3. Kapitel

Hanka stand am Ufer. Neben ihrem Kahn dümpelte das Polizeiboot. Obwohl die Sonne an Kraft gewonnen hatte, zitterte sie vor Kälte. Es war eine Kälte, die in ihrem Magen begann und sich von dort in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Flocke hockte zu ihren Füßen, dicht an ihr Schienbein geschmiegt. Auch der kleine Malteserrüde zitterte. Hanka bückte sich, und er sprang ihr in die Arme. Ihre Finger gruben sich in das weiche Fell. Armer Kerl, dachte sie und wusste nicht, ob sie ihren Hund oder den Menschen meinte, der dort im Wald lag. Flocke schmiegte sich an sie. Seine feuchte Nase berührte ihr Ohrläppchen. Und auf einmal war da dieser Gedanke in ihrem Kopf, was diese Nase noch alles berührt hatte. Hanka krümmte sich und erbrach in die Spree.

»Geht’s wieder?«, fragte die Polizistin. Sie hatte Hanka ein Pflaster für ihren blutenden Daumen gegeben und war mit ihr am Ufer geblieben, während ihr Kollege die Fundstelle sicherte. Sie hatte sich als Polizeiobermeisterin Rebe, wie Traube, vorgestellt. Hanka schätzte sie auf Mitte bis Ende fünfzig. Eine patente Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand und die ihr jetzt wieder auf die Füße half.

»Danke.« Hanka wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Ich hatte auf einmal nur wieder dieses Bild vor Augen. Komm her.« Sie schnalzte mit der Zunge, und Flocke kroch aus dem Busch hervor, unter den er sich geflüchtet hatte. »Ist ja nicht deine Schuld.« Sie holte ein Leckerli aus der Brusttasche und hielt es ihm hin. Schwanzwedelnd stellte Flocke sich auf die Hinterbeine. Hanka warf ihm das Leckerli zu. Die vertraute Handlung beruhigte sie. »Du kannst ja nichts für die Bilder in meinem Kopf«, murmelte sie, auch wenn es seine feuchte Nase gewesen war, die die Bilder getriggert hatte. Der Gedanke, dass Flocke an diesem … Wieder sah sie die blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Zitternd sackte Hanka ins Gras. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

»Setzen Sie sich in Ihren Kahn.« Die Beamtin half ihr über die Borte und hob dann Flocke ebenfalls in den Kahn. »Die Kollegen von der Kripo werden gleich hier sein.«

»Aber …« Fahrig rückte Hanka ihre Brille zurecht.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Den Kollegen ist bewusst, dass Sie unter Schock stehen. Wenn Sie wollen, kann ich Sie anschließend nach Hause staken. Man findet ja nicht jeden Tag einen Toten.«

Wenn du wüsstest, dachte Hanka, sprach den Gedanken jedoch nicht aus. Ein Teil des Schreckens lag gerade darin, dass sie glaubte, dies alles schon einmal erlebt zu haben.

Motorenbrummen legte sich über das Sirren der Insekten.

Wenig später tauchte das Feuerlöschboot auf. Hanka griff nach der Borte. Ihr Kahn tanzte auf der Bugwelle des herannahenden Fahrzeugs. Die Motorengeräusche verebbten, und das Feuerlöschboot legte sich längsseits des Polizeibootes.

»Ganz schön voll hier«, hörte Hanka eine Frauenstimme sagen. Sie beobachtete, wie ein Feuerwehrmann einer blonden Frau ans Ufer half. Sie war schlank und hochgewachsen, trug Jeans und ein einfaches Polohemd. Ein Lederrucksack baumelte von ihrer Schulter. Sie sah aus wie eine Tagestouristin aus Berlin, doch an der Art, wie Frau Rebes Körper sich straffte, nahm Hanka an, dass es sich bei der Frau um die Kriminalbeamtin handelte. Irgendwie enttäuschend, dachte Hanka. Die Frau war so durchschnittlich. So ganz anders als die Polizistinnen im Fernsehen.

Die Frau bedankte sich bei dem Feuerwehrmann. Selbst ihre Stimme war durchschnittlich: weder zu hoch noch zu tief.

