4. Kapitel

Klaudia sah der Zeugin hinterher, bis der Kahn aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Der Hund stand mit den Vorderläufen auf der Borte und kläffte das Ufer an. Sie hatte die alte Dame mit ihrem Hund schon häufiger gesehen, wenn sie die Fließe entlang joggte. Sie war ihr aufgefallen, weil sie sommers wie winters barfuß lief. Sie musste Fußsohlen aus Stahl haben. Doch ihr Nervenkostüm war deutlich fragiler. Sie dachte an das blasse Gesicht der Frau, ihr Zittern. Die Frau stand unter Schock. Sie hätte sie nicht einfach sich selbst überlassen sollen. Es gehörte schon viel Pech dazu, zweimal einen Toten zu finden. Auch wenn es diesmal nicht der eigene Mann war.

Pech oder kriminelle Energie. Klaudias Ermittlerader ließ keine noch so abwegige Variante unerwähnt.

Kaum war Kowars Kahn verschwunden, bog ein Kanu um die Kehre. Ein junges Paar mit Kind. Als sie das Polizeiboot sahen, berieten sie kurz und drehten ab.

»Ich geh dann mal zu dem Kollegen«, wandte sich Klaudia an Rebe.

»Brauchst du mich?« Die Stimme der Kollegin der Wasserschutzpolizei klang zögerlich.

Aus anderen Todesfallermittlungen wusste Klaudia, dass die Kollegin Leichen mied, wenn es ihr möglich war.

»Ich denke nicht«, erwiderte sie. »Ich will mir auch nur einen ersten Eindruck verschaffen.«

»Glaubst du, er wurde hier getötet?«

»Keine Ahnung.« Klaudia hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Noch habe ich die Leiche ja nicht gesehen. Was meinst du?«

»Ich …«, stammelte Rebe. »Ich hielt es für wichtiger, bei der Zeugin zu bleiben. Der Frau ging es gar nicht gut. Außerdem war sie verletzt.«

»Verletzt?« Irritiert runzelte Klaudia die Stirn.

»Sie hat sich beim Pilzeschneiden in den Daumen geschnitten. Als der Hund losgebellt hat«, fügte Rebe hinzu. »Ist das wichtig?«

»Weiß man nie. Deshalb: Danke für die Info. Mir ist es nicht aufgefallen.«

»Außerdem …«, fuhr Rebe fort, die immer noch das Bedürfnis verspürte, sich zu rechtfertigen. »… dachte ich, es reicht, wenn einer den Tatort sichert. Hier ist ja nicht so viel los.«

»Wibke wird das begrüßen.«

»Wibke? Das ist die Kollegin von der Spurensicherung. Die Rothaarige, oder?«

»Genau die«, bestätigte Klaudia. Die kastanienbraunen Locken waren Wibkes hervorstechendes Merkmal. Sie selbst war da schon weniger gut zu beschreiben. Schlank und mausblond passte einfach auf zu viele Frauen ihres Alters.

»Ich habe gehört, sie hat geheiratet.«

»Stimmt.« Klaudia war zwar nicht nach Smalltalk zumute, andererseits schien es Rebe zu helfen, mit der Situation klarzukommen. Sie hatte die letzten Stunden mit einer traumatisierten Frau und dem Wissen um den Leichenfund verbracht. Das setzte jedem Kollegen zu. Egal, wie lange man bereits im Dienst war. Außerdem war Wibkes Hochzeit kein Geheimnis.

»Anfang August. Mit mir als Trauzeugin.«

»Wie nett«, sagte Rebe. »Bist du verheiratet?«

»Nein«, erwiderte Klaudia deutlich kürzer angebunden. Über Wibkes Hochzeit zu reden, war das eine. Etwas völlig anderes war es, einer zugegebenermaßen netten Kollegin etwas aus ihrem Privatleben zu erzählen.

»Ich war’s mal.« Rebe schien die Frage nur als Einleitung gebraucht zu haben, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. »Aber einen Morgen bin ich aufgewacht, mein Mann schnarchte neben mir, und im Schlafzimmer hing der Geruch nach Bier und Zigarettenrauch, und ich wusste, dass ich das nicht mehr will. Also bin ich gegangen. Jetzt geht’s mir besser«, fügte sie hinzu.

»Der Kollege wird sich fragen, wo ich bleibe.« Klaudia war sich bewusst, dass sie dieses Gespräch nicht eben elegant beendete, doch es war ihr egal.

