14. Kapitel

Auch diesmal hockte Meinert auf PHs Platz. Demel straffte die Schultern. Ob der Typ überhaupt nicht wusste, dass er damit das Bein hob? Irgendwer würde es ihm mal stecken müssen. Demels Blick streifte Klaudia. Wenn es ihr etwas ausmachte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Sie flüsterte mit Wibke, die ebenfalls anwesend war.

»Moin«, begrüßte sie ihn, als er sich neben sie setzte. »Du siehst fertig aus.«

»Ist spät geworden.« Demel griff nach der Kaffeekanne wie nach einem Rettungsseil. Sein Sohn wohnte im Moment bei ihm. Seine Ex machte Urlaub mit ihrem Freund. Sie würden erst am Freitag zurückkehren, und bis dahin war Justin bei ihm. Das mache ihm doch nichts aus, hatte sie gefragt. Und schließlich sei es ja auch wichtig, dass Justin mehr Zeit mit ihm verbringen würde. Das habe sich schließlich im Frühjahr gezeigt.

Was hätte er darauf antworten sollen? Also hatte er Manuelas Reisepläne zähneknirschend abgenickt. Malediven! Demel spürte geradezu, wie sein Blutdruck stieg. Bei dem Unterhalt, den er für Justin berappte, reichte es bei ihm gerade mal für eine Woche Camping am Müritzsee, und Manu fuhr mit ihrem Lover in ein Ressort.

»Hast du schon mal versucht, einen Teenager von seinem Computer zu lösen?« Die Frage war rhetorisch.

»Wie wär es mit Strom abstellen?«, schlug Klaudia vor.

»Hat meine Ex mal versucht.« Die Erinnerung machte Demel immer noch höllisch Spaß. »Am nächsten Tag funktionierte bei ihr nichts mehr. Kein Internet, kein Telefon.«

»Weil sie den Strom abgestellt hat?«, hakte Wibke ungläubig nach.

»Indirekt.« Demel schenkte sich einen Kaffee ein. Jeder Mensch mit Teenagern hätte gewusst, was passiert war. »Wo ist Thang?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist was mit den Kindern?«

»Und Petra?«

»Kommt später«, beantwortete Klaudia seine Frage. »Aber der Kaffee ist trotzdem genießbar«, flüsterte sie, bevor sie die Besprechung eröffnete.

Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte Wibke noch nicht viel beizutragen. Was sie mit Sicherheit sagen konnte, war, dass der Tote nicht am Fundort ums Leben gekommen war. Aber das hatte sowieso niemand vermutet.

»Wir hätten zumindest einen möglichen Kahn.«

»Denkst du an die Ehefrau?«

Klaudia nickte. »Sie ist Kahnführerin.«

»Das macht sie nicht automatisch zu einer Verdächtigen«, mischte sich Meinert ein. »Die beiden leben schon eine Weile getrennt. Da dürfte die erste Wut verraucht sein.«

»Möglich.« Klaudia strich sich eine Haarsträhne zurück. Demel fragte sich, ob ihr bewusst war, dass sie das immer tat, wenn sie sich unwohl fühlte. Meinert ging ihr also doch unter die Haut. Das konnte ja heiter werden.

»Aber möglicherweise war die Freundin auch nicht der Grund für die Trennung.« Klaudia schob das Kinn vor. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie noch einen Pfeil im Köcher hatte.

»Sondern?« Meinert klappte sein Laptop zu. Welche Mails er auch immer gerade gecheckt hatte, jetzt hatte Klaudia seine Aufmerksamkeit.

Mach es nicht so spannend, dachte Demel.

»Also«, sagte Klaudia und wurde durch das Aufstoßen der Tür unterbrochen.

»Tut mir leid.« Thang ließ sich auf seinen Platz fallen. »Ich habe den Wecker nicht gehört. Es war eine ziemlich unruhige Nacht. Aber kommt nicht wieder vor.« Ganz automatisch blickte er während seiner wortreichen Entschuldigung zu Meinert. Einfach weil der auf PHs Platz saß. Als ihm der Fehler bewusst wurde, wandte er sich an Klaudia. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich …«

»Du hast nichts verpasst«, unterbrach sie ihn. »Ich wollte gerade berichten, warum die Freundin des Toten so verwirrt auf die Erwähnung seines Sohnes reagiert hat.«

»Hat sie das?«, fragte Meinert.

