2. Kapitel

Klaudia parkte ihren Wagen am Spreeschlößchen und schaltete die Zündung aus. Céline Dion verstummte und schaffte Raum für das leise Sirren in Klaudias rechtem Ohr, das sich nach der Trennung von ihrem Ex ebenfalls verabschiedet hatte. Im Laufe der Jahre hatte Klaudia immer besser gelernt, ihre Beeinträchtigung zu verbergen, und wenn dieses Sirren in ihrem tauben Ohr nicht gewesen wäre, würde sie selbst nicht einmal mehr daran denken. So war es eine ständige Erinnerung an ihren Ex. Klaudia schüttelte den Kopf über sich selbst. Arno verschwendete sicherlich keinen Gedanken mehr an sie. Er hatte jetzt Frau und Kind, während sie …?

»Stopp!« Klaudia visualisierte ein Stoppschild, wie sie es nach dem Hörsturz in der Kur gelernt hatte. Es hatte keinen Sinn, in Selbstmitleid zu versinken. Sie hatte sich hier im Spreewald ein neues Leben aufgebaut, Freunde gefunden und Kollegen, die sie schätzten. Sie stieg aus und schlenderte zum Anleger. Marko half gerade einem älteren Herrn über die Borte. Seine Frau saß bereits und streckte ihrem Mann hilfreich die Hände entgegen, die dieser heldenhaft ignorierte. Wahrscheinlich war es ihm schon zu viel, dass der Kahnführer ihm helfen musste. Im Kahn saßen bereits zwei Japanerinnen und einige Familien.

»Wie war dein Urlaub?« Marko bückte sich nach dem Rudel und nickte ihr zu.

»Gut«, fasste Klaudia ihre Reise in die alte Heimat kurz zusammen. Sie hatte viel Zeit am Bett ihres Vaters verbracht. Es war erschreckend gewesen, zu sehen, was die Demenz aus dem ehemals so klugen und agilen Mann gemacht hatte. Mittlerweile war er in der Endphase der Krankheit, und Klaudia konnte nur hoffen, dass er es bald geschafft hatte und sein Körper seinem Geist folgen würde, wohin immer der sich verabschiedet hatte.

»Schiebschick wartet schon auf dich.«

»O Mist, die Deko!« Klaudia hastete zu ihrem Peugeot zurück und wuchtete das Paket aus dem Kofferraum. Schiebschick hatte sie letzte Woche gebeten, mit ihm zusammen etwas Gruseliges in diesem Internet, wie er sich ausdrückte, zu besorgen. Er wolle seinen Kahn für die jährliche Geisterfahrt schmücken. Klaudia hatte leichtfertig zugesagt, ihre Bereitschaft allerdings bereut, kaum hatte sie den Begriff in die Suchleiste ihres Browsers getippt. Die schiere Flut an Möglichkeiten war geradezu erdrückend, und sie klickte für Schiebschick durch die Bilderflut. Nach vielem Hin und Her entschied sich der alte Mann schließlich für Tischdecken mit Fledermausmotiv und Totenköpfen sowie Gespensterleuchten.

»Da ist ja meine holça.« Schiebschick erwartete sie am hinteren Teil des Anlegers und streckte, wie ein Kind, das es nicht erwarten kann, die Hände nach dem Paket aus. Unwillkürlich verglich Klaudia den alten Kahnführer mit ihrem Vater. Obwohl Schiebschick ein ziemliches Geheimnis um sein Alter machte, war Klaudia sich ziemlich sicher, dass er mindestens zehn Jahre älter als ihr Vater war. Aber im Gegensatz zu ihm war er voller Leben. Der Griff seiner knochigen Hände war fest, und seine Augen blitzten, als er das Paket auspackte.

»Auf dem Bild sahen die größer aus, wa?« Schiebschick kniff die Augen zusammen und musterte die Gespensterlampe, die er gerade auspackte.

»Im Internet wirkt immer alles größer«, erwiderte Klaudia, die damit beschäftigt war, die Tischdecken aus ihren Hüllen zu befreien.