»Bis später«, sagte sie. Der Motor des Feuerwehrbootes wurde gestartet, und es tuckerte rückwärtsfahrend aus dem Fließ. Zurück blieb die Polizistin. Ihr Blick begegnete dem Hankas, verweilte kurz auf ihr und wanderte dann weiter. Sie nickte, als ihr Blick auf Frau Rebe traf.

»Hallo, Gudula«, begrüßte sie die uniformierte Kollegin. »Lange nicht mehr gesehen.«

»Ich wusste nicht, dass du noch Kriminalbereitschaft machst.«

»Noch ist nichts entschieden.«

Hanka fragte sich, wie es sein konnte, dass die beiden über etwas anderes als den Toten im Wald sprechen konnten. Aber vielleicht gewöhnte man sich an solche Dinge, wenn man häufiger mit ihnen zu tun hatte. Die Kriminalbeamtin nahm Frau Rebes Arm und ging mit ihr ein paar Schritte in den Wald hinein. Jetzt konnte Hanka nicht mehr verstehen, was die beiden miteinander sprachen. Wieder glitt der Blick der Polizistin über sie hinweg und verweilte auf Flocke, der sich auf dem Bug des Kahns zusammengerollt hatte. Auch Hanka spürte das Gewicht ihrer Lider auf den Augäpfeln. Sie fühlte sich elend und beneidete Flocke um seine Fähigkeit, das gerade Erlebte zu vergessen. Ihr selbst würde es schwerer fallen, und sie wusste, auch wenn sie jetzt das Gefühl hatte, von Müdigkeit niedergerungen zu werden, würde sie heute Nacht bestimmt eine Schlaftablette benötigen, obwohl sie diesen Moment hasste, in dem der Schlaf sie einfach überrollte. Doch heute wäre es genau das Richtige. Einfach die Augen schließen und nichts denken.

»Frau Kowar?«

Die Stimme der Kriminalbeamtin war jetzt ganz nah. Hanka hob die Lider. »Ja«, krächzte sie.

»Mein Name ist Wagner. Kripo Lübben. Ich weiß, dass das alles sehr schwer für Sie sein muss, aber ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Ist das in Ordnung?«

Hanka nickte. Sie traute ihrer Stimme nicht.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Wieder nickte Hanka.

Flocke floh ins Heck, als die Beamtin über ihn hinwegstieg.

»Netter Hund.« Die Kriminalbeamtin griff in ihren Rucksack und zog eine Wasserflasche heraus. »Ein Malteser, oder?«

Hanka räusperte sich.

»Trinken Sie.« Die Beamtin reichte Hanka die Flasche. »Das wird Ihnen guttun.«

Gehorsam nahm Hanka die Flasche und setzte sie an die Lippen. Da sie noch zur Generation derer gehörte, die mit dem Verbot aus Flaschen zu trinken aufgewachsen waren, konnte sie immer nur einen kleinen Schluck nehmen. Doch die Beamtin zeigte kein Zeichen von Ungeduld. Sie kramte wieder in ihrem Rucksack und zog schließlich einen etwas zerdrückten Schokoriegel heraus. »Hier!« Sie hielt ihn Hanka hin. »Zucker hilft, wenn man einen Schock erlitten hat.«

»Ich bin Diabetikerin.« Hanka reichte ihr die Wasserflasche zurück. »Aber trotzdem danke.«

»Behalten Sie die Flasche ruhig.« Die Beamtin steckte den Schokoriegel zurück in ihren Rucksack. Als sie ihre Hand diesmal hervorzog, hielt sie ein Smartphone in der Hand. »Würden Sie erlauben, dass ich unser Gespräch aufnehme?«

»Wenn es Ihnen hilft.«

»Unbedingt. Meine Schrift ist nahezu unleserlich, selbst für mich.« Die Beamtin lächelte kurz, dann wurde sie wieder ernst.

»Würden Sie bitte mit Ihrem Namen, Ihrem Geburtsdatum und Ihrer Adresse beginnen?«

»Sicher.« Hanka räusperte sich wieder, dann legte sie los.