»Auf jeden Fall«, bestätigte Thang Klaudias Behauptung. Er hätte es auch getan, wenn es anders gewesen wäre, einfach weil er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber hatte.

Dieses Revier wird nicht mehr das Gleiche sein, wenn Meinert Chef wird, dachte Demel. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der LKA-Kollege und Klaudia auf Dauer miteinander klarkamen. Andererseits, auch sie beide waren auf dem falschen Bein miteinander gestartet und waren jetzt ein gutes Team. Er griff nach seinem Becher. Der Kaffee war wenigstens genießbar, also war der durchschnittliche LKA-Kollege lernfähig.

»Nun sag schon.« Wibke blickte auf die Uhr. »Auf mich wartet ein Berg Arbeit.«

»Der Sohn ist eine Tochter.«

»Äh, was?« Demel verschluckte sich. Hustend stellte er den Becher auf die Tischplatte.

Klaudia wartete, bis er sich beruhigt hatte, dann fuhr sie fort. »Der Sohn ist ein Transmann. Also auf dem Weg von Frau zu Mann. Und laut meiner Quelle ist das der Grund für die Trennung der Eheleute.«

»Okay.« Demel wischte mit dem Handballen Kaffeespritzer von der Tischplatte. »Und ich dachte, ich hätte Sorgen mit meinem Teenager.« Er blickte von Thang zu Meinert. »Geht euch gerade der Arsch auf Grundeis?«

Beide ignorierten die Frage. Demel hatte nichts anderes erwartet. Ein Teil seiner Scherze flog immer direkt ins Aus. Das machte seinen besonderen Charme aus.

»Aber auch das wäre quasi«, Meinert ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, »Schnee von gestern.«

»Vielleicht sollten wir trotzdem mal mit ihr sprechen?«, mischte sich Thang ein.

»Frau Rollenhagen?«, hakte Klaudia nach.

»Nein.« Thang griff nach der Kaffeekanne, als wollte er sich daran festhalten. Seine Gesichtshaut wurde einen Hauch dunkler, als sie ohnehin war. »Ich meine die Tochter, äh den Sohn.«

»Bist du sicher«, mischte sich Meinert ein, »dass du genügend Feingefühl für diese Befragung aufbringst?«

»Ich bin das personifizierte Feingefühl«, behauptete Thang.

Mimose trifft es eher, dachte Demel, behielt den Gedanken jedoch für sich.

»Dann kümmern wir uns um den Sohn«, sagte Klaudia, »und ihr …«

»Arbeiten unsere Liste ab«, fiel ihr Meinert ins Wort. »Meerländer haben wir immer noch nicht angetroffen.«

Schlimmer geht immer. Demel sagte nichts. Die Würfel waren gefallen. Er und Meinert würden miteinander klarkommen müssen. Unwillkürlich knirschte er mit den Zähnen. Das konnte heiter werden.

»Ich kann fahren«, bot er an, als sie aus dem Revier traten. Ein Zug rauschte vorbei. Demel sah zwar, dass Meinert den Mund bewegte, verstand jedoch kein Wort.

»Was?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, fahre ich lieber.« Meinert grinste wieder dieses LKA-Grinsen. »Ich bin ein grottenschlechter Beifahrer«, fügte er hinzu. »Frag meine Frau.«

»Wie du willst.« Demel wäre lieber in seinem eigenen Wagen gefahren, trotzdem steuerte er den Sportwagen an, der neben Klaudias Peugeot parkte.

»Ich glaube ja nicht, dass das mit dem Sohn etwas bringt.« Meinert entriegelte den Wagen und stieg ein. »Bisschen weit hergeholt, oder?«

»Es ist eine Variante.« Demel würde sich eher die Zunge abbeißen, als gegen Klaudia Stellung zu beziehen.

