»Willi Rollenhagen.« Klaudia fotografierte den Dienstausweis des Toten mit ihrem Handy und steckte ihn dann zurück in die Brieftasche, die außer diesem Ausweis noch einen Personalausweis, diverse Kreditkarten, 41 Euro und 67 Cent sowie eine Liste mit dem Datum 14.09. enthielt, auf der drei Namen und Adressen standen. Klaudia hatte auch diese Liste fotografiert.
»Gerichtsvollzieher«, murmelte sie.
»Niemand, den man gern zu Besuch hat«, unkte Wibke.
»Wie wahr.« Klaudia dachte an Schiebschicks Geschichte vom verschwundenen Steuereintreiber. Unwillkürlich blickte sie zum Kopf der Leiche. Das hier hatte nichts mit Nachtgeistern oder Irrlichtern zu tun. Das hier war ein brutaler Mord. Nicht einmal seine Mutter hätte den Mann jetzt noch erkannt.
Während Wibke den Toten untersuchte und abklebte, um eventuelle Spuren zu sichern, zog Klaudia ihre eigene Bilanz. Außer der Kopfverletzung und den Abwehrverletzungen an den Händen wies der Körper keine weiteren Verletzungen auf. Wenn Rollenhagen also keinen Herzinfarkt gehabt hatte, was Klaudia bezweifelte, waren die Kopfverletzungen todesursächlich.
»Lange scheint er noch nicht hier zu liegen«, sagte die Kollegin. Mittlerweile war der Tote entkleidet. Die Haut zwischen Hüftknochen und Oberschenkeln war deutlich heller als der Rest des Körpers, sein Geschlecht ruhte schlaff in der blassen Leiste.
»Hab ich auch gedacht«, bestätigte Klaudia. »Keine Fraßspuren und so.«
»Auch kein aufgetriebenes Abdomen, und die Venenzeichnung ist ebenfalls noch nicht sehr ausgeprägt.«
»Habt ihr den Schuh gefunden?«
»Bisher nicht, aber wir schicken die Drohne noch mal durch, wenn sie wieder aufgeladen ist.«
»Das könnte wichtig sein.«
»Alles könnte wichtig sein.« Wibke hob ein Bein der Leiche an. »Totenstarre in den Beinen nicht vollständig ausgeprägt.« Sie griff nach dem Arm, der steif und starr neben dem Toten lag. »Obere Extremitäten vollständig.«
»Was meinst du, wie lange er tot ist?«
»Keine Ahnung.« Wibke legte den Arm des Toten neben dem Körper ab.
»Kannst du mal mit anpacken?«
Klaudia bückte sich und half Wibke, den Toten auf die Seite zu drehen. Während die Kollegin mit einem Leichenthermometer die Körperkerntemperatur ermittelte, versuchte Klaudia vergeblich, die Totenflecken wegzudrücken. Sie wusste, dass diese nach spätestens achtundvierzig Stunden nicht mehr wegdrückbar waren. Sie half Wibke noch, den Toten in den Leichensack zu legen, dann richtete sie sich auf.
»Ist der Bestatter informiert?«, fragte sie.
»Ich habe ihm gesagt, wir bringen den Toten an die übliche Stelle.«
Die übliche Stelle lag an der Straße, zwischen Lübbenau und Lehde, und war damit weit genug vom Spreehafen entfernt, um neugierigen Touristen aus dem Weg zu gehen.
»Ich wäre dann so weit.« Wibke richtete sich auf. Dabei schwankte sie und hätte Klaudia sie nicht gestützt, wäre sie auf dem Leichensack gelandet.
»Alles in Ordnung?«, fragte Klaudia besorgt.
»Nur der Kreislauf«, beschwichtigte Wibke. »Geht schon wieder.« Sie zog die Handschuhe aus und telefonierte mit ihren Kollegen.
»Kein Schuh zu finden. Wenn hier nicht gerade ein Weitwurfmeister am Start war, hat er ihn zumindest nicht ins Gebüsch befördert.«
»Vielleicht haben der oder die Täter ihn ja mitgenommen?«
»Oder in der Spree versenkt.« Wibke zog die Kapuze vom Kopf und fuhr sich durch das schweißfeuchte Haar. »Wie wichtig ist dir der Schuh? Sollen wir Taucher bestellen?«
»PH würde mich einen Kopf kürzer machen.«
»Das müsstest du im Moment wohl selbst erledigen.« Wibke öffnete den Reißverschluss ihres Ganzkörperanzugs. Ihr T‑Shirt war dunkel vom Schweiß. »Schon vergessen? Im Moment bist du der Chef. Hast du eigentlich jemals herausgefunden, wofür die Abkürzung PH steht?«
»Hast du keine anderen Sorgen?«, fragte Klaudia.
»Wenig«, räumte Wibke ein. »Und du?« Nachdenklich ruhte ihr Blick auf Klaudia. »Wie geht’s deinem Vater?« Ihrer war im letzten Winter an den Folgen seines jahrelangen Alkoholismus gestorben.
