Würde man die Weltgeschichte als Film rasend schnell zurückdrehen, um festzustellen, von woher ihre antreibenden Kräfte eigentlich stammen, ginge dieser Film von den äußersten kleinen Verästelungen aus, in die sich die menschliche Kultur heute verbreitet hat. Ganz schnell käme das Silicon Valley in den Blick, das in die digitalisierte Welt kraftvolle Impulse ausgesendet hat, sicher auch das Paris der Französischen Revolution und womöglich Florenz, wo die Neuzeit begann. Doch mit der Zeit würde dieser Film gewiss auf eine bestimmte Stadt zulaufen: Rom. Und auf das legendäre Jahr seiner Gründung, 753 vor Christus.
Nicht dass das ägyptische Reich nicht auch zur Weltkultur beigetragen hätte, ebenso wie das babylonische und das persische. Aber diese Mächte sind längst im Staub der Jahrtausende versunken, ihre staunenswerten toten Überreste sind heute kalt und leblos. Und sicher wäre eine Weltgeschichte ohne die Beiträge Chinas und Indiens eine europäische Anmaßung. Doch diese Kulturen haben sich aus unterschiedlichen Gründen nie auf die ganze Welt ausgebreitet, sie blieben mehr oder weniger auf ihren Bereich beschränkt.
Dagegen haben es die Zufälle der Geschichte gefügt, dass ausgerechnet von der Stadt am Tiber eine Bewegung ausging, die nicht nur für Europa, sondern am Ende für die ganze Welt maßgeblich wurde und deren pulsierendes Herz – Rom – erstaunlicherweise immer noch schlägt. Rom ist einzigartig, weil es seit weit über 2000 Jahren Hauptstadt ist, nicht bloß Hauptstadt eines Landes oder einer Nation, sondern Hauptstadt der Welt. In der Antike am Ende Hauptstadt fast des gesamten damals bekannten Erdkreises und dann bis heute Hauptstadt der weltweiten katholischen Kirche.
Kein Wunder also, dass diese sagenhafte Stadt über die Jahrhunderte hinweg geniale Künstler angezogen hat, die hier, wie manche behaupten, das Größte und das Tiefste schufen, dessen menschliche Kreativität fähig ist. Und weil sie sich dabei bewusst waren, sozusagen im Zentrum der Welt ihre Stimme zu erheben, versuchten die begabtesten unter ihnen, das Wesentliche zu sagen, das, was nicht nur ihrem Leben Sinn gab.
Im Zeitalter der Fake-News muss nicht eigens begründet werden, dass Texte lügen können. Was Menschen früherer Jahrhunderte tatsächlich gedacht und gefühlt haben, was sie wirklich bewegt, begeistert oder bedrückt hat, das kann die Kunst viel glaubwürdiger zum Ausdruck bringen, als Chroniken und Jahreszahlen es vermögen. Allerdings nur dann, wenn Kunst als eine Botschaft für jeden verstanden wird. Denn zur Betrachtung durch alle Menschen wurde sie von den Künstlern geschaffen und nicht für Experten, die von Kunst vielleicht viel wissen, doch vor lauter Wissen womöglich nichts verstehen, weil sie hinter all den wohlbekannten Tönen keine Melodie mehr vernehmen, die doch in Wahrheit bis in unsere Zeiten klingt.
Menschen waren vor 2500 Jahren genauso intelligent wie wir, wie wir waren sie verzweifelt oder begeistert, boshaft oder gütig, sensibel oder hartherzig, wie wir stellten sie sich Fragen nach dem Sinn des Lebens. Und weder das kopernikanische Weltbild noch die Relativitätstheorie haben an diesen menschlichen Grundfragen etwas geändert. Deswegen sind auch die Antworten dieser Menschen vergangener Zeiten so lebensfrisch, wenn wir sie denn sehen, spüren und erleben können.
