17. Kapitel

Susanne Rollenhagen starrte ihren Sohn an, und auch Klaudia verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Sie fing sich jedoch schnell wieder. »Sie waren also bei Frau Saling?«, hakte sie nach.

»Nein«, widersprach Luca. »Obwohl ich mehr als einmal darüber nachgedacht habe.«

»Das hast du?« Rollenhagen starrte ihren Sohn an. »Aber …«

»Ich weiß, Mama«, unterbrach Luca sie. »Die haben mich ja auch nicht gesehen.«

»Du warst an seiner Wohnung?«

»Einmal. Ich hatte gerade den Schrieb vom Gericht gekriegt.«

Klaudia fragte sich, von was für einem »Schrieb« er sprach, doch diese Frage hatte Zeit.

»Sie kamen von einer Radtour. So richtig mit Radlerhosen und Helmen. Voll albern. Er hat mich nicht gesehen, oder wenn, hat er es sich nicht anmerken lassen. Als sie die Räder abschlossen, wollte ich rübergehen, ich war auf einmal so wahnsinnig wütend …«

»Aber«, unterbrach ihn seine Mutter.

»Ich hab’s ja nicht gemacht«, rechtfertigte sich Luca. »Ich wusste ja, dass es das Testo ist, das mich so wütend macht.«

Klaudia vermutete, dass Testo die Abkürzung für Testosteron war.

Luca fuhr fort: »Ich hab’s damals noch nicht so lange genommen«, erklärte er. »Und ziemlich heftig darauf reagiert.« Sein Blick glitt über Klaudia hinweg. »Mittlerweile geht’s besser, obwohl ich immer noch eine ziemlich kurze Zündschnur habe. Also«, er räusperte sich, »tut mir leid, dass Sie das abgekriegt haben.«

»Kein Problem.« Klaudia nickte ihm zu. »Sie stehen unter Schock.« Die nächste Frage fiel ihr schwer, doch sie war notwendig. »Darf ich unser Gespräch aufzeichnen? Falls ich noch Fragen habe.« Sie legte ihr Smartphone auf den Tisch.

»Von mir aus.« Luca blickte zu seiner Mutter. Die öffnete den Mund, als wollte sie widersprechen, schwieg dann jedoch.

»Also verstehen Sie das jetzt nicht falsch«, begann Luca. »Aber ich fühle mich schuldig. Ich habe Papa nicht umgebracht, das nicht, doch vielleicht bin ich trotzdem schuld.«

»Sag das nicht«, unterbrach ihn seine Mutter.

»Vielleicht erzählen Sie es uns einfach«, mischte sich nun auch Thang ein. »Es wird Ihnen helfen und uns auch.«

»Ja, klar.« Luca räusperte sich wieder. »Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn ich damals einfach zu den beiden gegangen wäre. Dann hätte sie gewusst, wer ich bin und nicht …« Luca nahm die Brille ab und wischte sich die Augen.

Ohne die Brille wirkte sein Gesicht deutlich weiblicher, vor allem die hellbraunen Augen, die von langen, gebogenen Wimpern umrahmt waren.

»Aber ich war so verletzt«, flüsterte Luca. »Und jetzt …«

Ist es zu spät, ergänzte Klaudia den Satz in Gedanken.

»Wie dem auch sei.« Luca straffte den Oberkörper und setzte die Brille wieder auf. Sofort wirkte sein Gesicht weniger weiblich. »Wenn ich also damals einfach über die Straße gegangen wäre und gesagt hätte: ›Hallo Papa, ich bin jetzt übrigens der Luca, und da kannst du gar nichts gegen machen. Hier ist nämlich der Wisch vom Gericht.‹ Dann hätte sie mich gekannt.« Er senkte den Blick. Seine Schultern zuckten. Rollenhagen griff nach seiner Hand, doch er schüttelte den Kopf, und sie zog die Hand zurück. »Aber ich bin ja nicht rübergegangen«, fuhr er schließlich fort. »Weil ich sonst Dinge gesagt hätte, die … das hätte ich nicht gewollt. Ich war so aggressiv damals, so wütend und hatte so eine üble Energie. Aber ich wusste ja, dass das vom Testo kommt, und ich war ja auch keine fünfzehn mehr. Trotzdem …«

Jetzt war es Luca, der nach der Hand seiner Mutter griff.

