Vier

Biden begann, etwas völlig Ungewohntem entgegenzusehen: einem Leben außerhalb eines Amtes. Doch andere waren skeptisch. »Ein Fisch wird schwimmen, ein Vogel wird fliegen, und Biden wird kandidieren«, sagte ein Freund Bidens einmal.

Biden sagte zu Ricchetti: »Ich will nur erreichen, dass ich weiterhin das tun kann, was ich schon immer getan habe. Wie kann ich auch in Zukunft an den Dingen arbeiten, an denen ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe, den Dingen, die mir am wichtigsten sind?«

Biden und Ricchetti skizzierten die Grundpfeiler seines zukünftigen Lebens: die Biden Foundation, die Biden Cancer Initiative (»Biden-Krebsinitiative«), das Penn Biden Center for Diplomacy and Global Engagement an der University of Pennsylvania und das Biden Institute an der University of Delaware.

»Hillary wird die Wahl gewinnen, und wir werden einen Weg finden, um einen Beitrag zu leisten«, sagte Biden.

Ein Jahr später, am 8. November 2016, versammelte Biden seine wichtigsten Berater im Naval Observatory, der Residenz des Vizepräsidenten, um die Entwicklung der Wahlergebnisse zu beobachten.

Der Abend fing gut an, nämlich mit Hochrechnungen, die einen Sieg Clintons erwarten ließen. Bidens Frau Jill entspannte sich und zog sich mit einem Buch und einem Glas Wein nach oben zurück.

Jill und Joe Biden sind seit 1977 verheiratet.1 Sie, die damals in der Gegend von Philadelphia als Lehrerin und hin und wieder als Model arbeitete, war ihm auf einem Werbeplakat am Flughafen aufgefallen, woraufhin er ihre Telefonnummer herausfand. Er machte ihr fünfmal einen Antrag, bevor sie bereit war, ihn zu heiraten.

Jill half ihm, seine zwei Söhne großzuziehen, und sie bekamen eine gemeinsame Tochter namens Ashley. Letzten Endes erwarb sie einen Doktorgrad als Dozentin und unterrichtete Englisch am Northern Virginia Community College. Sie joggte regelmäßig und bezeichnete sich selbst als introvertiert; sie fühlte sich nicht wohl im Rampenlicht und hielt ungern Reden, verteidigte jedoch ihren Mann mit Leidenschaft.

Je später es an jenem Wahlabend wurde, desto gewisser ließen die Hochrechnungen einen Sieg Trumps erwarten.2 Joe Biden war beunruhigt. Um 22:36 Uhr gewann Trump Ohio, um 22:50 Uhr Florida. Mitten in der Nacht, um 02:29 Uhr, erklärte die Nachrichtenagentur Associated Press Trump zum Wahlsieger, und bald darauf räumte eine schockierte Hillary Clinton ihre Niederlage ein.

Biden fing an, pausenlos zu telefonieren. »Mein Gott, gerade wurde die Welt auf den Kopf gestellt«, sagte er.

Während Biden im Erdgeschoss seines Hauses hin und her lief, sagte er Freunden, er habe schon lange gespürt, dass Clinton Probleme bekommen könnte. Er habe den Eindruck, Trump habe unter den einfachen Arbeitern in der Partei an Unterstützung hinzugewonnen, ohne groß darum kämpfen zu müssen.

»Im letzten Wahlkampf war kein einziger Satz über den Arbeiter am Montageband zu hören, der 60.000 Dollar im Jahr verdient, oder über die verheiratete Frau, die als Kellnerin in einem Restaurant 32.000 Dollar nach Hause bringt«, sagte Biden später einmal, im Jahr 2017 bei einem Auftritt an der University of Pennsylvania.3

Am 20. Januar hörte Biden sich Trumps drastische Rede zur Amtseinführung an, in der dieser von »American carnage« sprach, einem »amerikanischen Blutbad«, und machte sich dann daran, ein zweites Buch mit Erinnerungen zu schreiben: Promise Me, Dad (Versprich es mir: Über Hoffnung am Rande des Abgrunds).4 Es war ein Chance, das Andenken an Beau zu bewahren und über ihn zu schreiben. Ricchetti erklärte es anderen mit den Worten, das Schreiben sei für Biden eine »Suche nach einem Weg nach vorne für sein eigenes Leben« gewesen. Er habe damit zeigen wollen, dass ein Mensch die verstörendste Tragödie überstehen und dennoch in der Erinnerung daran einen Sinn finden kann.