Als Kaiser Honorius im Jahre 403, sieben Jahre vor der erstmaligen Eroberung der Ewigen Stadt, Rom besuchte, pries der Dichter Claudian den überwältigenden Glanz, der sich hier in über einem Jahrtausend angehäuft hatte. Noch hundert Jahre später sollte der große Ostgotenkönig Theoderich ausrufen, ganz Rom sei ein einziges Wunder und fasse alle Wunder der Welt in sich zusammen. Im 7. Jahrhundert waren es die angelsächsischen Könige Konrad und Offa , die voller Ehrfurcht auf Knien die Stufen der alten Petersbasilika hochkrochen, ergriffen ihr wallendes Haar abschneiden ließen und die Mönchskutte nahmen. Vor Michelangelos Pietà in Sankt Peter haben Menschen zum christlichen Glauben gefunden und es war nicht zuletzt die Kunst der Heiligen Stadt, die bei vielen Malern im 19. Jahrhundert eine radikale Änderung ihres Lebens bewirkte. Doch auch die faschistischen Barbaren haben sich noch die majestätischen Ruinen des alten Rom zum Vorbild genommen für die gigantisch leeren Prunkbauten ihrer ruinösen Ideologie. Nicht nur das Schöne, Gute und Wahre, sondern auch das Hässliche, Böse und Gewaltsame, nicht nur der Sinn, sondern auch der Wahnsinn des Lebens haben in Rom ihre Triumphe gefeiert. Aber eben Triumphe! Die römische Geschichte ist keine Geschichte von Kleinigkeiten.
Und weil Rom immer noch ein lebendiges Gebilde ist, das zu uns spricht, manchmal nur flüsternd und raunend, dann aber wieder laut und klar, lag es nahe, den Versuch zu unternehmen, die Antworten auf die großen Fragen der Menschheit, aber auch auf die großen Fragen jedes einzelnen kleinen Menschen, in den heute noch sichtbaren Zeugnissen dieser faszinierenden Stadt zu suchen.
Als ich selber von 1980 bis 1982 zwei Jahre in Rom wohnte, hatte ich anfangs für einen Moment die Sorge, wenn ich Rom nun so gut kennenlernte, dann würde sein Zauber verschwinden, weil irgendwann nichts daran mehr geheimnisvoll wäre. Sehr schnell aber merkte ich, dass das ein kindischer Gedanke war. Denn je mehr ich in die geistige Geschichte dieser Stadt eingedrungen bin, desto mehr öffnete sich mir ein unendlicher Horizont, fand ich Überraschendes und Staunenswertes – bis heute.
Ein hochgebildeter Freund meiner Eltern, der selber lange in Rom gelebt hatte, erzählte gern von Gästen aus Deutschland, die auf seiner Terrasse den Blick über Rom schweifen ließen und denen dabei der Gedanke entschlüpfte, dass sie nun doch vielleicht ein Buch über Rom schreiben wollten. Darauf habe er stets mit leiser Ironie geantwortet, damit würden sie sicher eine klaffende Lücke der Weltliteratur schließen. Ich selbst habe nie auf jener Terrasse gestanden, aber ich habe viele Menschen erlebt, denen Rom mehr Licht in ihr Leben gebracht hat. Allerdings nicht, wenn sie es als bloße Touristen zur Kenntnis nahmen, die oft eingeschüchtert vom Viel-zu-Vielen mit ihren Augen an einer Leuchtreklame genauso hängen bleiben wie an einem prachtvollen Stadtpalais, während sich gleichzeitig ein Schwall gleichgültigen Wissens über sie ergießt. Wissen bildet nicht. Verstehen bildet.
Was Sie hier in der Hand halten, ist daher natürlich kein Reiseführer, da gibt es schon weiß Gott genug. Die Herausforderung dieses Buches ist vielmehr, das Bedeutendste zu verstehen, was die bedeutendsten Menschen mit äußerstem Einsatz und oft tiefer Inbrunst in der bedeutendsten Stadt der Welt zum Ausdruck gebracht haben. Weil aber das wirkliche Leben keine kitschige Idylle ist, blitzt sein Sinn oft gerade vor dem düsteren Hintergrund des Wahnsinns auf, zu dem Menschen fähig sind und der ebenso in Rom an manchen Orten zu Kunst geronnen ist.