21. Kapitel

Klaudia stand in der Tür des Schlafzimmers. Auf den ersten Blick sah Hanka Kowar aus, als schliefe sie. Sie lag im Bett, das Gesicht in den Kissen. Ein friedliches Bild, wären da nicht die Kollegen in den weißen Schutzanzügen gewesen. Wie immer kümmerte sich Wibke um die Tote. Bach stand dicht neben ihr. Der Schutzanzug spannte an seinem wuchtigen Körper. Er hatte darum gebeten, die Spurensicherung beim Erstangriff zu begleiten. Dankbar, seiner Aufmerksamkeit zu entkommen, hatte Klaudia sofort zugestimmt. Dem finsteren Blick nach zu schließen, den Wibke ihr zugeworfen hatte, war die weniger erfreut. Sie hatte etwas von überflüssigem DNA-Abgleich gemurmelt.

»Was soll ich mit dem Hund machen?«, rief Uwe von der Haustür.

»Ich weiß nicht.« Klaudia ging zu ihm. »Vielleicht gibt es Angehörige.« Gleich morgen würde sie sich darum kümmern müssen. Nicht wegen des Hundes, sondern weil der Dienstweg es vorsah. Jeweils eine Sterbefallanzeige würde an die Staatsanwaltschaft, das Ordnungsamt und das Amtsgericht gehen.

»Ich könnte ihn mit zu mir nehmen«, bot Uwe an.

»Hältst du das für eine gute Idee?« Klaudia hob die Haare über ihrem verschwitzten Nacken an und genoss für einen Moment den milden Luftzug, der ihr die Haut kühlte. »Was ist, wenn Tim und Bhanu ihr Herz an ihn verlieren? Und das werden sie.« Klaudia hatte das weiße Fellknäuel noch gut vor Augen. Selbst sie könnte schwach werden, würde sie ihr Haus nicht mit einem schielenden Kater teilen. »Bring ihn mal lieber ins Tierheim, bis klar ist, ob es Angehörige gibt, die sich um ihn kümmern wollen.« Ihr Blick wanderte über den Weg und blieb an einem hochgewachsenen Mann hängen, der mit hängenden Schultern und schlecht sitzender Jeans an der Absperrung stand. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben und schaute zu ihnen hinüber. Sein graues Hemd verschmolz mit der Dämmerung. Er sagte etwas zur Praktikantin, doch die schüttelte nur den Kopf. Dabei hielt sie sich mit beiden Händen an ihrem Gürtel fest.

»Du solltest nachher noch einmal alles in Ruhe mit dem Mädchen durchsprechen«, sagte Klaudia zu Uwe. »Wahrscheinlich ist es ihre erste Leiche.«

»Kein Thema.« Er kratzte sich die Nase. »Ich lade sie auf ein Bier ein.«

»Klingt nach ’nem Plan.« Klaudia nickte. Auch ihrer ersten Leiche war ein Bier gefolgt. »Und nun lass uns mal schauen, wer der Zaungast ist.«

»Zaungast?« Uwe blickte über die Schulter. »Ach«, sagte er. »Das ist Boris. Er wohnt nicht weit von hier.«

»Er ist also der Nachbar.«

»Jepp«, erwiderte Uwe. »Verheiratet, keine Kinder.«

»Du bist ja besser informiert als Tanja«, spottete Klaudia. Tanja war Uwes Exfreundin, die in der Lübbenauer Klatschzentrale, dem Café Bubner, arbeitete.

»Ich kenne eben meine Pappenheimer.« Uwe klemmte die Daumen hinter den Gürtel und ging im Polizistenschlendergang zur Absperrung. Klaudia folgte ihm.

»Hallo, Uwe«, hörte Klaudia den Mann sagen. Er schien in Uwes Alter zu sein. Vielleicht waren sie gemeinsam zur Schule gegangen. »Ist was mit Hanka?«

»Kennen Sie Ihre Nachbarin gut?«, mischte sich Klaudia ein, bevor Uwe antworten konnte, und stellte sich im nächsten Atemzug vor.

»Sie sind die Polizistin, die Hanka befragt hat.«

»Sie hat Ihnen davon erzählt?«

»Ja.« Der Mann nickte.