Bald darauf war die Familie Biden erneut in den Schlagzeilen. Hunters Frau Kathleen hatte im Dezember diskret die Scheidung eingereicht und ihm Drogenmissbrauch und Untreue vorgeworfen. Sie hatte den Antrag gestellt, das Gericht möge sein Vermögen einfrieren. Am 1. März brachte die New York Post den ersten Bericht darüber, dass Hunter ein Verhältnis mit Beaus Witwe Hallie habe.5

Joe Biden gab gegenüber der Zeitung ein Statement ab: »Wir alle sind froh, dass Hunter und Hallie sich gefunden haben, dass sie nach so tiefer Trauer beschlossen haben, ihre Leben zusammenzuführen. Sie haben meine und Jills Unterstützung¸ voll und ganz, und wir freuen uns für sie.« Es war eine trostlose Zeit für Hunter. In seinen Erinnerungen schreibt er, seine Töchter seien durch sein Verhalten schockiert gewesen und sein Geschäft sei eingebrochen — immer mehr Kunden würden ausbleiben. »Schlimmer noch, ich rutschte wieder ab« in die Drogensucht.6

Joe Bidens zweites Buch Versprich es mir erschien im November 2017, drei Monate nach Charlottesville. Es war sehr persönlich, und Biden beschreibt darin die innere Leere, die ihn überwältigte. Doch dieses Mal war es Beau, der kurz vor seinem Tod zu ihm sagte: Reiß dich zusammen!

»Aber versprich mir, Dad, dass du klarkommst, ganz egal, was passiert. Versprich mir, Dad, dass du klarkommst. Versprich es mir, Dad«, wird Beau Biden in dem Buch zitiert. Und weiter heißt es dort:

»›Ich werde klarkommen, Beau‹, antwortete ich, aber das genügte ihm nicht.

›Nein, Dad‹, sagte er. ›Gib mir dein Biden-Ehrenwort. Gib mir dein Wort, Dad. Versprich es mir, Dad.‹

Ich versprach es ihm.«

Obwohl es Beau hier um das Wohlergehen seines Vaters ging, interpretierten viele den Buchtitel als Beaus Bitte an Biden, ihm zu versprechen, für die Präsidentschaft zu kandidieren.

Biden begann seine landesweite PR-Tour zur Vorstellung des Buches mitten im Wahlkampf zu den Kongresswahlen 2018.

Cedric Richmond war damals 44 Jahre alt und der einzige Demokrat, der als Abgeordneter Louisianas in den Kongress gewählt worden war. Außerdem war er Vorsitzender des mächtigen Congressional Black Caucus, der Vereinigung der afroamerikanischen Kongressabgeordneten. Er bat Biden, für die Black Democrats (die schwarzen Mitglieder der Demokratischen Partei) im Wahlkampf aufzutreten.

Richmond war ein aufgehender Stern der Demokratischen Partei und ein geschickter Stratege, dessen Kollegen im Repräsentantenhaus es für durchaus möglich hielten, dass er eines Tages der erste schwarze Sprecher des Hauses werden könnte.7 Er fand Gefallen an politischen Absprachen im Hinterzimmer und am Nachverfolgen der persönlichen Beziehungen im Repräsentantenhaus und der Demokratischen Partei.

Darüber hinaus hatte Richmond die Statur und das großspurige Auftreten eines prominenten Sportlers. Er hatte als Center Fielder und Pitcher im Baseballteam des Morehouse College gespielt, bevor er fortging, um Jura zu studieren.8 Er genoss den Ruf, beim jährlichen Congressional Baseball Game der einzige wirklich gute Spieler zu sein.

Richmond war aufgefallen, dass Biden überall willkommen war. Anderen bekannten Figuren wurde in bestimmten Gegenden des Landes mit Zurückhaltung begegnet; doch bei Biden, so erzählte Richmond anderen, »gibt es keinen Bezirk im ganzen Land, der ihn nicht will«. Einschließlich dem liberalen New York, dem Mittleren Westen, den konservativen Enklaven in den Randsiedlungen der Großstädte und dem Süden des Landes.