»Ich warte im Boot«, erwiderte Rebe hastig. »Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, wieso ich dich …«

»Mach dir keinen Kopf«, unterbrach Klaudia sie. »Manchmal ist einem halt nach Reden. Wahrscheinlich wird sich die Leitstelle gleich bei dir melden. Jemand muss die Kollegen von der Spurensicherung abholen.« Sie nickte Rebe noch einmal zu und folgte dann dem schmalen Pfad, der in den Wald hineinführte. Dabei hielt sie den Blick auf den Weg gesenkt und setzte ihre Schritte so, dass sie keine möglichen Spuren zerstörte. Es hatte lange nicht geregnet, und der Boden war staubig. Sie sah Schuheindruckspuren, Fußspuren von Frau Kowar – die Zehen gruben sich tief in den sandigen Boden – und kaum sichtbare Pfotenabdrücke des Maltesers. Außerdem – Klaudia bückte sich – schien es hier Schleifspuren zu geben, wie Fersen sie hinterlassen könnten. Es bestand also die Möglichkeit, dass die Leiche hierhergebracht worden war.

Der Kollege der Wasserschutzpolizei erwartete sie. Hinter ihm hing Flatterband schlaff zwischen zwei Bäumen. Das fast weiße und sehr kurz geschorene Haar bildete einen auffälligen Kontrast zu seinen dunklen Augenbrauen, von denen Schweiß perlte. Er war bleich um die Nase und hielt sich sehr gerade.

»Alles klar?« Klaudia setzte ihren Rucksack ab, nahm einen eingeschweißten Ganzkörperanzug heraus und stieg hinein. »Du hast die Leiche gesehen?«

Der Kollege schluckte. »Ja«, bestätigte er schließlich. »Ich musste mich ja vergewissern, ob er wirklich … Ich meine, es hätte ja sein können … Aber«, brach es aus ihm heraus. »Der ist so was von tot.«

»Es ist also ein Mann.«

»Ja«, antwortete der Kollege schmallippig. Ganz offensichtlich stand auch er unter Schock.

»Okay.« Klaudia nickte ihm aufmunternd zu. »Dann werde ich ihn mir wohl mal anschauen. Es kann noch dauern, bis die Kollegen von der Spurensicherung kommen. Am besten ist, du suchst dir ein schattiges Plätzchen.« Klaudia strich sich die Haare unter die Kapuze und schloss den Reißverschluss. »Wo kann ich langgehen?«

»Ich … Scheiße.« Die Blässe im Gesicht des Kollegen wich einem ungesunden Rot. »Tut mir leid, ich bin einfach geradeaus gegangen.«

»Kein Problem«, sagte Klaudia, obwohl es natürlich ein Problem war. Aber der Mann fühlte sich schon schlecht genug. Außerdem: Fehler passierten, und die Kollegen der Wasserschutzpolizei hatten es schließlich auch eher selten mit Landleichen zu tun. »Wir brauchen deine Schuhabdrücke sowieso.«

Sie bückte sich nach ihrem Rucksack und rief Wibke an. »Seid ihr schon unterwegs?«

»Was denkst du?«, antwortete die Kollegin der Spurensicherung.

»Dass du zuhause auf dem Sofa sitzt und …«

»Habe ich auch, bis ich aus meiner sonntäglichen Ruhe gerissen wurde. Ich konnte nicht einmal mehr den Kuchen aus dem Ofen nehmen. Das muss jetzt mein Mann machen.« Wibkes Stimme klang weniger vorwurfsvoll, als ihre Worte vermuten ließen. »Wir warten gerade auf das Boot der Wasserschutzpolizei. Wenn das nicht bald kommt, halte ich den Daumen raus.«

»Ich bin bereits vor Ort.« Klaudia berichtete ihr von ihrer Beobachtung auf dem Weg. »Ich habe versucht, keine Spuren zu zertreten, aber ich war leider nicht die Erste.« Sie sah zu dem Kollegen der Wasserschutzpolizei, der ihrem Blick auswich.

»Warum wundert mich das nicht?« Wibke seufzte theatralisch, und Klaudia hörte ein Lachen im Hintergrund.

»Die Auswahl an Wegen, die zum Fundort der Leiche führen, ist eher übersichtlich«, verteidigte Klaudia die Kollegen. »Entweder du gehst auf dem Weg, oder du versackst in Tümpeln.«

»Der Spreewald ist wirklich kein idealer Arbeitsplatz«, beschwerte sich Wibke.

»Die nächste Leiche packe ich euch direkt in die Kriminaltechnik nach Eberswalde.«

»Versprochen?«, fragte eine männliche Stimme aus dem Hintergrund.

»Mein Wort drauf.«

»Doch hoffentlich nicht deinen Mitbewerber?«, lästerte Wibke.

»Lasst euch überraschen.«

»Hast du die Hochzeitsfotos gesehen?«, wechselte Wibke das Thema.