»Das ist ja dann Betrug. Wa?«

»Nicht unbedingt«, widersprach Klaudia. »Irgendwo auf der Seite stehen schließlich auch die Maße.«

»Aber …«

»Ich finde sie groß genug.« Klaudia legte eine Decke auf einen der Tische und stellte zwei Lampen darauf. »Sieht doch gut aus. Außerdem müssen die Leute ja Platz für ihr Gedeck haben. Oder?«

»Stimmt«, räumte Schiebschick widerwillig ein. »Aber trotzdem: Im Internet sahen die größer aus.«

»Was gibt’s denn zu essen?«

»Gurken und Schmalzstullen. Was sonst?«

»Hhm.« Klaudia faltete die nächste Tischdecke auf und reichte sie Schiebschick. »Vielleicht Blutsuppe oder Gruselkuchen.«

»Was ist denn das?«

»Keine Ahnung«, räumte Klaudia ein, »hab ich mir gerade ausgedacht.«

»Tss.« Schiebschick schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Das ist eine Sagenfahrt, keine Geisterstunde.«

»Und warum wolltest du dann all dieses Gruselzeug?« Klaudia reichte Schiebschick zwei weitere Tischleuchten.

»Die funktioniert nicht.« Hektisch drückte Schiebschick auf den Schalter einer Lampe.

»Sorry«, entschuldigte sich Klaudia. »Da habe ich wohl vergessen, die Folie aus dem Batteriefach zu ziehen.«

»Welche Folie?« Verwirrt blickte Schiebschick auf.

»Diese hier.« Klaudia beugte sich vor und zog den Plastikschnipsel aus dem Batteriefach. Sofort leuchtete die Lampe. »Funktioniert.«

»Kann ja keiner wissen.« Schiebschicks Wangen färbten sich rosig. Der alte Fährmann hasste es, wenn er das Gefühl hatte, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Umständlich schaltete er die Lampe wieder aus und stellte sie auf den Tisch.

»Mir gefällt’s.« Klaudia packte die Umverpackungen in den Karton und stellte ihn auf den Anleger. »Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?«

»Hast du denn nichts Besseres vor?«

»Was gibt es Besseres, als einem alten Freund zu helfen?« Klaudia grinste.

»Eine Verabredung mit einem jungen Freund. Ich kenne da …«

»Lass gut sein.« Klaudia hob die Hände. Seit dem Frühjahr kannte Schiebschick immer mal wieder jemanden, den er Klaudia vorstellen wollte. Für Klaudia war das eher lästig, weil seine Vorstellung davon, wer zu ihr passte, ihrer eigenen Vorstellung diametral entgegenstand. »Außerdem habe ich Kriminalbereitschaft.«

»Aber …«

»Wie läuft das eigentlich ab?«, unterbrach Klaudia den alten Fährmann wieder.

»Wie das abläuft?« Schiebschick kicherte. »Ich bin viel zu alt, um mich daran noch zu erinnern.«

»Eigentlich spreche ich von der Sagenfahrt und nicht von irgendwelchen Dates.« Klaudia boxte ihn liebevoll gegen die Schulter.

»Ach so.« Schiebschick klang ein wenig enttäuscht. »Das wird schon gut.« Er kratzte sich die Nase. »Es gibt einige Stationen am Ufer, wo wir das eine oder andere aufgebaut haben.«

»Wie in einer Geisterbahn?«

»Haj«, bestätigte Schiebschick. »Außerdem lauern noch einige Lutkis und Irrlichter entlang der Fließe.

»Das ist jetzt ja nicht so gruselig.«

»Nur wenn die Trinkgelder anständig sind.« Schiebschick lachte dieses an eine schlecht gelaunte Ziege erinnernde Lachen, das zu ihm gehörte wie sein Kahn. »Wenn jemand geizig ist oder flucht, kann das böse enden.«

»Dann musst du ja ordentlich aufpassen, dass du nichts Falsches sagst. Wer weiß, wo du sonst mit deinem Kahn landest.«

»Pah.« Schiebschick spuckte ins Wasser. »In meinen Adern fließt die Spree. Mich führt hier niemand in die Irre. Ich bin ja kein Steuereintreiber.«