»… wie würden Sie das finden, wenn Ihr Vater eine Frau pimpert, die nicht viel älter ist als Sie selbst?«

»Sie sind also nicht rübergegangen«, mischte sich Thang ein. Ganz offensichtlich wurde ihm die Situation zu emotional.

»Entschuldigung.« Luca räusperte sich ausgiebig. Seine Stimmlage schien noch nicht zu seinem Kehlkopf zu passen.

Klaudia fragte sich, wie er wohl als Frau geklungen hatte? Wie war es wohl für seine Mutter, ihn so zu hören? Sie musterte Susanne Rollenhagen, die neben ihrem Sohn saß, als wollte sie ihn mit ihrem Körper verteidigen. Von Schiebschick wusste Klaudia, dass Rollenhagen ihren Sohn vorbehaltlos unterstützte, trotzdem musste es ein Schock für sie gewesen sein. Niemand – außer vielleicht diese Münchhausen‑by-proxy-Irren, die ihre Kinder krank machten, um Aufmerksamkeit zu bekommen – wünschte sich, dass sein Kind im eigenen Körper unglücklich ist.

»Also der Punkt ist: Wäre ich rübergegangen, hätte sie mich gekannt, und dann hätte sie wahrscheinlich nicht vor meiner Nase mit dem Typen rumgemacht.«

Klaudias Smartphone vibrierte. »Entschuldigung.« Sie nahm es auf. Unterdrückte Rufnummer. Wer immer es war, würde noch einmal anrufen müssen. Sie wischte den Anruf weg. »Also«, nahm sie den Faden wieder auf, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Aufnahme lief. »Frau Saling hat mit einem Typen rumgemacht?«

»Ja«, bestätigte Luca. »Letzte Woche im Bellevue.«

»Ist das der Club hier in Lübben?«, fragte Thang.

»Genau der. Die hatten Re‑Opening nach der Sommerpause, und wir sind zum Abtanzen hin. Und da hab ich sie gesehen. Ich hab erst ’nen Schreck gekriegt, weil ich dachte … Na ja, dass mein Vater …« Wieder räusperte sich Luca. »Wer will schon gern seinem Alten in einem Club begegnen? Aber der war nicht dabei, trotzdem war sie nicht allein, sondern hat heftig mit einem Typen rumgemacht, der altersmäßig sehr viel besser zu ihr passte. Die haben nichts mitgekriegt, nicht mal, als ich Fotos gemacht habe.«

»Du hast Fotos gemacht?« Susanne Rollenhagen klang überrascht und entsetzt zugleich. »Warum?«

»Ich wollte was in der Hand haben.«

»Und du hast mir nichts gesagt?«

»Wir reden nicht über ihn, schon vergessen?«

»Aber …«

»Sie haben also Fotos gemacht«, mischte sich Klaudia ein. Wieder vibrierte ihr Smartphone. Sie warf Thang einen entnervten Blick zu, dann nahm sie das Gespräch an.

»Wagner«, meldete sie sich kurz angebunden.

»Schön, dass ich dich erreiche«, meldete sich eine Stimme, die Klaudia zwar bekannt vorkam, die sie jedoch nicht sofort zuordnen konnte.

»Ich sitze hier und warte auf dich.«

»Äh.« Klaudia durchforstete ihr Gehirn, doch sie hatte keine Ahnung, worum es ging.

Das dämmerte wohl auch ihrem Gesprächspartner. »Ich hab gehört, du suchst eine neue Stelle, und vielleicht hätte ich etwas für dich. Und weil ich deine Nummer nicht hatte, hab ich an die Dienststelle geschrieben. Ist die Mail nicht weitergeleitet worden?«

»Du hast jetzt meine Nummer.« Klaudia hatte keine Ahnung, was sie von diesem Anruf halten sollte. Sie gab Thang ein Zeichen und verließ das Wohnzimmer. Im Flur lehnte sie sich gegen die Wand. »Mit wem spreche ich überhaupt? Ich kenne deine Stimme, aber ich weiß gerade keinen Namen dazu, sorry.«

»Also deine Nummer habe ich von einem Kollegen. Ich sitze hier nämlich ziemlich dumm in eurem Besprechungszimmer rum. Nette Leiche.«

»Geht so«, erwiderte Klaudia mechanisch.