Freundlich, besorgt. Das waren die Adjektive, die Klaudia einfielen, während sie ihn musterte. Er stand mit hängenden Schultern vor ihr und trug ein Fischerhemd, wie es Klaudia in ihrer Teenagerzeit getragen hatte. Bei ihm sah es richtig aus.

»Mit irgendjemandem musste sie ja reden«, sagte der Nachbar in ihre Gedanken hinein. »Sie hat uns Pilze gebracht und wollte mit Svenja reden, aber die ist nicht da. Also hat sie es mir erzählt.«

»So funktioniert das hier bei uns.« In Uwes Stimme schwang so etwas wie Stolz mit.

»Man passt halt aufeinander auf.« Es klang wie eine Rechtfertigung. »Vor allem seit Günther tot ist. Sie lebt ja ganz alleine hier.« Er zeigte zum Haus. »Ich bring ihr immer Fisch.«

»Boris ist einer der letzten Spreewaldfischer, die wir noch haben«, mischte sich wieder Uwe ein. »Früher …«

»Wann haben Sie Ihre Nachbarin das letzte Mal gesehen, Herr …?«, unterbrach Klaudia den Kollegen.

»Glaubitz«, warf der Nachbar ein. »Am Sonntag«, fügte er hinzu. »Wie gesagt: Sie hat mir Pilze gebracht und war ziemlich durch den Wind. Aber das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich.«

Die letzte Bemerkung, so harmlos sie gemeint war, triggerte Klaudias schlechtes Gewissen.

»Und danach haben Sie Frau Kowar nicht mehr gesehen?«

Glaubitz schüttelte den Kopf. »Ich hätte vielleicht nach ihr schauen sollen, aber …« Er senkte den Blick. »Ich hab’s halt nicht. Ich hatte es vor, aber dann: Sie wissen ja, wie das ist. Man tut dies und das, und plötzlich ist der Tag vorbei.«

»Wissen Sie, ob Frau Kowar noch Verwandte hat?«

»Verwandte?« Glaubitz kniff die Augen zusammen. »Sie hat mal eine Schwester erwähnt und auch einen Bruder, aber der ist tot. Die Schwester lebt irgendwo in Bayern.«

»Und Freunde?«

»Ich glaube, das waren wir und natürlich Flocke.«

»Flocke?«, hakte Klaudia nach.

»Ihr Hund«, sagte Glaubitz. »Was wird jetzt mit ihm?«

»Ich bringe ihn ins Tierheim nach Luckau«, beantwortete Uwe die Frage, »oder willst du ihn nehmen?«

»Ich würde, aber …«, Glaubitz schüttelte den Kopf. »… im Moment geht’s nicht.«

»Woher wissen Sie, dass Frau Glaubitz tot ist?«

»Der Paketbote hat’s mir gesagt. War völlig fertig, der Mann. Er mochte Hanka, hat sie Tante genannt. Wenn Sie so wollen, war er auch ihr Freund. Sie hat ihm geholfen. Aber so war sie, hat immer jedem geholfen.« Glaubitz spuckte in den Staub zu seinen Füßen. »Hat sie? Ich meine …« Seine Stirn legte sich in Falten.

»Sich selbst getötet?«, vollendete Klaudia die Frage.

Er nickte.

»Warum glauben Sie das?«

»Na ja«, stotterte Glaubitz. »Nach dem Tod ihres Mannes hat sie es einmal versucht. Svenja hat sie damals gefunden. Ich fühle mich so schuldig«, stieß er hervor. »Ich hätte mehr für sie da sein sollen. Aber nach unserem Gespräch wirkte sie ganz ruhig. Nicht einmal einen Schnaps wollte sie.«

»Du hast dir nichts vorzuwerfen«, tröstete Uwe ihn.

Zumindest nicht mehr als ich, fügte Klaudia in Gedanken hinzu.

»Entschuldigung!« Wibke stand in der offenen Haustür und winkte.

Klaudia bedankte sich bei Glaubitz und ging zur Kollegin hinüber.

»Wer war das?«, fragte Wibke.