»Was?«

»Kennst du nicht die Geschichte vom Steuereintreiber, den die Irrlichter so tief in den Spreewald geführt haben, dass er nie wieder herausgefunden hat?«

»Das hast du dir jetzt ausgedacht.« Klaudia erhob sich. Das leichte Schwanken des Kahns ließ sie kurz taumeln. »Ist deine Steuererklärung fällig oder was?«

»Was du immer denkst«, brummelte Schiebschick. Trotzdem erzählte er ihr die Geschichte, in der ein Steuereintreiber, ein Fischer, ein Kahnführer und jede Menge Nachtgeister und Irrlichter eine Rolle spielten.

»Und das willst du deinen Gästen auftischen?«, fragte Klaudia, als Schiebschick die Geschichte mit einem bekräftigenden »Wa« beendete. »Für mich klingt das eher nach einem handfesten Streich als nach Geistern.«

»Trotzdem ist es eine gute Geschichte.« Schiebschick spuckte wieder ins Wasser.

»Die mehr über euch Spreewälder als über Geister erzählt«, beharrte Klaudia. »Was ist überhaupt mit dem Steuereintreiber passiert? Ist er ertrunken?«

»Wer weiß das schon.« Schiebschick griff sich an die Nase. »Auf jeden Fall ist er nie wieder aufgetaucht.«

»Und seitdem zahlt der gemeine Spreewälder an und für sich keine Steuern mehr?« Klaudia schmunzelte.

»Schön wär’s.« Schiebschick spuckte ins Wasser. Das Thema behagte ihm offensichtlich nur sehr bedingt. »Was früher der Steuereintreiber war, ist heute der Gerichtsvollzieher.«

»Und mit dem hast du auch bereits Bekanntschaft gemacht?«

»Also wirklich.« Schiebschick spuckte in die Spree. »Was du immer denkst.«

»Wie auch immer.« Klaudia stieg aus dem Kahn. Ihre Lendenwirbel ächzten und schickten einen dumpfen Schmerz in ihre Pobacken. Ich sitze zu viel, dachte sie. PH feierte Überstunden ab, danach würde er in Pension gehen, und auch wenn seine Nachfolge noch nicht entschieden war, vertrat Klaudia ihn als ranghöchste Beamtin der Dienststelle. Oder besser gesagt, sie unterstützte Petra, die mehr oder weniger den Laden am Laufen hielt. Wer immer PHs Nachfolge antrat, sie oder Meinert, tat gut daran, sich gut mit der Reviersekretärin zu stellen. Ein Punkt für Klaudia. Sie konnte sich auf Petras weibliche Solidarität verlassen. Was ihr fehlte, war die Unterstützung des Personalrats. Hier war Meinert als Mitglied der Polizeigewerkschaft eindeutig im Vorteil. Trotzdem konnte sie ihn sich nicht mit einer Schäfchentasse in der Hand vor dem Flipchart vorstellen. Er würde sich auf jeden Fall mehr in ihre Arbeit einmischen, als PH es je getan hatte. Einfach, weil er sich besser auskannte. Klaudia hatte sich nie für konservativ gehalten, doch jetzt erwischte sie sich bei dem Gedanken, dass sie am liebsten die Zeit anhalten würde. Alles sollte so bleiben, wie es war. Nichts sollte sich verändern. Sie blies sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Mundwinkel. Ich werde alt, dachte sie. Alt und bequem. Sie spürte geradezu die Last ihrer sechsundvierzig Lebensjahre auf den Schultern.

»Willst du schon gehen?«, fragte Schiebschick in ihre Gedanken hinein.

»Wir sind fertig, oder? Außerdem wartet Dickie auf mich.«

»Du verwöhnst das Vieh. Der fängt ja nicht mal mehr Mäuse.« Schiebschick hatte ein sehr pragmatisches Verhältnis zu Dickie. Das wusste der Kater und verzog sich immer, wenn der alte Mann kam.

»Er ist halt schon einen Tag älter«, verteidigte Klaudia den Kater, der irgendwann in ihrem Leben aufgetaucht war. »Außerdem ist er herausgefordert.«

»Was heißt das denn?« Schiebschick spuckte in die Spree.