»Und ich bin Detlef Bach. Wir sind uns bei einigen Einsätzen begegnet.« In seiner Stimme klang ein Schmunzeln mit.

»Als ob ich das vergessen könnte.« Klaudia entschuldigte sich noch einmal, doch Bach unterbrach sie.

»Mach dir keinen Kopf«, sagte er. »Typen wie mich vergisst man schnell.«

Das war reine Koketterie. Selbst wenn Detlef nicht die schwarze Uniform der Einsatzhundertschaft trug, blieb einem der bullige Typ mit den kurzgeschorenen, an den Schläfen ergrauten Haaren im Gedächtnis.

Klaudia hielt das Smartphone etwas vom Ohr ab, um zu hören, was im Wohnzimmer vor sich ging, doch da herrschte Schweigen. Sie musste unbedingt zurück. »Also wenn du unsere Leiche bereits kennst, weißt du, dass ich gerade keine Zeit habe. Und leider hat mich deine Mail nicht erreicht. Petra – ich meine – unsere Verwaltungsangestellte ist gerade nicht da.«

»Alles gut«, beruhigte sie Detlef. »Ich hab ja jetzt deine Nummer, und vielleicht können wir uns mal zusammensetzen und über deine Zukunft bei der Polizei sprechen.«

»Du bist nicht zufällig im Personalrat?«

»Nein.« Detlef klang verblüfft. »Sollte ich das?«

»Vergiss es. Anfang nächster Woche habe ich einen Termin bei denen.«

»Ich weiß«, erwiderte Detlef.

»Ach wirklich?« Klaudia fragte sich, woher er das wissen konnte.

»Das ist auch der Grund, weshalb ich mit dir sprechen möchte.«

»Und worüber genau?«

»Ungern am Telefon«, wehrte Detlef ab. »Sonst hätte ich mich doch nicht auf den Weg ins idyllische Lübben gemacht. Hast du heute Abend was vor?«

»Du meinst außer einer Todesfallermittlung?« Klaudia fühlte sich überrumpelt.

»Auch Kriminalbeamte müssen essen. Ich habe gehört, das La Casa hätte gute Tapas. So gegen acht?«

»Okay.« Klaudia war zu neugierig, um abzulehnen. Erst als das Gespräch beendet war, dämmerte ihr, dass sie schon einmal eine Verabredung mit einem Kollegen im La Casa gehabt hatte. Sie schüttelte den Kopf. Bach würde sie schon nicht umbringen wollen.

Klaudia ignorierte Thangs fragenden Blick und schaltete die Aufnahme wieder ein. »Sie haben also Fotos von Frau Saling und einem jungen Mann gemacht«, fasste sie kurz zusammen, bevor sie Luca bat, fortzufahren.

»Die beiden sind nicht lange geblieben.« Luca blickte hastig zu seiner Mutter. »Ich meine, die haben so wild geknutscht, die brauchten eindeutig mehr privacy. Also sind sie zu ihr nach Hause.«

»Woher wissen Sie das?«

»Woher wohl?« Luca kaute auf der Unterlippe. »Ich bin ihnen gefolgt und stand dann vor dem Haus, in dem sie mit meinem Vater wohnte. Ganz schön dreist, was? Am nächsten Tag hab ich ihm die Fotos in den Briefkasten geschmissen.«

»Sie meinen, Ihr Vater wusste von der Affäre?«

»Wenn er den Brief gekriegt hat?«

»Warum haben Sie ihm die Fotos nicht per Mail geschickt?«, fragte Thang.

»Ich …« Luca senkte den Blick. Seine Hände zuckten. »Ich wollte nicht, dass er weiß, wer ihm die Bilder geschickt hat.«

»Haben Sie die Bilder noch?«

Luca nickte.