»Kriegt nicht mehr viel mit.« Klaudia senkte den Blick auf ihre Schuhspitzen. »Und das ist wahrscheinlich auch gut so. Was ist denn das?« Sie bückte sich.
»Sieht aus wie ein Stück Nylonfaden«, sagte Wibke. »Meinst du, das ist wichtig?«
»Alles ist wichtig«, wiederholte Klaudia die Worte der Kollegin.
»Vielleicht sollten wir dann doch nach dem Schuh suchen.« Wibke nahm eine Pinzette aus dem Koffer und tütete den Nylonfaden ein.
Klaudia parkte ihren Peugeot vor dem freistehenden Einfamilienhaus, in dem der Tote gemeldet war. Es lag am Ende einer Sackgasse, direkt an der Spree. Pfarrer Vollmer, der Notfallseelsorger, erwartete sie bereits. Als ihr Wagen hielt, stieg er auf der Beifahrerseite ein.
»Wartest du schon lange?«, begrüßte sie ihn. »Tut mir leid, ich dachte, ich schaffe es eher, aber dann …«
»Kein Problem«, unterbrach sie der Pfarrer. »Allerdings würde es mich nicht wundern, wenn gleich ein Streifenwagen auftaucht.«
»Wieso?«
»Ich glaube, ich habe das Misstrauen einer Nachbarin geweckt. Sie hat mich angesprochen.«
»Dann beeilen wir uns wohl besser.« Stichpunktartig versorgte Klaudia Vollmer mit den wichtigsten Fakten. Dann gingen sie zum Haus. Es war ein wunderschönes Fachwerkhaus mit den für die Gegend so typischen gekreuzten Giebeln. Ein schmaler Kiesweg führte durch eine Wildblumenwiese zum Eingang. Vor einer Garage parkte ein blauer Lada Niva.
Als Klaudia schellte, bellte ein Hund. Eine weibliche Stimme rief ihn zur Ordnung, woraufhin das Bellen verstummte. Eine dunkelblonde, kräftig gebaute Frau, die Klaudia auf Mitte fünfzig schätzte, öffnete die Tür. Sie trug ein ausgeleiertes T‑Shirt und eine Sweathose. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre Wange zierte ein Schmutzstreifen.
»Frau Rollenhagen«, erkundigte sich Klaudia. Irgendwoher kannte sie die Frau.
»Ja.« Die Frau runzelte die Stirn.
»Mein Name ist Wagner.« Klaudia hielt ihren Dienstausweis hoch. »Und das ist Pfarrer Vollmer«, stellte sie ihren Begleiter vor. »Dürfen wir hereinkommen?«
»Ist was mit Ti …? Ich meine mit Luca?« Der Tote hieß Willi, also nahm Klaudia an, dass es sich bei diesem Luca um den Sohn der Familie handelte. Die meisten Frauen dachten zuerst an ihre Kinder, wenn die Polizei vor der Tür stand, Männer zunächst an ihre Frauen.
»Wir sind nicht wegen Luca hier«, erwiderte Klaudia sanft.
»Ja, aber …« Rollenhagen blickte von ihr zu Vollmer.
»Dürfen wir vielleicht hereinkommen«, wiederholte Pfarrer Vollmer Klaudias Bitte.
»Ich weiß nicht. Ich meine, da kann ja jeder kommen.«
»Ich schlage vor, Sie rufen die 110 an und erkundigen sich, ob es im Polizeirevier Lübben eine Kriminalkommissarin namens Wagner gibt.« Klaudia reichte der verwirrten Frau eine ihrer Visitenkarten.
Rollenhagen starrte darauf, als wollte sie den Text auswendig lernen. Schließlich blickte sie auf. »Sie hätten mir zugestimmt, wenn Sie nicht von der Polizei wären, oder?«
»Wahrscheinlich«, räumte Klaudia ein. »Außerdem hätten wir eher angerufen.« Die Strategie der sogenannten Schockanrufer war immer die gleiche. Sie riefen alte Menschen an und versetzten sie so sehr in Panik, dass sie nicht mehr klar denken konnten, um sie dann um ihre Ersparnisse zu bringen.
»Kommen Sie rein.« Frau Rollenhagen trat zur Seite.
Klaudia und Vollmer folgten ihr in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer mit einer Sitzgruppe.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Ein Wasser wäre gut.«
Auch Vollmer bat um Wasser.