»Na ja, so ohne Schwanz.« Nach einem Unfall im Frühjahr hatte Dickie der Schwanz amputiert werden müssen. »Stell dir vor, dir würde jemand …« Klaudia verschluckte sich an dem Wort, das sie hatte sagen wollen, und faselte schließlich irgendwas von Rudel wegnehmen.

»Willst du eine Runde staken?« Schiebschick strahlte. »Wird auch mal wieder Zeit, sonst kommst du ganz aus der Übung.«

»Ich glaube, das bin ich bereits.« Wie hatte Schiebschick sie nur so missverstehen können? Sie sah hinüber zum Spreeschlößchen. Natürlich waren um diese Zeit alle Sitzplätze auf der Terrasse besetzt. Sie spürte geradezu die Blicke der Leute. »Nicht, dass ich deinen schön geschmückten Kahn versenke.« Die Bemerkung war deutlich weniger scherzhaft gemeint, als sie klang, nützte ihr aber wenig. Wenn Schiebschick sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht zu bremsen.

»Ich würde dir mein Leben anvertrauen.« Theatralisch presste er sich die Hand auf die Brust. Dann bückte er sich nach dem Rudel, das auf dem Anleger lag.

»Na dann.« Klaudia gab nach. Sie war nicht unbedingt ein Fan des Stakens, ihr reichte ihr Kanu, das erheblich wendiger war. Doch wer im Spreewald lebte, sollte staken können. Das war zumindest Schiebschicks Meinung, deshalb hatte er es Klaudia in ihrem ersten Sommer in ihrer neuen Heimat beigebracht.

Er reichte ihr das Rudel. Der Holzstiel schmiegte sich warm in ihre Handfläche. Schiebschick löste die Leine und stellte sich neben Klaudia ins Heck des Kahns.

»Es fällt dir offensichtlich leichter, mir dein Leben anzuvertrauen als deinen Kahn.« Klaudia schmunzelte.

»Sicher ist sicher. Wa?« Schiebschick kratzte sich die Nase. »Sachte«, rief er, als Klaudia den Kahn vom Ufer abstieß. Wer bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, dass eine unerfahrene Kahnführerin unterwegs war, wusste spätestens jetzt Bescheid. Klaudias Wangen brannten, aber sie schaffte es aus dem Hafenbecken, ohne mit dem Bug am gegenüberliegenden Ufer anzustoßen. Erleichtert atmete sie auf. Die erste Hürde war genommen. Unter der Brücke kam ihr Marko entgegen. Er tippte sich an die Mütze, und als er sah, wer Schiebschicks Kahn stakte, lenkte er seinen mehr ans Ufer. Dankbar nickte Klaudia ihm zu, sie brauchte allen Platz, den sie kriegen konnte, um ihren Kahn unfallfrei ins Bürgerfließ zu manövrieren.

»Einmal um den Erlenhorst?«, fragte sie.

»Wie du willst. Wa? Ick hab Zeit.«

»Einmal um die Insel reicht.« Klaudia stemmte das Rudel wieder in den Untergrund, dann ließ sie es etwas schleifen, weil der Wind den Bug Richtung Uferbefestigung drückte.

»Wie eine richtige Fährfrau gemacht«, lobte Schiebschick, nur um Augenblicke später Klaudia dabei zu helfen, das Rudel aus einer schlammigen Stelle zu ziehen, sonst hätte Klaudia zwar nicht den Kahn, aber sich selbst versenkt.

»Danke.« Nicht ungern überließ Klaudia ihm das Rudel und setzte sich auf die Bank. »Ist wohl doch besser, wenn ich mich staken lasse.« Ihr Smartphone spielte die Melodie von I am alive. Hastig wischte Klaudia sich die Hände an der Jeans ab und kramte es aus dem Rucksack. Sie hatte eindeutig zu viel Zeit am Bett ihres Vaters totschlagen müssen. Also war sie auf die Idee gekommen, ihr Telefon mit neuen Klingeltönen zu versorgen. Sie nahm das Gespräch an. Es war die Leitstelle.