»Sie hat eine gute Nase«, gab Meinert zu. »Das hat sie mehr als einmal bewiesen.«

»Kannst du laut sagen.« Demel stieg ebenfalls ein. »Hast du was von Petra gehört?«

Meinert schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, sie bleibt, sollte ich den Job kriegen.«

»Wo soll sie denn sonst hin?«

»Na ja.« Meinert schaltete den Anlasser an. Der Motor erwachte mit einem satten Brummen zum Leben. »Sie hat schon einmal gewechselt.«

»Wer hat das nicht.« Demel kratzte sich den Nacken. »Aber sie war froh, als sie nicht mehr in die Schule musste. Das hat sie gehasst.«

»Echt?« Meinert runzelte die Stirn.

»Ja«, erwiderte Demel. »Dieses Hin und Her war aber auch lästig. Und als dann hier die Stelle aufgestockt wurde, hat sie sofort zugegriffen.«

»Vom wem redest du?«

»Na von Petra. Du nicht?«

»Ich dachte eher an Klaudia, aber natürlich fände ich es ebenso scheiße, wenn Petra uns verlassen würde.«

»Oh. Ja. Klar.« Demel fühlte sich wie der letzte Idiot. »Klaudia wäre ein echter Verlust. Jeder würde sie vermissen.« Meinert sollte ruhig wissen, dass Klaudia eine starke Basis im Revier hatte. »Aber was ist, wenn du den Job nicht kriegst?«, fragte er. »Willst du dann trotzdem wechseln? Ich meine …« Er schnallte sich an. »… es wird ja eine Planstelle frei. Und ruhiger ist es bei uns allemal.«

»Ich weiß es nicht.« Meinert legte den Rückwärtsgang ein und rollte vom Hof.

Die Siedlung, in der Justine Meerländer lebte, lag am Rande der Neustadt. Die Wohnungsbaugesellschaft hatte einiges investiert, um die Wohnblöcke zu sanieren. Trotzdem galt die Siedlung nicht als die beste Wohngegend, dafür war sie die kinderreichste.

Die Polizisten hatten Glück, gerade verließ ein Paketbote das Haus und ließ sie hinein. Justine Meerländer öffnete ihnen nach dem zweiten Klingeln. Die Tür war durch eine Kette gesichert.

»Oh.« Ihre Augen wurden erst groß, dann zogen sie sich zu Schlitzen zusammen. »Hat die Alte Sie reingelassen?« Ihre Stimme klang resigniert.

»Mein Name ist Demel, und das ist mein Kollege Kriminalkommissar Meinert.« Peter hielt der Frau seinen Dienstausweis vor die Nase. Heute würde er nicht den Wackeldackel für Meinert machen. »Dürfen wir hereinkommen?«

»Ich weiß nicht.« Meerländer biss sich auf die Unterlippe, doch schließlich trat sie zur Seite und löste die Kette. Im Flur war es so eng, dass Demel Mühe hatte, nicht gegen eins der Pakete zu stoßen, die sich an der Wand aufgereiht, stapelten.

»Die müssen zurück.« Meerländer verspürte offensichtlich das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. »Aber ich komme einfach nicht dazu.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Taten das eigentlich alle Frauen, wenn sie verlegen waren?

Auch im Wohnzimmer standen überall Pakete herum, manche waren geöffnet, die meisten jedoch nicht einmal das. Es roch nach Gras, und die Gardine blähte sich leicht im Durchzug. Demel war sich ziemlich sicher, dass Kaufsucht die Frau auf die Liste des Gerichtsvollziehers gebracht hatte.

»Ich war krank, wissen Sie.« Meerländer blickte zu Meinert und dann zu ihm. Verlegen knetete sie die Hände. An einem Arm trug sie Freundschaftsbänder. Sie waren verblasst und sahen aus, als würden sie bald abfallen.

Demel nickte. »Können wir uns vielleicht setzen?« Er musterte die Frau. Sie war der eher üppige Typ mit glatter Haut und runden Armen. Ihr Gesicht war etwas gerötet, und ihr kurz geschnittenes Haar lockte sich feucht am Halsansatz.

