

Ihr Herz schmolz. Und dann erwärmte sich ihr Körper, weil sie wusste, dass sie eine ganze Nacht für sich allein hatten.

Eine Nacht, in der sie so laut sein konnten, wie sie wollten …