Sie und der Pfarrer setzten sich auf die Couch, während Rollenhagen in der Küche verschwand. Klaudia hatte eigentlich keinen Durst, aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es besser war, sich dem Rhythmus des Menschen anzupassen, dem sie die schlechte Nachricht zu überbringen hatte. Sie nutzte die Abwesenheit der Frau und blickte sich um. Ein gemütliches Wohnzimmer im Schwedenstil der 2000er Jahre mit Bücherschrank und Flachbildschirmfernseher. In einer Ecke des Raumes stand ein Hundekorb neben einem Waffenschrank, und an den Wänden hingen großformatige Acrylstillleben. Klaudias Blick wanderte weiter. Vor der geschlossenen Terrassentür hockte hechelnd ein ziemlich großer Hund. So wie er aussah, gehörte er zu Korb und Gewehrschrank. Der Tote war also Jäger gewesen. Eine Waffe hatten sie allerdings nicht gefunden, kein Umstand, den Klaudia begrüßte. Sie blickte über den Hund hinweg in den Garten. Wie ihr eigener Garten endete auch dieser an der Spree. Am Anleger dümpelte ein mit Lampions geschmückter Kahn. Jetzt erinnerte sich Klaudia auch, woher sie die Frau kannte. Sie hieß Susanne und stakte für den kleinen Hafen. Na ja, dieser Kahn würde heute Abend wohl nicht bei der Geisterfahrt dabei sein. Klaudias Blick streifte einen Weidenkorb, über dessen Rand pinkfarbene Gartenhandschuhe hingen. Die Frau hatte also einen gemütlichen Sonntagnachmittag mit Gartenarbeit verbracht. Die ganz normale Tätigkeit einer ganz normalen Frau, an einem ganz normalen Tag. Oder hatte sie sich abgelenkt, weil sie sonst umkam vor Sorge um ihren Mann? Allerdings hatte sie nicht nach ihm gefragt, sondern nur nach ihrem Sohn.
Rollenhagen kehrte mit Gläsern, einer Wasserflasche und sauberem Gesicht zurück. Sie schenkte den Polizisten ein und ging dann zur Terrassentür, um den Hund hereinzulassen. Klaudia fühlte sich etwas unwohl mit dem riesigen Hund im Raum. Man wusste nie, wie Tiere reagierten, wenn ihre Besitzer emotional wurden. Doch sie schwieg. Als Frau Rollenhagen sich setzte, hockte sich der Hund neben sie und legte seinen wuchtigen Kopf auf ihren Oberschenkel.
»Ein schönes Tier«, sagte Vollmer. »Ein Weimaraner, oder?«
»Ich habe ihn selbst abgerichtet.« Rollenhagen tätschelte den Hundekopf.
»Sie jagen?«, fragte Vollmer.
»Ja«, bestätigte Rollenhagen. »Sind Sie deshalb hier? Ist was in meinem Revier passiert?«
»Jagt Ihr Mann auch?«
»Nein.« Rollenhagens Lippen wurden schmal. »Willi interessiert sich nicht für die Jagd.« Sie kniff die Augen zusammen. »Ist was mit ihm?«
»Frau Rollenhagen.« Klaudia hätte sich am liebsten vorgebeugt und die Hand der Frau ergriffen, aber der Hund hinderte sie daran. »Heute Morgen wurde ein Toter auf einer Lichtung im Hochwald gefunden. Er hatte die Ausweispapiere Ihres Mannes bei sich.«
»Willi ist tot?« Rollenhagens Unterkiefer sackte herab.
Alarmiert blickte der Hund von seinem Frauchen zu Klaudia.
»Mein Gott«, stöhnte Rollenhagen. »Wie sag ich das Luca?« Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Der Hund bellte.
»Ist gut.« Rollenhagen legte ihm die Hand auf den Kopf, und der Hund beruhigte sich sofort wieder. »Wie sag ich ihr das nur.« Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Ich kann Sie dabei unterstützen«, bot Vollmer an. »Ich bleibe hier, solange Sie mich brauchen.«
»Danke.« Rollenhagen schluckte. »Wie?«, fragte sie, ohne Klaudia anzusehen. »Ich meine: Hat er sich …?« Sie schloss die Augen, atmete tief ein. »Wie ist es passiert?«, stieß sie schließlich hervor.
»Dazu können wir Ihnen leider noch nichts sagen«, erwiderte Klaudia. »Doch es sieht nicht nach Selbsttötung aus.«
»Nicht?« Rollenhagen stockte. »Sie meinen, Willi wurde umgebracht? O mein Gott!« Sie schlug die Hände vor den Mund.
»Unsere Ermittlungen sind noch ganz am Anfang«, wich Klaudia aus. »Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«
»Ich … Ich weiß nicht.« Rollenhagen schüttelte den Kopf.
Die Antwort war nicht ungewöhnlich für einen Menschen in einer Schocksituation, deshalb hakte Klaudia zunächst nicht nach.
»Wissen Sie denn, was er getragen hat?«
»Getragen? Ich verstehe nicht?«
»Kleidung«, präzisierte Klaudia.
»Keine Ahnung.«
»Aber vielleicht könnten Sie nachschauen, was in seinem Schrank fehlt?«
»Alles«, erwiderte Rollenhagen. »In seinem Schrank fehlt alles. Wir leben getrennt.«