»Prima«, sagte die Beamtin, als Hanka ihre Personendaten genannt hatte. »Wie war das denn nun?«

Stockend berichtete Hanka von den Pilzen. Wo war eigentlich ihr Korb? Suchend blickte sie sich um. Er stand am Ufer, im Schatten der Erle. Sie hatte keine Erinnerung daran, dass sie ihn zurückgetragen hatte. Unwillkürlich schüttelte Hanka den Kopf.

»Es war nicht so?« Die Beamtin stoppte die Aufnahme.

»Nein«, widersprach Hanka. »Ich meine: ja.«

»Okay, dann machen wir weiter?«

»Ja.« Hanka holte tief Luft, dann fuhr sie fort. »Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmt, als ich Flockes Jaulen gehört habe.« Sie stockte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Kehle war auf einmal so eng, dass sie Mühe hatte, zu atmen. Hanka schraubte die Wasserflasche auf und trank einen Schluck. Der Druck in ihrem Hals ließ nach.

»Und dann habe ich den Toten gesehen.«

»Haben Sie ihn angefasst?«

»Um Gottes willen nein.« Heftig schüttelte Hanka den Kopf. »Ich wusste ja, dass er tot war. Ich meine: die Fliegen und dieses zerschlagene Gesicht.« Hanka konnte gar nicht mehr aufhören, den Kopf zu schütteln. »Was denken Sie?«

»Es hätte ja sein können. Vielleicht, um sich zu vergewissern, ob er wirklich tot war.«

»So wie Flocke gejault hat, wusste ich, dass – wer immer da lag – tot war.«

»Das konnten Sie an seinem Jaulen erkennen?« Die Stimme der Beamtin klang skeptisch.

»Mein Mann ist im Hochwald verunglückt.« Nach drei Jahren fiel es Hanka nicht mehr ganz so schwer, über diesen Tag zu sprechen. »Wir hatten uns gestritten. Wir waren über vierzig Jahre verheiratet, da passiert das schon mal.«

Flocke kläffte und sprang auf Hankas Schoß. Er wusste, dass sie über Herrchen sprach.

»Ich weiß nicht einmal mehr den Grund«, fuhr Hanka nachdenklich fort. »Also, warum wir gestritten haben, aber er ist auf jeden Fall aus dem Haus und in den Wald. Als er am Abend nicht nach Hause kam, bin ich ihm hinterher. Flocke hat ihn gefunden. Am Tag vorher hatte es gestürmt. Ein Ast hat ihn erschlagen. Die Ärztin hat gesagt, er sei sofort tot gewesen, doch das sagen sie wohl immer.« Hanka schwieg, die Erinnerung nahm ihr die Stimme. Auch die Polizistin schwieg, gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Schließlich fragte Hanka: »Haben Sie das auch aufgenommen?«

»Ich kann es löschen, wenn Sie wollen.«

»Ist egal. Es ändert ja nichts.« Hanka wischte sich die Augen. »An dem Tag hat Flocke genauso gejault.«

»Und deshalb wussten Sie Bescheid.«

»Ja.«

»Ich verstehe.« Die Kripobeamtin klang, als würde sie Hanka tatsächlich verstehen. »Wenn Sie wollen, kann ich unseren Notfallseelsorger bitten, Sie aufzusuchen. Er kann Ihnen …«

»Nicht nötig«, wehrte Hanka ab. »Wenn ich mit jemandem sprechen möchte, spreche ich mit unserem eigenen Pfarrer.«

»Es ist gut, dass Sie jemanden haben.« Die Polizistin strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Es ist gut möglich, dass dieses Erlebnis ihr altes Trauma triggert. Haben Sie jemanden, der heute bei Ihnen sein kann?«

»Ich hab Flocke.« Hanka kraulte Flockes Nacken. Sie spürte etwas Weiches im Fell, das dort nicht hingehörte. Eine Zecke. Ein kleines blutsaugendes Ungeheuer. Darum würde sie sich später kümmern. Es tat geradezu körperlich gut, Worte wie später zu denken.