Auch Mike Donilon beobachtete genau, wie Biden bei den Bürgern ankam. Es war eine praktische politische Realität, wenn ein ehemaliger Vizepräsident 65 Kandidaten in 24 Bundesstaaten aktiv unterstützte. Donilon stellte sich die Schlüsselfrage: »Hat Biden nach wie vor echten Rückhalt in der Partei und im Land?« Und die Antwort, zu der er kam, war »Ja«. Bidens Buch hielt sich eine Woche lang an der Spitze der Bestsellerliste der New York Times.9 Er zog große Menschenmengen an.

Donilon und Ricchetti drängten Biden, noch einmal in den Wahlkampf zu ziehen. Sie sagten ihm, die Daten würden einen Weg in einer sich schnell verändernden Partei zeigen. Trump hatte die Motivation und die Prioritäten mancher Wähler der Demokratischen Partei verändert — inzwischen wollten sie vor allem Trump loswerden.

Bidens Chefstatistiker John Anzalone, der Sohn eines Lkw-Fahrers in Michigan, hatte seit Bidens erfolglosem Wahlkampf 1988 in Iowa mit ihm zusammengearbeitet. Er pflegte Präsentationen für Biden zu produzieren, die als »Anzo’s decks«, Anzos Kartenspiele, bekannt waren und Informationen über Kandidaten und Parteispender enthielten. Biden nahm sie auf seine Reisen mit, um sich vor jedem Wahlkampfauftritt entsprechend zu informieren.

Auf einer Folie hatte Anzalone geschrieben: »Die Wähler bei den innerparteilichen Vorwahlen der Demokratischen Partei neigten dazu, eher konservative, etablierte Kandidaten zu unterstützen als progressive Unruhestifter.«

Auf der letzten Folie kam er zu dem Schluss: »Es ist wichtig festzuhalten, dass es in der Wählerschaft keinen ausgeprägten Bedarf für eine jüngere Generation in der Parteiführung gibt.«

Biden wollte sich nicht festlegen, ob er kandidieren wollte. Er scheute davor zurück und ließ die Folien für sich sprechen.

»Cedric, gibt es irgendetwas, was ich für Sie tun kann, wenn ich auf meiner Buchtour zu euch runterkomme?«, fragte Biden Richmond, bevor er im Juni 2018 nach New Orleans kam, um sein Buch vorzustellen.

»Ich brauche niemanden, der Spenden für mich eintreibt«, sagte Richmond; er hatte seinen Abgeordnetensitz im Kongress sicher. Stattdessen schlug er eine Runde Golf auf dem Joseph M. Bartholomew Golf Course vor, einem historischen, öffentlich zugänglichen Golfplatz, der nach dem schwarzen Architekten benannt war, der viele der besten Golfplätze der Country Clubs in Louisiana geplant hatte, auf denen allerdings er selbst im segregierten Süden nicht hatte spielen dürfen.10

Als Biden dort ankam, stellte Richmond fest, dass er von einem einzigen Verlagsmitarbeiter am Golfplatz abgesetzt wurde — kein Personenschutz, keine Entourage. Nach den ersten neun Löchern begann es zu regnen, und die Gruppe zog ins Clubhaus, wo 30 ältere schwarze Golfer auf Biden warteten. Richmond ließ Tabletts mit Häppchen und Getränken servieren.

Richmond beobachtete Biden genau, während dieser im Raum herumging und Fragen stellte. Wie verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt? Sind Sie im Ruhestand? Sein Interesse schien echt zu sein. Einige der Anwesenden waren Vietnam-Veteranen; Biden erzählte ihnen, sein verstorbener Sohn sei Anwalt bei der Army gewesen, der sich für einen Einsatz im Irak freiwillig gemeldet habe. Er sprach über Beaus Krebstumor im Gehirn und die Wunde, die sein Tod gerissen hatte. Er hielt keine politischen Reden.

»Sie sollten kandidieren«, sagte einer der Männer. Ein anderer stimmte ihm zu, dann noch einer. »Kandidieren Sie!«, skandierten immer mehr Stimmen immer lauter.

»Ich werde mich nicht darauf festlegen zu kandidieren«, sagte Biden. »Ich will uns nur so weit bringen, dass wir Trump schlagen können. Aber ich muss nicht die Person sein, die ihn schlägt.«

Biden verbrachte zwei Stunden mit den Männern. Es war eine so aufrichtige zwischenmenschliche Begegnung, wie Richmond sie bei einem Politiker noch nie erlebt hatte.