»Ich schicke das wirklich alles zurück.« Meerländer nahm ein Paket von einem Stuhl und setzte sich, die Hände auf den Knien, die Füße dicht beieinander.

Auch Demel nahm Platz, während Meinert es vorzog, an die geöffnete Balkontür zu treten.

»Aber es sind so viele.«

Demel nickte.

»Und ich will ja auch bezahlen. Wirklich.«

»Haben Sie das auch dem Gerichtsvollzieher gesagt?«, fragte Meinert.

»Wem?«

»Dem Gerichtsvollzieher«, wiederholte Demel die Frage. »Herrn Rollenhagen. Er war doch hier, oder? Zumindest steht Ihr Name auf seiner Liste.«

»Warum fragen Sie ihn nicht selbst?« Meerländer biss sich wieder auf die Unterlippe, dann klappte ihr Unterkiefer herab. »Ist er etwa der Tote, den ihr gefunden habt?«

»Würden Sie bitte unsere Frage beantworten?«, bat Meinert.

»Ich weiß nichts von einer Liste.« Meerländer sprang auf. Sie blickte von Meinert zu Demel. »Ich meine, ich weiß, dass ich Schulden habe, und ich versuche wirklich, die in den Griff zu kriegen. Aber von einer Liste weiß ich nichts.«

»Heißt das, dass Herr Rollenhagen Freitag nicht hier war?«, hakte Demel nach.

»Möglicherweise war er hier. Aber ich war den ganzen Tag unterwegs. In Berlin«, fuhr sie fort. »Stadtbummel. Das mache ich manchmal, wenn mir hier die Decke auf den Kopf fällt. In den Nachrichten hieß es, er wurde ermordet.« Sie schluckte.

»Gibt es jemanden, der das bestätigen könnte?«, fragte Meinert.

»Dass er ermordet wurde?«

»Dass Sie in Berlin waren.«

»Verdächtigen Sie etwa mich?« Meerländer griff sich an die Kehle. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?« Ihr Kinn zitterte. »Bitte gehen Sie.« Theatralisch streckte sie den Arm aus und wies zur Tür. »Verlassen Sie sofort meine Wohnung!« Sie erhob sich von ihrem Stuhl und wich an die Schrankwand zurück, dabei stolperte sie über eins der Pakete. Sie strauchelte, fing sich jedoch wieder. Instinktiv sprang Demel auf und streckte die Hände nach ihr aus.

»Fassen Sie mich nicht an«, fauchte Meerländer, die Arme vor der Brust gekreuzt.

Demel und Meinert tauschten einen Blick, dann verließen sie den Raum.

Kaum standen sie im Flur, hörten sie, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

»Da hat aber jemand schnell eins und eins zusammengezählt.« Meinert versenkte die Hände in den Hosentaschen. »Wenn es stimmt, dass Rollenhagen nicht hier war, dann ist Aaron Klaus die letzte Person, die ihn lebend gesehen hat.«

»Du willst dich nicht von dem Gedanken verabschieden, dass er der Täter ist, was?«

»Er bleibt eine Variante«, beharrte Meinert.

»Wenn Gott dir eine Tür zuschlägt …«, murmelte Demel.

»Was?« Meinert kniff die Augen zusammen und musterte ihn, als habe er den Verstand zwischen all den Paketen verloren.

Demel nickte in Richtung der Nachbarin, die am Ende des Flurs stand und sie aufmerksam musterte. Sie war klein, hager, und alles in ihrem Gesicht folgte der Schwerkraft. Nach Demels Erfahrung war sie genau der Typ Nachbarin, der seine Nase in alles steckte.

»Sie sind von der Polizei«, sagte sie.

Keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Wurde ja auch Zeit«, fügte sie hinzu. Ihre Lippen schlossen sich zu einem schmalen Schlitz.

Das konnte interessant werden. »Und warum wurde es Zeit?« Freundlich lächelnd ging Demel zu ihr. Er ließ die Schultern ein bisschen heruntersacken, um nicht bedrohlich zu wirken.

»Na ja.« Die Nachbarin leckte sich hastig über die Lippen, dann reckte sie das Kinn. »Sie sind doch wegen Freitag hier.Oder?«