»Der Nachbar.« Klaudia blickte dem Mann hinterher, der langsam von der Nacht verschluckt wurde. »Er wollte wissen, was los ist.«

»Hast du es ihm gesagt?«

»War nicht nötig. Die Post war schneller. Wo kommt die denn jetzt her?« Klaudia blickte der Praktikantin entgegen, die mit Flocke den Weg entlang kam.

»Woher hast du die Leine?«, fragte sie.

»Die hing an der Garderobe. Ich dachte …«

»Und wenn die Tote erdrosselt wurde und das die Tatwaffe ist?«

»Oh. Ich dachte …« Im Licht, das aus dem Flur fiel, sah Klaudia, wie die Praktikantin blass wurde.

»Man nimmt nicht einfach was von einem potenziellen Tatort«, fuhr Klaudia sie an. Sie wusste, dass sie ungerecht war und die junge Kollegin gerade ihre Frustration abkriegte.

»Es sieht nicht danach aus, als wäre Frau Glaubitz erdrosselt worden.« Wibke lächelte der Praktikantin beruhigend zu und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, sich aus der Schusslinie zu begeben.

Erleichtert zog die Kollegin den widerstrebenden Hund zum Streifenwagen.

»Sie kann nichts dafür«, sagte Wibke. »Und du auch nicht. Was immer hier passiert ist, du hättest es nicht verhindern können.«

»Und trotzdem fühlt es sich so an.« Klaudia sah sich um. »Wo ist Bach?«

»Unterhält sich gerade mit Wilms über Drohnen und ihre Einsatzmöglichkeiten. Mich hat er mit irgendwelchen Sachen über Verfolgungsjagden auf Autobahnen zugetextet. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie er darauf gekommen ist.«

»Wahrscheinlich gehört er zu den Kollegen, die nervös werden, wenn sie länger neben einer Leiche stehen.«

»Und wieso ist er dann hier?«

»Gute Frage, nächste Frage«, erwiderte Klaudia. »Oder auf gut Deutsch: Ich weiß es nicht. Bevor er es mir sagen konnte, hat die Leitstelle angerufen.«

»Ein Date?« Wibke grinste.

»Schön wär’s.« Die Bemerkung rutschte einfach so an Klaudias innerem Zensor vorbei.

»Ist er nicht verheiratet?«

»Weiß ich auch.« Klang das jetzt zu defensiv? »Außerdem war das kein Date.« Das klang auf jeden Fall eindeutig nach Rechtfertigung. Sie würde sich hier um Kopf und Kragen reden. Trotzdem konnte sie nicht aufhören. »Irgendwas wegen meiner Bewerbung auf PHs Stelle«, fügte sie noch hinzu, bevor es ihr gelang, ihren Redestrom einzudämmen.

Wibkes Lippen formten ein lautloses Oh.

»Hanka Kowar wurde also nicht mit der Hundeleine erdrosselt.« Einigermaßen unelegant lenkte Klaudia das Gespräch wieder auf die Ermittlung. Wenn sie schon spekulieren mussten, dann wenigstens über die akut wichtigen Dinge in ihrem Leben. Und das war eindeutig die Tote im Schlafzimmer.

»Nein«, bestätigte Wibke. »Wie es aussieht, kann es gut so gewesen sein, wie es aussieht.« Sie hob abwehrend die Arme und grinste schief. »Das klang jetzt komisch, oder?«

»Nicht merkwürdiger als so manch anderer Satz, den wir von uns geben«, tröstete Klaudia die Kollegin. Seufzend atmete sie aus.

»Bist du in Zaziki gefallen?« Wibke wich vor ihr zurück und wedelte sich mit der Hand frische Luft zu.

»So ungefähr.« Klaudia blickte auf ihre Uhr. Es war halb elf, ihr Kopf schmerzte, ihre Finger fühlten sich steif an. Sie musste dringend pinkeln, und zu allem Überfluss nagte dieses Scheißgefühl an ihr, dass sie gegen Windmühlen kämpfte.

»Warum denkst du, dass sie es nicht selbst getan hat?« Wibke war nicht nur gut in ihrem Job, sie konnte auch Gedanken lesen.

»Ich weiß nicht.« Resigniert hob Klaudia die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Vielleicht weil ich mich dann weniger schuldig fühlen würde. Andererseits, wer hätte einen Grund gehabt, die Frau zu töten?«