»Noch nicht.« Sofort meldete sich Klaudias schlechtes Gewissen. Die Fotografin hatte ihr einen Link geschickt, den sie bisher erfolgreich ignoriert hatte. Sie war einfach nicht so der Bilderfreund. Außerdem hasste sie es, fotografiert zu werden, vor allem, wenn sie ein Kleid trug wie auf Wibkes Hochzeit. Jeder hatte ihr so oft versichert, dass sie großartig aussähe, dass sie sich wie die letzte Witzfigur vorgekommen war.

»Es war halt viel los«, fügte sie lahm hinzu. »Und jetzt muss ich los. Eine Leiche wartet auf mich.«

»Versuche möglichst zu fliegen.« Wibke lachte.

»Ich gebe mein Bestes«, versprach Klaudia und wischte das Gespräch weg.

»Danke«, sagte der Kollege der Wasserschutzpolizei.

»Wofür?«

»Dass du mich nicht wie den letzten Idioten dastehen lässt.«

»Beim nächsten Mal bist du vorsichtiger.«

»Ich gehe in drei Jahren, zwei Monaten und fünf Tagen in Pension«, erwiderte der Kollege. »Und das war meine zweite Leiche in über dreißig Jahren bei der Polizei. Die Chancen stehen also gut, dass es für mich kein nächstes Mal gibt.«

Wow, dachte Klaudia. Wie beschissen musst du deinen Job finden, wenn du auf den Tag genau weißt, wann du in Rente gehst?

Im Gegensatz zu dem Kollegen schlug Klaudia einen Bogen, entlang des Waldrandes. Schließlich stand sie vor dem Toten. Wie immer schaltete sie ihre Gefühle aus und katalogisierte in Gedanken, was sie sah. Dabei begann sie an den Füßen des Toten. Ein Schuh fehlte. Die Socken waren verrutscht und voller Sand, was zu den Spuren auf dem Weg passte. Flanellhosen, Hemd, Windjacke. Statur kräftig, aber nicht dick. Soweit erkennbar, keine Zeichen von Tierfraß. Das sprach dafür, dass der Tote noch nicht allzu lange hier lag. Klaudia Blick traf auf die Hände. In beiden waren tiefe Hiebwunden zu erkennen, ein Finger war im Gelenk abgetrennt und hing nur noch an einem Hautfetzen. Typische Abwehrverletzungen. Für einen Moment schloss sie die Augen, dann wanderte ihr Blick weiter zum Kopf des Toten. Sie pfiff leise, als sie den bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagenen Gesichtsschädel sah. Um solche Verletzungen zu verursachen, brauchte es außer einer geeigneten Waffe Kraft und sehr viel Wut.

Wer hat dir das angetan?, fragte sie in Gedanken den Toten, doch natürlich antwortete der nicht. Also tat sie das Nächstliegende und rief die Leitstelle an.

»Irgendwelche Vermissten, die ungefähr eins fünfundsiebzig bis eins achtzig groß sind und zum Zeitpunkt des Verschwindens dunkelblaue Flanellhosen, ein hellblaues Hemd und eine beige Windjacke getragen haben?«

»Moment«, sagte der Kollege. Klaudia hörte Stimmen im Hintergrund. Jemand sagte: »Für mich mit Extrakäse.« Dann meldete sich der Kollege wieder.

»Im Moment ist in unserem Beritt nur eine Vermisstensache offen, die eine männliche Person betrifft. Aber der trug zum Zeitpunkt seines Verschwindens Jeans und T‑Shirt. Größe passt. Gewicht etwa neunzig Kilo, kurzes grauschwarzes Haar. Vermisst wird er seit … warte mal … April.«

»April«, murmelte sie. »Und der ist nicht wieder aufgetaucht?«

»Der Vorgang ist offen.«

Klaudia blickte auf den Toten hinab. »Das Alter könnte passen.«

»Und die Haarfarbe?«

»Schwer zu beurteilen«, sagte Klaudia. »Da ist ziemlich viel Blut.« Sie beendete das Gespräch.

Ein Sirren ließ sie aufblicken. Über ihr kreiste eine Drohne in immer enger werdenden Kreisen. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, schirmte die Augen gegen die Sonne ab und blickte hinüber zur Absperrung. Straub stand dort mit dem Laptop vor dem Bauch. Ebenso wie sie trug er die Schutzkleidung der Spurensicherung. Er winkte ihr zu.

»Wibke und Wilms gießen noch Schuheintrittsspuren aus«, rief er zu ihr herüber.

»Na wunderbar.« Klaudia war froh, wenigstens einen Teil der Verantwortung los zu sein.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Wibke so weit war, dass sie die Leiche untersuchen konnte. Klaudia stand neben ihr, als sie die Taschen durchsuchte. »Ich glaube«, sagte Wibke. »Ich hab hier was für dich.«